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Fackelzüge, Demonstrationen und Mahnwachen sind fester Bestandteil des Protests gegen Arbeitsplatzabbau. Der Kampf der Arbeiter um ihre Jobs ist oft spektakulär und meistens erfolglos.
Seite Ende Juli steht vor Tor I des Thyssenkrupp-Stahlwerks in Duisburg Bruckhausen eine Mahnwache. In einer vom Betriebsrat ausgebauten Zelt kommen die Arbeiter zusammen, reden, oder trinken nur einen Kaffee. Die Stimmung ist abgespannt. Alle hier haben Angst um ihre Jobs. Dem Stahlkonzern geht es schlecht. 11.000 Arbeitsplätze sind in Gefahr. 5000 von heute noch 27.000 könnten abgebaut, weitere 6.000 ausgelagert werden. Die Stahlarbeiter kämpfen um ihre Existenz. Politiker, vor allem Sozialdemokraten Bundeskanzler Olaf Scholz, Arbeitsminister Hubertus Heil oder die Duisburger Bundestagspräsidentin Bärbel Bas schauen vorbei und bekunden ihre Solidarität. Immer wieder gibt es Kundgebungen, Demonstrationen und Fackelmärsche. Die gehören seit Jahrzehnten dazu, wenn in Nordrhein-Westfalen Arbeiter um den Erhalt ihrer Jobs auf die Straßen gehen. Sie brannten 1987, als um den Erhalt des Stahlwerks in Rheinhausen gekämpft wurde, vor den Toren des Telefonwerks Nokias in Bochum 2008 und natürlich auch im Dezember vergangenen Jahres, als die IG Metall gegen den geplanten Stellenabbau im Thyssenkrupp-Stahlwerk in Duisburg-Bruckhausen protestierte. Auseinandersetzungen um Zechen- und Werksschließungen gehören zu Nordrhein-Westfalen, prägten seine Geschichte und die Mentalität seiner Menschen. Das Ruhrgebiet verdankt seine Entstehung dem Boom der Schwerindustrie, deren nun mehr seit über 60 Jahren anhaltende Dauerkrise seinen wirtschaftlichen Niedergang verursacht hat.
Während es in Baden-Württemberg und Bayern wirtschaftlich bergauf ging, erlebte die Industrie in Nordrhein-Westfalen einen beständigen Abstieg. Er könnte die künftige Entwicklung der Bundesrepublik vorwegnehmen, denn längst werden Jobs auch in den neuen industriellen Hotspots und bei Unternehmen wie Volkswagen, Bosch, ZF und BASF abgebaut. NRW und das Ruhrgebiet könnten sich als Avantgarde des Niedergangs erweisen und sich die hier ausgefochtenen Kämpfe bald überall wiederholen. Denn eines haben sie alle gemeinsam: Sie waren nie erfolgreich. Jahrzehntelang wurde mit machtvollen Demonstrationen gegen das Ende des Bergbaus aufbegehrt. Als in den 50er und 60er Jahren die Bergleute demonstrierten, sagte der CDU-Politiker Rainer Barzel: „Wenn es an der Ruhr brennt, gibt es im Rhein bei Bonn nicht genug Wasser, das Feuer zu löschen.“ Die Proteste sorgten dafür, dass die meisten Bergleute neue Jobs bekamen, wenn ihre Zeche schloss oder früh in Rente gehen konnten. Das Ende des schon damals unwirtschaftlichen Bergbaus konnten sie verzögern, aber nicht verhindern. Am 21. Dezember schloss mit Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Zeche Deutschlands. Der Kohlebergbau war am Ende eine Folkloreindustrie ohne wirtschaftliche Bedeutung geworden. Und auch das Stahlwerk in Rheinhausen, um dessen Erhalt die Arbeiter in den späten 80er Jahren verbissen kämpften, Autobahnen blockierten und den damaligen Krupp-Chef Gerhard Cromme mit Eiern bewarfen, machte 1993 endgültig dicht. Das Werk kam nicht aus den roten Zahlen.
Doch nicht immer war die wirtschaftliche Lage der Hauptgrund für die Schließung eines Standorts. Viele der alten Zechen, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg schlossen, waren schlicht zu klein, um leistungsfähig zu arbeiten. Und oft lag es auch am Standort. „Die Henrichshütte in Hattingen konnte wegen ihrer Lage zwischen Ruhr und Wohngebiet nicht wachsen. Sie hat dann versucht, sich auf High-Tech-Stahl zu spezialisieren und zum Beispiel den Stahl für Reaktordruckbehälter sowie die Castoren geliefert, in denen Atommüll transportiert wurde, aber das war kein dauerhaft tragfähiges Geschäftsmodell. Ab 1987 wurde sie geschlossen“, erklärt der Bochumer Historiker Dietmar Bleidick. Große Proteste gab es trotzdem. Aus Berlin reisten damals für ein Solidaritätskonzert sogar die Avantgarde-Band Einstürzende Neubauten an. Das passte, nutzen die „Neubauten“ doch oft Stahlkonstruktionen für ihre Musik.
Auch dass die Stahlwerke in Dortmund nicht so lange durchhielten wie in Duisburg, lag an der Lage: „Die Stahlwerke in Duisburg liegen am Rhein. Das bringt große logistische Vorteile. Eisenerz und später die Kohle konnten günstig über den Fluss zum werkseigenen Hafen geliefert werden.“ Das Phoenix-Stahlwerk im Dortmunder Stadtteil Hörde hatte nicht einmal einen Kanalanschluss. Als Thyssen mit Krupp 1999 fusionierte, entschied sich der neugeschaffene Konzern dafür, die Standorte am Rhein zu erhalten und gab das Werk auf.
Wo früher Stahl gekocht wurde, findet sich heute ein teures Wohngebiet um einen künstlichen See.
Doch nicht nur bei Kohle und Stahl wurden Stellen abgebaut. Seit den 60er Jahren wurden im Ruhrgebiet neue Industriebetriebe angesiedelt, die den Wegfall der alten Jobs auffangen sollten: Im Opel-Werk in Bochum wurde der Kadett gebaut, Siemens stellte in Gladbeck, Witten und Kamp-Lintfort Telefone her. Keiner dieser Betriebe hat bis heute überlebt. Nach Jahren des vergeblichen Protestes schloss 2014 das Opel-Werk in Bochum. Im Werk I arbeiteten damals noch 2.500 Opelaner. Das Gelände heißt heute Mark 51°7 und ist eine der wenigen Erfolgsgeschichten des Ruhrgebiets: Nach Auskunft der Stadt arbeiten dort 6.000 Menschen, viele davon im IT- und Forschungsbereich. Wenn alle Gebäude auf dem weitläufigen Areal bezogen sind, sollen es 10.000 sein. Einer der heute dort bei Volkswagen Infotainment GmbH arbeitet, einer Digitaltochter des Wolfsburger Konzerns, ist Jens König. 2008 war er Betriebsrat bei Nokia. Die Finnen hatten das von dem längst untergegangenen Fernsehersteller Graetz 1956 errichtete Werk 1988 übernommen und erst TV-Geräte und dann dort Handys entwickelt und gebaut. Am 15. Januar 2008 begann das Ende. „Die Schließung von Nokia hat uns alle überrascht, ich selber habe es erfahren, als ein befreundeter Journalist mich anrief und meine Meinung dazu hören wollte: Es stand in den Medien, bevor man es den Mitarbeitern gesagt hat.“ Nokia hätte damals in Bochum Gewinn gemacht. Der Standort sei gut aufgestellt gewesen. Es wurden ja nicht nur Handys hergestellt, es gab auch ein großes Verteilzentrum und eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung mit über 400 Ingenieuren. Damals wurden dort unter anderem die N-Serie entwickelt. „Das“, sagt König, „waren Nokias modernste und beste Handys.“ Der Standort sei eine Chance für das Unternehmen gewesen, aber das hat das Management nicht gesehen. „Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Unternehmensleitung hat vom ersten Moment an klar gemacht, dass über die Werksschließung nicht mehr verhandelt wird.“ König hält das bis heute für einen Fehler. Alle, egal ob in der Entwicklung oder in der Produktion, hatten damals Zukunftsängste. Niemand habe gewusst, ob er einen neuen Job finden würde. „In den Verhandlungen mit dem Unternehmen ging es uns Betriebsräten darum, möglichst viel für unsere Leute herauszuholen. Nokia wollte dicht machen, also gab es keinen Grund, Rücksicht zu nehmen.“ Die Abfindungen waren hoch, eine Transfergesellschaft wurde eingerichtet, die Weiterbildungen und Umschulungen organisierte und half, neue Jobs zu finden. Das alles hat Nokia einige hundert Millionen Euro gekostet, schätzt König. „Und Nokias Ruf war nach Bochum ruiniert. Der Umsatz in Deutschland brach weg.“
Doch nicht alle Arbeitskämpfe brachten so spektakuläre Ergebnisse. Im Ruhrgebiet wurden unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Unternehmen aus der Bekleidungsindustrie angesiedelt, sagt Alicia Gorny. Die Historikerin erforscht am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum unter anderem die Proteste von Arbeiterinnen, die gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze kämpften. „Damals wusste niemand, ob es im Ruhrgebiet einmal wieder Schwerindustrie geben würde.“ Allein in Gelsenkirchen hätten 40.000 Frauen in der zumeist mittelständischen Industrie gearbeitet. „Meistens war das Lohnfertigung. Die Bekleidungsstücke erschienen unter Markennamen oder wurden über Kaufhäuser wie C&A vertrieben. Viele Unternehmer aus der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, hätten hier neu angefangen. Ab Mitte der 60er Jahre sei die Bekleidungsindustrie allerdings durch günstigere Importe aus Südeuropa, aber auch aus Hongkong und Macau unter Konkurrenzdruck geraten. „Nach und nach machten die Unternehmen zu.“ Die Frauen wehrten sich, erkämpften 1973 gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft und Kolleginnen aus anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft das erste „Welttextilabkommen“, das die Konkurrenz draußen halten sollte. Den Niedergang der Branche konnte es nicht aufhalten. In das kollektive Gedächtnis hätten es die Proteste gegen den Arbeitsplatzabbau nicht geschafft. Die mittelständischen Unternehmen starben leise. Berichtet wurde über die Arbeitskämpfe, wenn überhaupt, nur in den Lokalteilen der Zeitungen. „Während die Frauen die Bergleute und Stahlarbeiter bei ihren Protesten unterstützten, kümmerten die sich nicht um deren Schicksal. Auch die Politik interessierte sich kaum für ihre Jobs. Wichtig waren vor allem die Arbeitsplätze der Männer. Die Frauen sahen das anders: „Viele von ihnen hatten eine Ausbildung“, sagt Gorny, „auch wenn das in der Öffentlichkeit oft anders dargestellt wurde.“ Und sie waren stolz auf ihre Arbeit, dass es ihnen gelang, in heißen Werkshallen unter dem Lärm hunderter Nähmaschinen Hemden zu nähen, die perfekt saßen. Die Lücken, die das Ende dieser Industrie riss, konnten nicht gefüllt werden. „Dass Gelsenkirchen bis heute hohe Arbeitslosenzahlen hat, liegt nicht nur am Ende von Kohle und Stahl. Auch die Arbeitsplätze der Frauen in der Bekleidungsindustrie konnten nie ganz ersetzt werden.“
Dass Arbeitnehmer für ihre Jobs kämpfen, kann Gorny gut verstehen: „Auch wenn keiner der großen Kämpfe um den Erhalt von Arbeitsplätzen Erfolg hatte, gibt es gute Gründe für die Proteste. Ein Unternehmen wie Thyssenkrupp Steel ist ja nicht pleite. Die Beschäftigten können es schaffen, dass es ihnen gute Abfindungen zahlt. Aber das ist nicht alles. Es geht auch um Sichtbarkeit, zu zeigen, dass man noch da ist, sich nicht alles gefallen lässt und zueinander steht.“
Der Text erschien in einer ähnlichen Fassung bereits in der Welt am Sonntag