Der Liberalismus – also die Idee der wirtschaftlichen und persönlichen Freiheit – ist nach wie vor für viele Menschen attraktiv, wenn er überzeugend vertreten wird. Das geht auch ohne FDP – Wir brauchen eine neue Freiheitsbewegung. Der Artikel erschien bereits auf Novo Argumente.
Liberale schätzen den Markt: Auf ihm werden Waren ebenso angeboten wie Ideen. Und wenn sich ein Produkt nicht durchsetzt, gibt es keinen Grund, deswegen zu klagen. Sicher, für den Produzenten und seinen Mitarbeitern ist das eine schlechte Nachricht, aber sie hatten ihre Chance – andere waren besser, klüger in der Vermarktung oder preiswerter. Für das Verschwinden vom Markt kann es viele gute Gründe geben – die Dummheit der Konsumenten gehört nicht dazu.
Ganz ähnlich sieht die Sache beim Untergang der FDP auf Bundesebene aus: Nicht die Wähler waren zu dumm, die Qualitäten der FDP zu beurteilen, sondern die FDP war in einer denkbar schlechten Form: Das Personal war unglaubwürdig, die Leistungen in der Koalition miserabel und die Aussichten, dass sich dies in Zukunft verbessern würde, nicht vorhanden.
Die FDP erreichte die Menschen nicht mehr – und das tut der Liberalismus in Deutschland ebenfalls nicht. Daran hat die Fixierung vieler Liberaler auf die FDP einen nicht geringen Anteil. Es gab ja eine Partei, die irgendwie noch am ehesten die eigenen Ideen vertrat. Sie war oft an der Regierung und so traditionsreich, dass sich niemand ihren Untergang vorstellen konnte.
Viele Liberale hatte sich auch damit abgefunden, dass sie immer eine Minderheitenposition vertreten und waren damit auch nicht ganz unglücklich. Man ließ es zu, dass der Liberalismus als eine Idee der wirtschaftlichen Eliten dargestellt wurde und als der damalige FDP-Generalsekretär Werner Hoyer 1994 seine Partei als „die Partei der Besserverdienenden“ bezeichnete, war das ebenso wenig ein Ausrutscher wie Guido Westerwelles Bemerkung über „Spätrömische Dekadenz“ im Zusammenhang mit dem Sozialstaat. Beides markierte eine Position: Die FDP war die Partei der Erfolgreichen, der Anwälte und Apotheker und weit davon entfernt, sich mit dem Großteil der Menschen gemein zu machen.
Diese Haltung, von nicht wenigen Liberalen auch an der Basis gelebt, wenn auch nicht öffentlich gesagt, hat nicht nur dazu geführt, dass wir heute in Deutschland ein Parlament voller Staatsradikaler haben, für welche die Antwort auf jedes Problem mehr Staat und nie mehr Freiheit ist sondern auch, dass der Liberalismus, die Liberale Idee, in Deutschland auf breite Ablehnung stößt und zum Teil ein Schimpfwort geworden ist.
Und an daran sind die Liberalen Schuld und nicht nur diejenigen, die in der FDP organisiert sind.
Liberale Ideen
Keine Partei, keine Idee kann erfolgreich sein, wenn sie nicht auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt. Ideen sind wirkmächtiger als die Parteien, die sich ihrer annehmen. Politik ist nichts anderes als die Transformation einer Idee in Macht. Würden die Menschen nicht anerkennen, dass der Schutz der Umwelt etwas Wichtiges ist, gäbe es keine Grünen. Aber längst nicht alle, denen der Umweltschutz wichtig ist, wählen die Grünen. Lange bevor sich die Partei bildete war Umweltschutz ein anerkanntes Ziel: Die FDP hatte ihn als erste Partei in ihr Programm aufgenommen, Willy Brandt schon in den 60er gefordert, dass der Himmel über der Ruhr wieder blau werden müsse und die CSU bereits 1970 ein Umweltministerium in Bayern eingerichtet. Schon lange bevor die Grünen an eine Regierung kamen, waren die entscheidenden Umweltschutzgesetze in Kraft und zeigten Wirkung. Die Grünen waren erfolgreich, weil sie ein gemachtes Feld glaubwürdig besetzten, in diesem Bereich als kompetent galten und ein Großteil der Bevölkerung viele ihrer Forderungen für richtig hielt – oder dass, was sie glaubten, was die Grüne Forderungen seien. Die Phantasie der Wähler ist für alle Parteien wertvolles Kapital.
Anders beim Liberalismus: Er gilt vielen als eine Gefahr, als elitäre Ideologie, die helfen soll, die Menschen effektiver auszubeuten. Die wenigsten haben das Gefühl, dass Liberalismus ihren Interessen entsprechen könnte. Sie nehmen ihn als herzlos wahr und glauben, der Staat wäre ihr Beschützer, wäre die Institution, die es zu stärken und auszubauen gilt. Alle Parteien betonen zwar, dass sie die wenigen guten Teile des Liberalismus längst in sich aufgenommen hätten, aber der weitaus größte Teil dieses Gedankengebäudes sei so abstoßend und gefährlich, dass er bekämpft gehört. Der Jubel war bei fast allen groß, als die FDP aus dem Bundestag herausflog – der Liberalismus schien der größte Feind der Deutschen zu sein und endlich gebannt durch den Willen der Wähler an einem warmen Septemberabend 2013.
Auf dem Markt der Ideen konnte sich der Liberalismus schon lange nicht mehr durchsetzen, die FDP, die mit diesen Ideen gleichgesetzt wurde, büßte mit dem Ende ihrer parlamentarischen Existenz auf Bundesebene dafür. Schuld an dieser Entwicklung sind weder die Medien noch die Wähler – die Schuld liegt ganz alleine bei allen die sich als Liberale fühlen – ob sie nun in der FDP sind oder nicht. Es ist nicht gelungen, den Menschen zu erklären, warum der Liberalismus die politische Idee ist, die für sie ganz persönlich gut ist und vielleicht haben das ja auch viele Liberale vergessen. Und die FDP hat sich darum auch kaum noch gekümmert.
Dabei ist eigentlich alles ganz einfach. Der Liberalismus, die Idee der wirtschaftlichen und persönlichen Freiheit sind, ist nach wie vor eine attraktive Idee. In einer Zeit, in der die Regelungsdichte in allen Bereichen zunimmt, wächst auch der Widerstand gegen die Bevormundung, die ihre Legitimation vor allem aus den Ängsten der Menschen zieht, die sie selbst schürt. Nur der Liberalismus stellt das selbstbewusste Individuum in sein Zentrum, das nicht auf seinen Mitmenschen herabsieht, sie nicht in Kollektive zwängt und die Zukunft ebenso gestalten will wie die Gegenwart. Nur der Liberale erkennt an, dass er nicht weiß, wie Menschen zu leben haben und sieht darin kein Defizit. Im Gegenteil: Eine Gesellschaft, in der jeder seinen eigenen Weg suchen kann ist sein Ziel. Er weiß, dass Freiheit und Verantwortung zusammen gehören. Ist das einfach? Nein, das ist es nicht. Aber die einfachen Wege, der Zwang des Kollektivs, führte bislang immer in die Tyrannei. Umgesetzt in Politik würde ein sehr großer Teil der Menschen von ihm profitieren.
Man kann sich gut mit der Idee des Liberalismus in öffentliche Debatten begeben – wird aber oft im Widerspruch zur Politik der FDP stehen.
Liberale Politikfelder
Viele Menschen glauben, dass der Kapitalismus eine Veranstaltung für ein paar Großunternehmen ist, um den Rest besser wie eine pralle Weihnachtsgans ausnehmen zu können. Dabei lassen sich ohne Probleme Beispiele für eine kapitalistische Politik finden, die sich gegen die Besitzstandswahrer richtet – und von der die meisten profitieren würden.
Die FDP war, wie alle Parteien, dagegen Apotheken wie jedes andere Unternehmen zu behandeln. Einen freien Markt im Bereich der Arzneimittel wollte sie nicht – eine reine Klientelpolitk. Apotheker waren für die FDP was die Bergleute lange Jahre für die SPD waren.
Millionen Menschen würden innerhalb weniger Tage davon profitieren, wenn es einen freien Markt im Bereich der Arzneimittel gäbe. Natürlich kann der Staat vorschreiben, dass in jeder Filiale ein Apotheker anwesend sein muss, aber ein angestellter Apotheker würde ausreichen. Es käme zu mehr Wettbewerb unter Apotheken, Ketten würden miteinander konkurrieren und das zum größten Teil über den Preis. Der würde sinken.
Viele Tausende vor allem kleinere Unternehmen leiden unter der Zwangsmitgliedschaft in den Industrie und Handelskammern. Eine liberale Position wäre die Forderung nach der Aufhebung dieses Zwangs. Das würde nicht nur Unternehmen entlasten, sondern die Kammern stärken: Kammern mit freiwilligen Mitgliedern wären eine stärkere Stimme der Wirtschaft, sie wären schlanker und müssten ihren Mitgliedern passende Angebote machen. Die heutige Beteiligung an den Kammerwahlen degradiert sie zu Allgemeinen Studentenausschüssen, die von Studenten zwar finanziert werden müssen, für deren Tätigkeit sich allerdings kaum einer interessiert – und auch nicht ernst genommen wird. Wie auch, wenn man nur gut zehn Prozent seiner Mitglieder an die Urne bekommt? Mit der FDP war ein Ende der Kammer als Zwangsinstitution nicht zu machen.
Es gab wohl in der Geschichte der Bundesrepublik nie ein asozialeres Projekt als die Energiewende – und sie wurde von der FDP mitgetragen und mitgestaltet. Es ist eine gigantische Umverteilungsmaschinerie entstanden: Mieter zahlen über ihre Stromrechnung für die Solarzellen und Windanlagen von Bauern und Immobilienbesitzern. Die Arbeitsplätze in der Industrie werden durch immer höhere Energiepreise gefährdet. Eine liberale Politik würde sich für den Markt und gegen Subventionen einsetzen. Sie stünde auf der Seite der Mieter und der Arbeiter in der Industrie.
Auch wenn es immer wieder Umfragen gibt, in denen eine Mehrheit der Menschen mehr Kontrollen fordert, gibt es viele, die keine Lust mehr haben, dass der Staat ihre Lebensweise denunziert und als strenger Übervater auftritt – das hat die Veggieday-Debatte im vergangenen Jahr gezeigt. Liberale stehen dafür ein, den Menschen nicht vorschreiben zu wollen, wie sie zu leben haben.
Es gibt vor allem in Städten wie Köln, Berlin und Hamburg viele Freiberufler. Sie gründen Läden, IT-Unternehmen, arbeiten als Schriftsteller oder Werber. Gerade in diesen Kreisen hat der Liberalismus wenige Anhänger – was am Personal liegt, das für diese Idee offen eintritt. Menschen wie Brüderle, die ihr Leben im öffentlichen Dienst verbracht haben wirken in diesen Kreisen so wenig wie Lindner oder früher Bahr und Rösler, die sich persönlich früh den Unbilden des freien Marktes entzogen haben und auf eine Karriere als Berufspolitiker setzten. Im Kern stehen viele dieser Menschen der liberalen Idee nahe, wollen selbst über sich bestimmen und sind bereit, Risiken einzugehen. Vom Liberalismus sind sie vielleicht noch zu überzeugen, von der FDP wahrscheinlich nicht mehr.
Die Liste noch fast beliebig erweitern: Banken dürfen nicht auf Kosten der Steuerzahler subventioniert werden, die Europäische Union hat sich nicht als Superstaat in das Leben der Menschen einzumischen und auch welche Staubsauger wir verwenden, geht sie nichts an, und der Staat hat die Menschen nicht zu beschnüffeln und zu kontrollieren und so weiter – die Aufzählung mag gar nicht mehr enden.
Liberale Zukunft
Die FDP hat sich für kaum eine diese Ideen eingesetzt, schon gar nicht hat sie dafür gesorgt, dass aus diesen Ideen Politik wurde – sie war schon lange kein Transformator mehr, der liberale Ideen in das Parlament trug. Nur selten verhinderte die FDP im Bundestag und in den Landtagen Gesetze, welche die Freiheit des einzelnen einschränkte und gegen jede marktwirtschaftliche Vernunft waren. Sie trug den Energiewendewahnsinn mit, stimmte im Saarland für radikale Rauchverbote und stellte sich in NRW gegen Bürokratieabbau.
Wer sich heute um den Liberalismus sorgt, tut gut daran, erst einmal die FDP zu vergessen.
Die Idee des Liberalismus ist nach wie vor eine starke Idee. Kaum jemand vertritt sie zurzeit in Deutschland.
Wenn es eine Zukunft des Liberalismus geben soll, wird es erst darum gehen, diese Ideen wieder salonfähig zu machen, den Menschen zu erklären und sie zu begeistern. Erst wenn das gelungen ist, wenn die Menschen wieder die Freiheit und nicht den Staat wollen, hat der Liberalismus auch auf der politischen Ebene eine Chance. Er könnte ebenso in die Programme der Parteien einfließen, wie es der Umweltschutz seit den 60er Jahren tat.
Der Liberalismus muss sich als politische Kraft neu erfinden. Das kann nicht von oben geschehen. Die FDP ist nicht aus Zufall aus dem Bundestag geflogen – in den meisten Umfragen liegt sie seitdem unter fünf Prozent. So sehr viele bedauern, dass die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten ist, so wenige sind bereit, mit ihrer Stimme daran etwas zu ändern.
In den Monaten nach der Wahl war Christian Lindner noch häufig in den Talk-Shows zu sehen, gab es in den Zeitungen und Magazinen Interviews mit ihm zu lesen. Doch die Neugier an der außerparlamentarischen FDP und ihrem neuen Vorsitzenden hat schon nachgelassen. In den kommenden Jahren wird sich das nicht mehr ändern.
Der Liberalismus hat nur eine Chance, wenn er sich von der FDP unabhängig macht. Wenn die Partei liberale Positionen vertritt ist das gut – wenn nicht oder wenn es egal ist was sie vertritt oder nicht, weil es ohnehin niemanden mehr interessiert, darf das allerdings nicht das Ende sein.
Liberale müssen da zu sein, wo Menschen gegen Bevormundung und für Unabhängigkeit kämpfen, wo sie ihre eigenen Wege gehen wollen, mutig und risikobereit sind.
Sie müssen bei den Gegnern des Kammerzwangs ebenso sein wie bei den Jugendlichen, denen die Stadt ein Festival verbieten will, weil ein paar Nachbarn sich gestört fühlen. Sie müssen bei dem Clubbesitzer sein, dem das Ordnungsamt das Leben schwer macht, dem Wirt der Kneipe, den das Rauchverbot ruiniert, bei dem App-Entwickler, der Ärger mit der Bürokratie und dem Finanzamt hat. Liberale sollten an der Seite des Arbeiters stehen, dessen Job durch die Energiewende gefährdet ist und bei den Migranten, die beschimpft und bedroht werden. Wo Ideologie Jobs gefährdet, müssen Liberale ebenso aktiv werden wie überall, wo Intoleranz herrscht. Sie sollten überall sein, wo der Staat Unternehmer mit dem Geld der Bürger spielen will, wo Prestigeprojekte für wenige auf Kosten von allen umgesetzt werden sollen. Sie müssen bei den Internetkids sein, die gegen eine Überwachung des Internets sind und bei dem Künstler, der einen Weg sucht, im digitalen Zeitalter wirtschaftlich zu überleben und helfen, neue Rahmenbedingungen schaffen. Sie sollten gegen Finanzminister ihre Stimme erheben, die die Bürger ausplündern wollen und die Staatskasse nutzen, um ihre Freunde zu versorgen und die Verwaltungen aufzublähen. Sie müssen an der Seite der Eltern sein, die für bessere Schulen kämpfen und Schwulen und Lesben beistehen, die für ihre Rechte kämpfen. Liberale haben für den Markt einzutreten und nicht für Privilegien. Sie stehen an der Seite des Unternehmers, der nicht investieren kann, weil Umweltfanatiker, die sich nicht für Arbeitsplätze interessieren, ihn mit Klagen überziehen. Sie müssen die Vernunft in einer Zeit verteidigen, in der das Verbreiten von Angst zu einem politischen Geschäftsmodell geworden ist, das droht die Gesellschaft zu lähmen. Kurzum: Sie müssen für eine Gesellschaft eintreten, in der Freiheit und der Wille die Zukunft zu gestalten Vorrang haben – und sie müssen den Menschen klar machen, dass sie davon profitieren werden. Alle.
Liberale müssen für ihre Ideen eintreten – und sagen, dass das, wofür sie eintreten Liberalismus ist. Am Arbeitsplatz, am Tresen, in Initiativen, in der Uni – überall, wo Menschen zusammen kommen. Es geht darum, eine Idee zu verbreiten, die Idee des freien Menschen. Diese Idee muss wieder wirkmächtig werden, den Ideologien der Volkserziehern und Untergangspropheten muss sie entgegengesetzt werden. Das muss gelingen – und daran, ob das gelingt oder nicht, hängt viel mehr ab als vom Überleben der FDP.
Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#117 – I/2014) erschienen. In dieser Woche veröffentlicht Novo-Argumente eine Reihe von Texten zur Liberalismusdebatte.
Lieber Stefan, ich habe ein Problem mit Modellen. Sie haben vor allem in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften relativ häufig mit der Empirie nicht viel zu tun. Darunter fällt auch ‚der Markt‘ in der liberalen Tradition. Häufig vorgebrachte Abstraktionen (Angebot – Nachfrage) und konkrete Beispiele lassen sogar an ein Ideal denken: die reine bzw. vollkommene Konkurrenz. Eine Fiktion. Die Modelle in Universitätsveranstaltungen und Lehrbüchern dienen dazu, Funktionsweisen kennenzulernen, die in dieser Form nirgends zu finden sind.
Gehören zu empirisch beobachtbaren Märkten mehr als nur sogenannte Wirtschaftsubjekte, auch ihre Bildung von Oligopolen, Kartellen und Monopolen, darüberhinaus Verbände, Lobbyismus, Politik, auch unter liberalen Voraussetzungen, dann ginge es zentral nicht mehr um Markt und Funktionen, sondern um menschliches Verhalten. Dies ist den Liberalen durchaus nicht unbekannt. Doch wie breit dies gestreut sein kann, hat kürzlich die Finanzkrise deutlich gemacht. Darauf hat der Liberalismus bis heute keine Antwort gefunden.
Der deutsche Liberalismus hatte eine Grundlage in Kants Philosophie, in dessen Bild vom aufgeklärten Menschen und dessen Moral (kategorischem Imperativ) gesucht. Methodisch als auch sachlich eine grobe Kinderei!
Stefan,
1.
ich denke, wenn Du zu einer „neuen Freiheitsbewegung“ aufrufst, dann bedarf es einer wesentlich tiefergehenden Begründung als in dem Artikel geschehen bzw. als das in einem solchen Artikel möglich ist.
Und diese hätte z.B. einzuschließen die Auseinandersetzung mit der „uralten“ Frage, ob das Individum „seinem Wesen nach“ als absolut autonom und insofern absolut souverän existiert oder nicht.
Und diese Begründung hätte z.B. auch einzuschließen eine Auseinandersetzung mit der ebenfalls „uralten Frage“, ob der Mensch nicht nur als selbstherrliches, nur für sich allein verantwortliches Wesen existiert, sondern denkbar eben auch als ein “ in die Gemeinschaft hineingeborenes und ihr vielfältig verpflichtes Wesen“ zu sehen ist.
Unser Grundgesetzt -sh.dazu auch die Rechtsprechung des BVerfG- legt für die Verfaßtheit unserer Staats- und Gesellschaftsordnung geht bei der Normierung der gleichwertigen Staatszielbestimmung von Rechts- und Sozialstaat davon aus, daß der Mensch sowohl als Individuum als auch als Gemeinschaftswesen existiert und Staat und Gesellschaft beidem Rechnung zu tragen haben.
Soll die „neue Freiheitsbewegung“ eine werden, die einen politischen Liberalismus will, der nicht, nicht mehr auf diesem Boden der Verfassung steht?
Stefan,
2.
auch für mich als Sozialdemokraten gehört es wie für Dich als Liberalem zu den Selbstverständlichkeiten in vielen politischen Prozessen sich der permanenten Gefahr bewußt zu sein, daß die „Freiheit des Individums“ stets tangiert wird, letztendlich bedroht sein kann, wenn aus Gründen des „bonum commune“, konkret um dem Sozialstaatsprinzip der Verfassung Rechnung zu tragen, Staat und Gesellschaft aktiv werden.
In dem dann in jedem Einzefall notwendigen Abwägungsprozess wird zwangsläufig strittig -im Rahmen der Verfassung(!!)-darüber zu befinden sein, ob und inwieweit „Schranken individuellen Handelns“ zu rechtfertigen, ggfls.sogar geboten sind; sh.z.B.
-Schranken der Eigentumsfreiheit :
aus sozialen Gründen-sh.u.a.das Mietrecht-?
-Schranken informatorischer Selbsbestimmung:
aus Gründen der Abwehr drohender Gefahren durch radikal- islamistische Terroristen?
-Schranken für die „automobile“Freiheit:
aus Gründen lebensbedrohender Gefahren für „Andere“?
-Schranken für Kauf/Verkauf von Drogen:
aus Gründen ……….?
-Schranken für die Freiheit auf Asyl:
aus Gründen………..?
-Schranken für die Bildung von Monopolen in der Wirtschaft:
aus Gründen……….?
Schranke für die Freiheit der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder:
aus Gründen……….?
Stefan,
3.
es ist gut, es ist richtig, es ist wünschenwert, daß die Idee des politischen Liberalismus in der konkreten Poltik nicht nur existent ist und existent bleibt, sondern das sie auch weiterhin wirken, etwas „be“-wirken kann.
Bedarf es deshalb einer „neuen Freiheitsbewegung -einer organisierten?
Ich meine nicht.
Bedarf es deshalb einer Aktion, um damit zur Besinnung eines jeden beizutragen, daß der Mensch für sein Leben eigene Verantwortung zu tragen hat und um zu versuchen, diese Besinnung als Selbstverständlichkeit in den Beratungs- und Entscheidungsprozessen aller Parteien zu erhalten oder wieder werden zu lassen?
Ich denke ja!
Stefan,
4.
wenn es Dir in diesem Sinne gelingen sollte, über klassisches FDP-Klientel , über das neue AFD-Klientel hinaus eine nennenswerte öffentliche Diskussion über „eine neue Freiheitsbewegung“ in Gang zu setzen, wird das dem politischen Bewußtsein, dem politischen Leben in Deutschland, in Europa gut tun -auch im kritischen Dialog mit Sozialdemokraten.
Das erste wäre ja nun, die freiheitliche Demokratie wiederherzustellen – sprich: ein robustes Recht auf Opposition in allen existentiellen politischen Fragen (wie Geschichtsbild, rassisch-ethnische Konflikte, Zuwanderung usw.). Und das müsste sich in einem neuen Bewusstsein für die bürgerlichen Freiheitsrechte niederschlagen: robustes Recht auf oppositionelle Rede, auf oppositionelle Versammlung, auf oppositionelle Vereinigung.
Und diese Freiheitsrechte müssten sich beide Seiten wechselseitig einräumen: die Rechten den Linken – und die Linken den Rechten.
Da dürfte mit dem „linksliberalen“ Projekt schon wieder Schluss sein.
Brutalkapitalismus, verbunden mit staatlicher Unterdrückung der Opposition: das ist weltweit das Modell der Zukunft. Da fühlt der progressive Bürger sich am wohlsten.
@Reinhard Matern: Die beschriebenen empirischen Phänomene auf Märkten sind solche, die gerade einer liberalen Antwort bedürfen, viele Probleme sind durch staatlich-lobbyistische Freiheitseinschränkungen erst entstanden.
Was die Finanzkrise angeht, so haben radikale Liberale durchaus vor ihr gewarnt und Alternativkonzepte im Angebot. Die politische Mainstream-Reaktion – massive Umverteilung zugunsten der Gläubiger – war jedenfalls nicht liberal, so wenig wie die Ursache dieser Politik, die exzessive Staatsverschuldung, deretwegen der Staat heute zu einem großen Teil ‚der Bank‘ gehört.
@Walter Stach: Gemeinschaftswesen heißt nicht gleich Staat und Zwang. Und was das Grundgesetz angeht, so ist das Sozialstaatsprinzip auslegungsbedürftig und kein Blankoscheck für eine Maschinerie, die mit wirklicher Bedürftigkeit längst nichts mehr zu tun hat. Und überhaupt: So wie die ein oder andere Freiheitseinschränkung per Verfassungsänderung realisiert wurde, lässt sich umgekehrt das Grundgesetz auch liberalisieren und ist nicht in Stein gemeißelt.
@Christoph Lövenich: Die staatlichen Eingriffe in die kapitalistische Wirtschaft entstanden historisch in Deutschland aufgrund der ausgelebten Freizügigkeit von Unternehmern, die zu einer Verelendung der Massen führte! Die jüngste Krise primär als Staatenverschuldung zu interpretieren, ist einseitiger liberaler Mainstream, übergeht die Ereignisse auf den Finanzmärkten, um keine relevante Antwort geben zu müssen!
Auch von einer radikalen Ich-und-mein-Eigentum-Ideologie, z.B. als Max-Stirner-Gedächtnis-Variante, halte ich überhaupt nichts. Das grundlegende Problem: Auch Liberalismen verordnen politisch ein Menschenbild! Gleichgültig ob es sich dabei um ein singuläres Ideal der Aufklärung (Kant) oder um ein ebenso singuläres Ideal eines egozentrischen Arschlochs (Stirner) handelt.
Ich habe schlicht die Schnauze voll von all den dümmlichen Menschenbild-Idealen, die nur in Katastrophen führen können. Das 20 Jhd. war voll davon! —
-4-Chr.Lövenich:
Wenn Sie bezogen auf meinen Beitrag feststellen, „Geimschaftswesen heißt nicht gleich Staat und Zwang“, dann zeigt mir das, daß Sie Wesentliches in meinen Aussagen -2- absolut unbegründet und grob irrig interpretieren.
Ich rege zudem an, sich mit den Grundprinzipien unser Verfassung doch noch einmal näher zu befassen.
U.a. würden Sie dann feststellen müssen, daß das Sozialstaatsprinzip gleichberechtigt mit den Staatszielbestimmungen Rechtstaat und Demokratie zum sog. verfassungsfesten Minimum gehört, also auch mittels verfassungsändernden Mehrheiteiten im Bundestag und Bundesrat nicht aufgehoben oder substantiell in Frage gestellt werden kann.
Sollte das ‚mal von „radikalen Liberalen“ gewollt werden, wären sie also „Verfassungsfende“!
Völlig unbestritten ist, daß das Sozialstaatsprinzip auslegungsfähig und auslegungsbedürftig ist und der Spielraum diesbezüglich größer zu sein scheint als bei einer verfassungskonformen Auslegung des Rechtstaatsprinzipes und des Prinzipes der Demokratie.
Nur eines ist seit Jahrzehnten dieserhalb völlig unbestritten:
Wer den Sozialstaat beschränkt auf die staatliche Pflicht, den „wirklich Bedürftigen“ zu helfen, bewegt sich außerhalb dessen, was die Verfassung mittels des Sozialstaatsprinzipes der Legislative, der Exekutive und der Judikative verbindlich vorgibt. Auch das sollten „radikale Liberale“ bedenken, wenn sie ihre politischen Zielen im Rahmen und nicht außerhalb der Verfassung zu erreichen versuchen.
-5-Reinhard Matern:
In Ihrem Sinne:
Die Mütter und Väter unserer Verfassung wollten, das läßt sich aus vielen Protokollen aus der Zeit der Entstehung unserer Verfassung , aus einschlägigen Kommentaren zum GG, aus der Rechtsprechung des Bundesverfassunggerichtes direkt oder indirekt entnehmen, mit der gleichwertigen Festlegung des Rechtsstaats- und des Sozialstaatsprinzipes aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte vor allem das Eine, nämlich eine unmißverständliche Absage normieren gegen den „liberalistisch-kapitalistischen Staat“ einerseits und anderseits gegen den „marxistisch-leninistich-stalinistischen Staat sowjetischer Prägung.“ Bekanntlich gehören auch die Entstehungsgeschichte und der Wille des Verfassungsgebers zu den Kriterien, die bei der Auslegung der Verfassung bedeutsam sein können.
Ich bin von Anfang an bis heute der Auffassung, daß unsere Verfassung auch deshalb eine sehr gelungene, ja eine vorbildliche ist.
Ich bin insofern im Sinne von Habermas ein bekennnder Verfassungspatriot, und dann eben nicht nur, wenn es im Sinne der liberalen Rechtstaatsidee um die Sicherung der Grund-und Menschenrechte geht , sondern eben genau so auch dann, wenn es um die Sicherung des Sozialstaatsprinzipes und um seine Verteidigung gegen die Forderung nach einer radikal liberalistisch-kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsordnung geht.
@ #6 Walter Stach: Danke für die Hervorhebung des Grundgesetzes und der Anmerkungen dazu. Auch ich schätze es sehr, weil Werte, nicht irgendwelche Menschenbilder im Zentrum stehen! Doch Politik und Wirtschaft greifen immer wieder auf alte Bilder zurück oder gestalten neue, als seien sie für diese Verfassung noch nicht reif genug und die dort eingeräumten Freiheiten.
Aber ein Verteidigen dieser Freiheiten reicht nicht aus! Es sind auch ökonomische Fragen zu beanworten, besonders im Kontext der Finanzkrise, und meiner Ansicht nach ist die relativ neue Verhaltensökonomie dafür bestens geeignet. Diese wurde sowohl von Politik als auch Wirtschaft bislang nur unzureichend zur Kenntnis genommen! Eine Besonderheit ist, dass experimentelle Befragungen ins Zentrum gerückt sind, nicht irgendwelche Modellannahmen. Dieser empirische Zug ist sehr zu begrüßen! Endlich haben einige junge Ökonomen die Türen aufgemacht, um den Mief der vergangenen Jahrhunderte loszuwerden …
@ Reinhard Matern: Historisch sind diese Eingriffe aus politischem Machtkalkül, zur Befriedigung von Partikularinteressen usw. erfolgt. Der so gerne ignorant verschmähte Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts hat ungeheuren Wohlstandsfortschritt mit sich gebracht (und damit erst diversen – auch antikapitalistischen – Kräften die Infrastruktur für eine breite Agitation ermöglicht). Und bei der Finanzkrise sind für mich die eben Fehler des Staates in der Reaktion darauf (und deren Ursachen) relevant. Eine harte Marktbereinigung im Bankenwesen – wenn sie die Staaten nicht mit dem Steuergeld der kleinen Leute verhindert hätten – wäre hingegen eher Segen als Übel gewesen. Aus wahrhaft liberaler Sicht kann es kein „too big to fail“ geben.
P.S.: Wo Sie die Verhaltensökonomik erwähnen: Deren tatsächliche oder vermeintliche Erkenntnisse werden jüngst gerne zu ganz und gar nicht freiheitsfreundlichen Zwecken missbraucht.
@ Walter Stach: Eine Diskussion darüber, was denn ein „sozialer Staat“ eigentlich ist, wäre mal interessant. Hilfe für die Bedürftigen vs. „Caritas gibt jedem was“ mit fragwürdigen Folgen ist da so ein Gegensatz. Und was den Willen der damaligen Verfassungseltern betrifft, können wir natürlich trefflich spekulieren, was sie von den heutigen Auswüchsen halten würden.
Übrigens hätten viele jener Väter und Mütter gar nicht gewollt, dass das Grundgesetz heute noch gilt. Mit Art. 146 sagte man aus, dass nach möglichst kurzer Zeit an die Stelle dieses provisorischen Verfassungsersatzes eine echte Verfassung jenseits von Teilung und Besatzung treten sollte. Das ist 1990 nicht erfolgt. Ganz allgemein gesprochen gibt es zu Ihrer verfassungspatriotischen Haltung auch noch die Alternative einer universalistischeren Betrachtung.
@ #8 Mit dem Begriff ‚Manchchesterkapitalismus‘ zeigt sich ein typisches Problem. In der ZEIT wurde vor einigen Jahren unfreiwillig darauf hingewiesen: https://www.zeit.de/2003/41/Manchesterliberalismus – ‚Manchester-Theorie‘ und wirtschaftliche Wirklichkeit hatten nicht stets etwas miteinander zu tun. Was sich in der ZEIT als Ehrenrettung der Theorie liest, demonstriert gleich zu Beginn (Arbeitsbedingungen) auch ihre geringe Relevanz! Wäre es anders gewesen, hätte der ‚Machchesterkapitalismus‘ in Deutschland vielleicht Fuß fassen können, doch die Modellannahmen waren eher eine platonische Idee denn eine empirische Theorie. Dass sich speziell in Deutschland soziale Interessen entwickelten, auch der Staat eingriff, muss nicht verwundern.
Wenn Wirtschaftsliberale (verschiedener Parteien) seit geraumen Jahren eine wirtschaftliche Entwicklung allein an Niedriglöhnen festmachen, die zum Leben nicht reichen, fördern sie (a) soziale Gegenwehr, (b) die staatliche Intervention! Wenn diese Liberalen keine Ahnung haben, was zu machen sei, ohne Prozesse zu fördern, die ihnen zuwiderlaufen, dann sollten sie schlicht die Füße stillhalten!
Und die Liberalen haben dazu beigetragen, dass Banken so groß wurden, dass ihr krisenbedingter Untergang ein Land wie Deutschland praktisch zu einer Bauernrepublik wie Modalwien gemacht hätte. Es lässt sich wunderbar reden, dass “too big to fail” aus liberaler Sicht nicht angemessen wäre, doch ein Angebot an die Bürger ist dies nicht. Ein solches Angebot wurde erst durch die Bankenregulierung geschaffen! Liberale haben schlicht kein attraktives wirtschaftsbezogenes Angebot, das auch nur irgendwas mit der Wirklichkeit zu tun hat. Nur una fantasia.
Ich kann mich noch gut an die Diskussion mit einer gut situierten Amerikanerin und Republikanerwählerin erinnern, bei der sie sich bitterliche beschwerte, dass ihre Hausangestellte staatlicherseits eine Operation bezahlt bekommen habe, obwohl sie gar nicht entsprechend krankenversichert sei. So hätte sie mit ihren Steuern doch letztlich diese Operation bezahlt.
Als ich sie daran erinnerte, dass ihre Hausangestellte von ihr offensichtlich so wenig Gehalt bekäme, dass sie sich eine solche Krankenversicherung eben nicht leisten könnte, wurde sie sichtlich ärgerlich, konnte mir aber auch nicht widersprechen. Ich glaube, dass sie sich darüber bislang überhaupt keine ernsthaften Gedanken gemacht hatte, weil in ihrem Bekanntenkreis Niemand solche Argumente vorträgt.
Ich habe mich schon als Schüler über die Bedeutungslosigkeit für das (Verfassungs)Leben und die fehlende gesellschaftliche Diskussion darüber des 14GG gewundert, ganz unabhängig von Liberalismus und/oder Marxismus. Dies Verwundern hält an, ist größer geworden.
Dass die jenigen, die aus linker oder rechter Sicht her eine andere Republik/Staatsform wollen, an einer realen Bedeutung des 14GG für das Leben in diesem Land nicht interessiert sein können, ist klar. Aber die vorgeblich oder tatsächlich Liberalen müssten doch geradezu begeistert vom 14GG sein. Merken tut man davon allerdings nicht. Mir will scheinen, dass der 14GG ein echtes Stiefkind unserer Verfassung ist, letztlich von fast allen allen ungeliebt, auch weil er einer schrankenlosen Freiheit wohlbegründete Grenzen setzt.
der letzte Satz muss enden: …wohlbegründete Grenzen setzen könnte.
@ Matern: Dass der zu erwartende Untergang einiger Banken in der Finanzkrise Deutschland „zu einer Bauernrepublik wie Modalwien gemacht hätte“ ist ein Schreckensszenario, das sich wunderbar zur Angstmache eignete und zur Rechtfertigung des massiven Abmelkens der Steuerzahler zugunsten der Großgläubiger. Tatsächlich ist Letzteres erfolgt, weil sonst eine Menge Reicher eine Menge Geld verloren hätte. Im echten Kapitalismus gehören solche Risiken richtigerweise dazu, aber nicht in einem korporatistischen Umverteilungssystem wie dem unseren.
[…] einigen Tagen hatte Stefan Laurin die Möglichkeit zu einer neuen Freiheitsbewegung erörtert. Berücksichtigt man aktuelle […]