Die Unschuldsvermutung ist in jüngerer Zeit in aller Munde, etwa bezüglich Till Lindemann oder jüngst gegenüber Herrn Aiwanger. Allenthalben wird darauf verwiesen, dass man gar nicht urteilen dürfe, bis die Schuld bewiesen ist, „in Deutschland gilt die Unschuldsvermutung“, selbst eine Politikwissenschaftlerin im Deutschlandfunk zögerte, irgendetwas zu Aiwanger zu sagen, da es ja eine Pflicht zur Unschuldsvermutung gäbe.
Wenn Staatsanwaltschaften tatsächlich bei jedem die Unschuld vermuten würden, könnten sie übrigens gar nicht erst anfangen zu ermitteln. Aber davon abgesehen ist „in dubio pro reo“ natürlich ein wichtiges juristisches Prinzip, das die Bürger vor Willkür schützt. Aber es ist eben ein juristisches Prinzip und kein privates. Privat kann jeder vermuten, was er oder sie will. Privat kann einem schon der leisteste Verdacht ausreichen, um einer Person zu misstrauen und niemand kann oder darf einen zwingen, so eine Person mit offenen Armen zu empfangen. Wenn mir bei Rammstein etwas nicht koscher vorkommt oder berichtete Vorfälle, ob strafbar oder nicht, sich mit meinem Bild von dieser Band ergänzen, die mir das Ganze unsympathisch machen, dann darf ich davon Abstand nehmen, deren Musik zu hören, deren Konzerte zu besuchen und ich darf das auch sagen. Ich darf auch sagen, dass ich es fragwürdig finde, wenn Menschen „jetzt erst recht“ diese Band verteidigen.
Noch viel mehr als für eine Band gilt das für Politiker. Politiker werden gewählt, weil man ihnen vertraut. Weil man der (extrem schwer objektivierbaren) Einschätzung ist, dass sie die übertragene Macht halbwegs seriös benutzen werden. Da alle Politiker um den heißen Brei reden und mühsam ihr Image pflegen, ist es ausgesprochen schwer, hinter die Fassade zu blicken. Manch einer wurde schon enttäuscht, und gerade charismatische Personen, etwa Herr v. Guttenberg, entpuppen sich oft als die größten Blender. Rücktritte haben nur selten etwas mit konkreten Straftaten zu tun, die von einem Gericht unter Beachtung der Unschuldsvermutung einwandfrei bewiesen werden.
Man könnte fast schon sagen, bei Politikern ist es umgekehrt: Ein gesundes Misstrauen ist angebracht und unsere Demokratie stellt sicher, dass wir sie einigermaßen schnell wieder abwählen können, wenn sie sich als nicht zuverlässig erweisen. Die ganze parlamentarische Demokratie, die Gewaltenteilung, all das dient dazu, Macht einzuhegen, ist ein einziger großer Misstrauensvorbehalt.
Ein Politiker wie Aiwanger, der sich durch populistisches Poltern hervortut und am rechten Rand fischt, steht für viele schon von vorne herein im Verdacht, keine seriöse Politik machen zu wollen, sondern plumpe. Er ist kein Mann, den man mit Besonnenheit, Kompromissbereitschaft oder Bescheidenheit assoziiert. Die erhobenen Vorwürfe passen zu ihm jedenfalls sehr viel besser als sie, sagen wir, zu Frau Merkel passen würden. Da würde man sich doch sehr wundern, wenn von ihr so ein Flugblatt ans Licht käme.
Natürlich wäre es nicht egal, wenn die Vorwürfe frei erfunden wären. Das wäre eine Verleumdung, die man nicht zulassen dürfte. Wenn es aber eine ständige Pflicht zur Unschuldsvermutung gäbe, müsste man auch die Unschuld derer vermuten, die die Vorwürfe erheben und deren vermeintliche Verleumdung ebensowenig bewiesen wäre. Daran sieht man schon, dass die radikale Forderung nach der Unschuldsvermutung überhaupt keinen Sinn ergibt. Was Sinn ergibt, ist, sich offenen Auges umzuschauen und Informationen über die Menschen zusammenzutragen, die uns auffordern, ihnen Macht zu übertragen. Sehr oft kann man dabei nur auf sein Bauchgefühl hören. Wenn ich ein Auto kaufen wollte und der Gebrauchtwarenhändler sieht aus wie aus einem billigen Mafiafilm, würde das nicht beweisen, dass er mich übers Ohr hauen will. Aber niemand kann mich zwingen, dort mein Geld zu lassen. Wenn ein ohnehin plump-polternder Politiker im Verdacht steht, in seiner Jugend noch viel plumper gepoltert zu haben und wenn er dann auch noch so fadenscheinig und taktlos reagiert, wie Aiwanger es tat, dann reicht das aus, um zu entscheiden, dass man ihm nicht vertraut. Das ist keine juristische Entscheidung.
Auf das kolportierte Flugblatt gibt es nämlich nur eine legitime Reaktion und die lautet: „Ach du Scheiße, wie widerlich.“ Diese Reaktion müsste bei einem Politiker spürbar sein, dem ich vertrauen soll. Ja, das ist eine Gefühlssache. Vertrauen ist nämlich ein Gefühl. Und wer der Causa begegnet, indem er sagt: „Ach, der war 17 und das sollen die erst mal beweisen“, der fühlt offenbar, dass das so schlimm auch wieder nicht ist, mit dem Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz.
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Im Zusammenhang mit der von einem der Aiwanger Brüder verfassten antisemitischen Hetzschrift über den Begriff der „Unschuldsvermutung“ zu philosophieren, offenbart eine absolute Ahnungslosigkeit in Sachen Juristerei. Ohne Zweifel ist das immer wieder als Pamphlet bezeichnete Schriftstück aus dem Schulranzen des 17 jährigen Hubert Aiwangers in höchstem Grade volksverhetzend und rassistisch und erfüllt damit den in §130 StGB formulierten Straftatbestand. Dieser verjährt allerdings bereits nach 4 Jahren und ist somit auf ein Ereignis, welches über 30 Jahre her ist, nicht mehr anwendbar. Die sogenannte „Unschuldsvermutung“ ist ein wesentliches Grundprinzip eines rechtsstaatlichen Strafprozesses, der allerdings per Gesetz in der Causa Aiwanger nicht mehr geführt werden kann und hier deshalb auch nicht hingehört.
„Unschuldsvermutung“ klingt in diesem Zusammenhang erst einmal schlau, lenkt aber geschickt davon ab, dass diejenigen, die sich derzeit am lautesten als Jäger im Namen der Guten Sache produzieren – allen voran Heribert Prantl und seine Süddeutschen – in der Vergangenheit meist nicht in er Lage waren, den Antisemitismus in den Karikaturen des eigenen Schmierblattes zu erkennen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Selenskij Darstellung von Pepsch Gottscheber aus 2022, die Zeichnungen des Karikaturisten Dieter Hantzsch aus 2018, die Darstellungen Mark Zuckerbergs als Krake mit Schläfenlocken und Hakennase aus 2014, die Darstellung des jüdischen Staates als raffgieriges blutrünstiges Monster aus 2013…
Niemand käme auf die Idee die Süddeutsche als den Nachfolger des „Stürmer“ zu bezeichnen (außer vielleicht Henryk M. Broder ;-)), oder Heribert Prantl gar als Alfred Rosenberg 2.0, aber Aiwanger ist auf einmal für alle Journalisten der Nazi, der er immer schon war…
Deutschland (inclusive Bayern) wird derzeit so schlecht regiert, wie es nach 1945 selten der Fall war. Das Problem: der Journalismus ist auch nicht viel besser als die Politik und entwickelt sich ähnlich dramatisch. Claas Relotius beim Spiegel, Fabian Wolff bei der Zeit, die gefälschten Hitlertagebücher beim Stern oder die erfundene Hinrichtungsgeschichte über den Polizeieinsatz in Bad Kleinen des Schmuddeljournalisten Hans Layendecker (Spiegel, WDR), der 2020 aufflog, sind nur die Spitzen der Eisberge. Ganz aktuell Jan Böhmermann beim ZDF in der Causa Schönborn. Unerträglich wird die Situation dort, wo die Politik sich zur Marionette von Drecksjournalisten macht, wie Nancy Faeser oder im Fall Lindemann Familienministerin Lisa Paul. Für beide dürfte der Drops aber wahrscheinlich noch nicht gelutscht sein.
Was Till Lindemann angeht, erleben wir nämlich derzeit eine Journalie, die damit beschäftigt ist, ihre Artikel umzuschreiben und zu korrigieren. Wahrscheinlich haben Spiegel und NDR selten soviel Unterlassungserklärungen abgeben müssen, wie es im Zusammenhang mit dem Ramsteinfrontmann der Fall ist. Konnte man den litauischen Behörden, die die Ermittlungen gegen Lindemann bereits vor einigen Wochen einstellten, noch unterstellen, dass da in irgendeiner Form gemauschelt worden sein könnte, hat jetzt die Berliner Staatsanwaltschaft für Fakten gesorgt und die Ermittlungen ebenfalls eingestellt. Aus der groß angelegten Me-Too-Show auf deutschem Boden wurde nix. Vermutliche Opfer reden lieber mit der Presse, als mit Richtern und Staatsanwälten. Daran kann auch Heribert Prantl nicht ändern, den sich der NDR nach seinen unhaltbaren Rammsteinvermutungen vor die Kamera geholt hat, um jetzt laut über den Sinn und Unsinn der Unschuldsvermutung nachzudenken, jenen Spezialisten, der vor lauter braunen Dreck in der Politik, den braunen Dreck in seiner eigenen Zeitung geflissentlich übersieht.