Jazz als Medizin: Keith Jarrett leidet und heilt in „Köln 75“

Plakat KÖLN 75 ©Alamode Film.

Kölsche Mädche sin jefährlich, aber in der Liebe janz ehrlich, wie der kesse Wirbelwind Vera Brandes im Film „Köln 75“ beweist. Ihre Liebe zum Jazz vereint ein Albumcover, worauf ihr Name nicht steht. Sie ist die furchtlose Göre vom Rhein hinter dem legendären „The Köln Concert“ und schafft sich damit einen Namen im Promotergeschäft. Mit einem klapprigen Flügel für Impro-Mastermind Keith Jarrett schreibt sie indirekt Musikgeschichte. Der ungewöhnliche Retro-Film von Ido Fluk feiert Weltpremiere bei den 75. Internationalen Filmfestspielen von Berlin. Da kiekste!

Alle Jahre Berlinale Trallala und – o Jott o Jott – es ist die Stadt mit K, die für das Besondere sorgt. Mitten in der Ära von Disco, Funk und Rock’n Roll ist eine frühreife Rebellin vom Ring so sehr von Keith Jarretts magischen Händen verzaubert, dass sie statt Schule lieber Jazz paukt. Hauptberuflich Eventmanagement, nebenberuflich Blau machen, prompt fliegt der Quälgeist von der Schule. Aus der Traum ihres Vaters in der entnazifizierten großbürgerlichen Fassade, dass Vera, angepasst wie eine Tochter nun mal zu sein hat, seine Zahnarztpraxis übernimmt. Veras Self made-Traum hingegen startet dadurch in eine entschiedene Professionalisierung. Sie spannt Bruder und Freunde gleich mit ein, schon stehen Marketing, Booking und Vertrieb.

Eine einzige Stunde Jazz in der Kölner Oper wird 1975 weltweit zeitlos. Viele Legenden ranken sich um „The Köln Concert“. Das Album ist mit über 4 Millionen verkauften Exemplaren das meistverkaufte Jazz-Soloalbum und Klavier-Soloalbum aller Zeiten. Der Regisseur Ido Fluk versucht sich an der wahren Hintergrundstory, setzt dafür einen Stilmix filmischer Erzählmittel ein und erreicht eine Anmutung auf Leinwand, die einem Genie nie ganz gerecht werden kann.

Fluk überwindet zur besseren Anschaulichkeit der Retrospektive die sogenannte vierte Wand, die im Film für eine Barriere zwischen Zuschauer und Darsteller sorgt, wodurch die Handlung gewöhnlich beobachtet wird. Um aber der Seele des Jazz und der Improvisation im Allgemeinen nahe zu kommen, braucht es einen Zugang darüber hinaus. Nötige Erläuterungen zu den widrigen Umständen des Konzerts, zu den Besonderheiten des kreativen Pianospiels in Echtzeit sowie zur gesundheitlichen Verfassung des Ausnahmekünstlers werden von Michael Chernus in seiner Rolle als Musikjournalist Michael Watts monologisiert, indem er sich direkt ans Publikum wendet. Francis Underwood in House of Cards machte so den Zuschauer einst zum Komplizen, geschichtlich gesehen geht die Erzählweise aber bis zum Theaterspiel der Antike oder auch auf Shakespeare zurück.

Keith Jarrett (John Magaro), Manfred Eicher (Alexander Scheer) und Vera Brandes (Mala Emde) in der Kölner Oper ©Alamode Film

Keith Jarretts Gespür für Tasten und Töne, gespielt von John Magaro, sind schwer zu fassen. Ohne Notenblatt setzt sich der Multinstrumentalist spontan an den Flügel und spielt, als ob Engel ihm die Harmonien zuflüstern. Nach den ersten vier Tönen weiß der 1945 in Pennsylvania geborene Pianist, wie der Konzertabend klingen wird.

Schon im Alter von zwei trommelte Jarrett mit Besteck Rhythmen aus dem Radio, die seiner Mutter sofort auffielen und diese förderte. Spielweise, Phrasierung und Technik verfeinert der schüchterne, bisweilen schroffe Teenager, bis er tatsächlich mit Miles Davis zusammen auf der Bühne jammt. Jazz heilt ihn von Unausgesprochenem und ermöglicht ihm offenbar eine Kommunikation mit sich und der Welt. Mit niemand anderem hat Jarrett so eine lange und intensive Beziehung wie mit einem Bösendorfer 290 Imperial. Freunde sind ihm eher fremd.

Die Kunst der Improvisation beherrschen nicht mal hoch dekorierte Musiker. Dieses Loslassen, sich nackt und verletzbar machen reißt eine wunde Stelle im tiefsten Innern auf, durch die Urgefühle wie Trauer, Angst und Freude auf offener Bühne zum Ausdruck kommen. Jarrett leidet, wenn er nicht spielt. Jarrett leidet aber auch, wenn er spielt.

Alles lässt sich rational erklären, nur Musik, die muss man fühlen. Jazz strömt wie eine Infusion durch Jarretts Venen. Und da sitzt Vera Brandes einst in seinem Berliner Konzert, als sie die resonanten Akkordfolgen umarmen und nicht mehr loslassen. Ihr Entschluss steht fest, sie holt dieses Ausnahmetalent nach Köln. Der Rest ist danach Musikgeschichte.

Mala Emde als Vera Brandes ©Wolfgang Ennebach_Alamode Film

Niemand anderes hat die Vollendung durch Improvisation im Jazz so sehr in jedem einzelnen Pulsschlag gespürt wie Keith Jarrett. Der heute 75jährige Musiker ist nach zwei Schlaganfällen halbseitig gelähmt. Segen und Fluch eines Genies, der sich mit Haut und Haar dem wahnsinnigen Spiel des Jazz gewidmet hat. Vera Brandes, feministisch schnörrig gespielt von Mala Emde, trieb mit ihrem unbedingten Willen und ihrer Achselhaar Hippieness alle zum Wahnsinn. Der Erfolg gibt ihr jedoch bis heute recht.

Leser meiner Rezensionen bei Ruhrbarone können sich denken, dass ich gute und komplexe Gründe ausführlich erörtern könnte, was ich noch alles im Film sehe und warum ich mir die Zeit nehme, darüber zu schreiben. Es ist nicht nur, weil man die Kölner Oper nochmal von innen sieht [möpp möpp]; es ist nicht nur mein jährliches Pilgern einst nach Den Haag, nun nach Rotterdam for a boom bash dash: es ist nicht nur mein crosskultureller Sinn jenseits von Sprache zum Japazz. „Köln 75“ ist eine Einladung, genau zuzuhören.

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