Folkwang-Chef Tobia Bezzola hat die Reihe Literatur im Folkwang eingestellt. Gegen die Entscheidung protestieren Norbert Wehr (Schreibheft, Zeitschrift für Literatur) und
Beate Scherzer (Buchhandlung Proust), die Programm-Verantwort-lichen von „Literatur im Folkwang“ mit einem offenen Brief.
Seit bald 30 Jahren veranstalten wir in Essen monatliche Autorenlesungen. In unserer Reihe, der renommiertesten literarischen Reihe der Stadt, sind hunderte von Schriftstellern aufgetreten, darunter Nobelpreisträger (Günter Grass, Imre Kertesz, Herta Müller), Weltstars (Don DeLillo, Paul Auster, Peter Handke, Vladimir Sorokin, Cees Nooteboom) und Träger wichtiger deutscher Literaturpreise (u.a. Brigitte Kronauer, Durs Grünbein, Wilhelm Genazino, Navid Kermani, Jürgen Becker). Großartige Lesungen in vielen Fällen! Furiose mit Thomas Kling und Oskar Pastior, umstrittene mit Sascha Anderson und Peter Handke, glamouröse mit Paul Auster und Don DeLillo, herzzerreißende mit Anselm Glück und Inger Christensen, beeindruckende mit Imre Kertész, Aleksandar Tisma oder Herta Müller.
„In Essen habe ich eine meiner besten Lesungen und Gespräche gehabt“ schrieb Imre Kertész in unser Gästebuch. „Eine Sternstunde“ urteilte die Literaturkritik über Herta Müllers Auftritt in der Lichtburg.
Gefördert von der Alfred und Claire-Pott-Stiftung, und eingeladen von Hartwig Fischer, Tobia Bezzolas Vorgänger, hat die Reihe in den vergangenen fünf Jahren im Museum Folkwang gastiert. Peter Kurzeck, Rainer Stach, Esther Kinsky, Marcel Beyer, Iris Ra- disch, Sibylle Lewitscharoff, um nur einige Autoren zu nennen, waren in diesen Jahren zu Gast.
Für eine Laufzeit von fünf Jahren war der Vertrag geschlossen worden, eine Verlänge- rung sollte in diesem Herbst verhandelt werden. Doch Tobia Bezzola entschied, ohne uns zu konsultieren, keinen erneuten Antrag bei der Stiftung zu stellen. Nach „Neue Musik im Folkwang“ ist dies bereits die zweite Reihe, an deren Fortsetzung er nicht interessiert ist.
Bezzola, Direktor eines Museums mit dem Namen „Folkwang“, verabschiedet sich damit von Karl Ernst Osthaus’ Idee der Einheit der Künste und deren spartenübergreifenden Korrespondenzen. Was für alle bisherigen Direktoren zum programmatischen Profil des Museums gehörte – für ihn hat es keine Gültigkeit mehr.
Seit einem Jahr waren wir bemüht, die Voraussetzungen für eine Vertragsverlängerung zu schaffen. Es gab verläßliche Signale der Stiftung, die Reihe bei einer Antragstellung durch den Museumsverein weiter fördern zu wollen. Wir hatten deshalb Grund davon auszugehen, daß Bezzola diesen Antrag stellen würde, zumal die Stiftung alle Kosten übernommen hätte. Daß er uns unverantwortlich lange über seine wahren Absichten, das heißt sein Desinteresse, im Unklaren gelassen und eine Entscheidung verschleppt hat, ist ein Skandal.
Durch seine Unterlassung, von der wir erst vor einigen Tagen erfahren haben, ist es uns unmöglich geworden, Anfang des kommenden Jahres weitermachen zu können.
Es ist unsagbar schade, dass diese Reihe eingestellt werden muss! Norbert Wehr und sein „Schreibheft“ leisten eine unverzichtbare Forschungs- und Veröffentlichkeitsarbeit für deutsche und internationale Literatur. Diese tiefe Kenntnis und große Erfahrung haben sich auch immer in der Reihe im Museum Folkwang widergespiegelt. Essen, das leider nicht gerade als literarisches Zentrum gelten kann, verliert damit eine überaus wichtige Veranstaltungsreihe – und das ohne erkennbaren Grund!