Groningen/Niederlande Hoppla, weg waren sie. Sehr schade, denn diese vier jungen Damen aus Spanien hatten für den nasskalten niederländischen Januar etwas Sommergefühl versprochen. Ein Besuch auf Facebook ergibt: Falscher Suchbegriff. Im Eurosonic Noorderslag Line-Up mit 345 Acts geht man eben mal verloren, wenn man von heute auf morgen den Bandnamen ändert. Nicht freiwillig, ist im sozialen Netzwerk zu lesen, ein Anwalt aus Kanada machte Verwechslungsgefahr mit einer Band aus Nordamerika geltend. So wurde aus dem Duo „Deers“ im Verlauf von 2014 nicht nur ein Quartett, sondern HINDS.
Was für Ana Perrote und Carlotta Cosials 2011 als Strandspiel begann, schlug nach Veröffentlichung der ersten beiden Songs Wellen im Web – vor allem in Großbritannien und den USA. Mitte Januar haben sie sich dann im Rahmen des European Talent Exchange Programs (ETEP) weiter empfohlen: Die freche Unbekümmertheit, mit der Cosials ihre Texte schmettert, und der verführerische Kontrast, den Perrotes Stimme bildet, verleihen den Garagen-Rock-Schlagern Pfeffer. Dirty dancing mit Hinds hat das Zeug zum Trendsport.
Veranstaltet von Eurosonic Noorderslag, unterstützt von der European Broadcasting Union (EBU) und gefördert durch „Creative Europe“, geht es dem ETEP darum, europäischen Newcomern neben medialer Aufmerksamkeit Auftritte bei den derzeit 94 ETEP-Festivals – und möglichst darüber hinaus – zu verschaffen. Mit dem c/o pop Festival in Köln, dem Haldern Pop Festival und dem Orange Blossom Special in Beverungen finden drei dieser Festivals in NRW statt. Auch das Dortmunder Way Back When Festival hat sich bei seiner Erstausgabe 2014 auf das Banner geschrieben, die Musik von morgen in die Stadt zu holen. Grund genug, mal nachzufragen, wer in diesem Jahr die Favoriten der Verantwortlichen beim mit 41.200 Besuchern erneut ausverkauften Groninger Showcase in 50 Kneipen, Clubs und Hallen waren:
„Kaum jemand hat die Bezeichnung ‚süß‘ so sehr verdient wie sie“, schreibt der WDR Rockpalast auf Facebook. Will man in dem Bild bleiben, trifft es zartbitter besser. Hätte JK Rowling Harry Potters Mitstreiterin Luna Lovegood eine Musikkarriere andichten wollen, AURORA wäre ein gutes Vorbild gewesen. Die 18-jährige verzaubert mit ihren verträumt-melancholischen Melodien viele, den Männern scheint sie sogar reihenweise den Kopf zu verdrehen. Zumindest leidet der herrliche Orientierungssinn erheblich – auf und vor der Bühne wurde sie beim Eurosonic Noorderslag mal als Schwedin, Niederländerin oder Engländerin vorgestellt. Booker Matthias Kurth würde das Mädchen aus der Nähe von Bergen – der Stadt in Norwegen – gern beim c/o pop Festival wiedersehen: „Trotz ihres Alters hat Aurora Aksnes schon eine unfassbar professionelle Show abgeliefert, ohne dabei gelangweilt oder unnahbar zu wirken. Auch die Songs sind unfassbar gut – Popmusik at its best.“
Und VÖK aus Island, EDM stimmlich angelehnt an Pop-Soul-Balladen, hätte Kurth im August gern dabei: „Vier Junge Menschen auf der Bühne, die irgendwas zwischen The Knife, Fever Ray und Björk machen. Das aber sehr souverän und auch sehr tanzbar.“
Julian Loewes Programmgestaltung des zweiten Way Back When im Mai ist da schon weiter: KLAUS JOHAN GROBE hatte er aus „reinem Bauchgefühl“ nach Ansicht eines YouTube-Clips schon vor dem Eurosonic Noorderslag verpflichtet, hörte sie sich live aber trotzdem noch an: „Ich weiß es gar nicht zu beschreiben, aber das war einfach ganz, ganz großartig. Hier kommt zusammen, was zusammengehört. Tatsächlich muss ich behaupten, dass ich lange nicht mehr so sehr von einer Band fasziniert war. Ich bin nun Fan. Das wird auch so bleiben.“ Bauchgefühl, ja sicher – Krautrock trifft auf Protestsong, den von der bierseligen, nicht der bierernsten Sorte. Also: Feuchtfröhlich kommen Bass und Schlagzeug zusammen in einer Hammond-Orgie. Hat das domicil nicht noch eine – also Orgel? Für die Orgie müssten die Schweizer dann selbst sorgen.
Nicht sehen werden wir wohl RAE MORRIS. Loewe empfiehlt den Elektro-Pop aus Blackpool, dem man die Singer-/Songwriter Wurzeln noch anhört, dennoch: „Ich verfolge Rae Morris schon seit drei Jahren. Live hat das Ganze etwas magisches, sehr energievolles. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die gute Dame bald in Deutschland durchstarten wird.“
Durch Folk-Rock geerdet findet sich Singer-/Songwriter-Magie dann aber mit THE SLOW SHOW sowohl im Line-Up des Way Back When als auch des Orange Blossom Specials. „Wie nicht anders zu erwarten: Erhaben und erhebend. Pulsaufschneidermusik. Man schweigt ergriffen“, meint Rembert Stiewe zu dem Auftritt der Band aus Manchester beim Eurosonic Noorderslag.
Noch auf seiner Wunschliste steht Isländer JÚNÍUS MEYVANT: „Eine betörende Kombination aus hochklassigen Songs, Musikalität und unaufdringlichem Soul-Groove. Ist eine Kombination aus Bon Iver und Marvin Gaye vorstellbar? – Ja, er hat es bewiesen.“
In einem der etwas überfüllten Groninger Restaurants die Aufmerksamkeit eines Kellners zu bekommen, erwies sich am Freitag dann leichter als gedacht: Einfach nach „Vera“ fragen. Gleich drei junge Herren mit Schürze finden sich am Tisch ein und reden durcheinander. „Gute Wahl“, ist zu verstehen. Warum das? „SPIDERGAWD spielen da gleich.“ Newcomer passt auf die Supergroup mit Mitgliedern von Motorpsycho also kaum, aber live waren sie noch nicht oft zu sehen: „Massiv mit Schub – aber nicht ohne Ideen. Rockt manchmal noisy, manchmal psychedelisch. Sehr gute Show.“ Stiewe ist begeistert und hofft, dass das Orange Blossom in den Tourplan der Norweger passt.
PUTS MARIE sind ebenfalls nicht neu, sondern nach fünf Jahren Pause zurück. Schwer zu sagen, ob sich da live das Organ von Sid mit der Pose von Freddie mischt oder die Stimme von Mercury mit der Attitüde von Vicious. Spätestens wenn Frontmann Max Usata ein paar Zeilen rappt, ist aber klar: Puts Marie haben ihren eigenen Flow. „Es ist ein bisschen schmutzig. Punk-Kabarett – eine schöne Art des Gesamtkonzepts, das ich noch nicht für fertig halte, was es sehr aufregend macht“, Stefan Reichmann vom Haldern Pop Festival hat die Schweizer beim Eurosonic Noorderslag für sich entdeckt.
Und auch sein zweiter Tipp verbindet Musik und Darstellung: „Sieben Frauen und 15 Instrumente, viel bestimmender Blues im Zusammenspiel mit gut ausgebildeten Stimmen. Das ist impulsgebend, ohne zu sehr durchgeplant zu sein.“ DAKH DAUGHTERS ist ein Ukrainisches Musik- und Theater-Projekt, das 2012 in Kiew entstand.
JACK GARRATT dagegen ist der Moment im Presseraum, wo sich Augenpaare über die Ränder der Laptop-Bildschirme streitlustig ineinander bohren: „Das ist Elektro.“ Ja, aber: „Die Basis ist Rock, Blues zwar, aber immer noch Rock.“ Reichmann lacht über diese Episode: „Bis August werdet ihr schon eine Schublade gefunden haben.“ So lange muss er nun wirklich nicht warten. Alternativ R&B nennt sich das, womit der Brite schon in Reading & Leeds 2014 aufhorchen ließ und meint, dass dem Contemporary R&B bei dieser Entwicklung zumindest live der Pop-Schliff abhandengekommen ist. Jack Garratt ist für Haldern gebucht, aber da gibt es – genauso wie beim Orange Blossom – schon keine Karten mehr. Deshalb für alle, die draußen bleiben müssen, hier ein BBC-Mitschnitt von „Worry“:
Wer jetzt Lust auf Live-Musik bekommen hat, kann sich die Auswahl des WDR Rockpalasts aus dem Line-Up des Eurosonic Noorderslag am Montag, 09.02.2015 – also heute ab 0.15 – 3.15 Uhr, ansehen oder auf der Webseite der Sendung nach Clips stöbern.
TICKETS
für das Way Back When, 22. Mai bis 24. Mai 2015, in Dortmund gibt es hier und für das c/o pop Festival, 19. August bis 23.August 2015, in Köln demnächst hier.