Zettel-Motivation auf Russisch: "Pfeiff auf die Krise"
Die Finanzkrise hat Russland stark getroffen. Der russische Rubel verlor ein Drittel seines Wertes gegenüber dem US-Dollar. Viele ambitionierte Bauprojekte wurden auf Eis gelegt. Die Arbeitslosigkeit steigt. Doch die Bevölkerung der russischen Kulturhauptstadt Sankt Petersburg ist nicht verzweifelt. Viele bemerken positive Folgen der Rezession und wollen die Krisenzeit als eine Chance nutzen: um eigene Firma zu gründen, ein neues Auto günstig zu kaufen, eine Ausbildung zu beginnen oder ein Baby zu bekommen.
"Die Finanzkrise ist wie ein Regen. Sie ist unangenehm, wird aber bald vorbei sein“, sagt Michail Rybasow und lächelt. Der Wirtschaftsredakteur der Online-Zeitung mergers.ru gibt zu, dass er sich über die Wirtschaftskrise freut. „Das Leben ist interessanter und der Nachrichtenticker ist reicher an wirklich wichtigen Themen geworden. Ich merke, dass viele meiner Freunde jetzt schneller und kreativer denken. Die Krise hat die Routine abgelöst“, sagt der 29-Jährige. Dass wegen der Finanzkrise die geplante Lohnerhöhung verschoben wurde und die Redaktion in das kleinere Büro umziehen musste, nehme er dafür gern in Kauf.
Wer derzeit über den Newskij Prospekt, die Hauptstraße der russische Kulturhauptstadt Sankt Petersburg, geht, sieht eine weitere positive Folge der Finanzkrise: Jedes dritte Geschäft hat die Preise reduziert, jedes zweite Café bietet Rabatte an. „50 Prozent Rabatt auf alle Torten“, „Zwei Portionen Sushi für den Preis von einer“ – steht auf den Schildchen in vielen Schaufenstern. Auf einer Informationstafel hängt neben den bunten Werbeplakaten ein kleiner gelber Zettel: „Pfeif auf die Finanzkrise! Ein föderales Unternehmen bietet Kredite ohne Zinsen für Wohnung, Job und Ausbildung.“ „Ein föderales Unternehmen? Und eine Handynummer als Kontakt angegeben?“, wundert sich Kirill Rybasow, der Bruder vom Wirtschaftsredakteur Michail Rybasow, als er den Zettel sieht.
Die Firma, die der 25-Jährige vor vier Monaten gründete, soll nach seiner Meinung eine transnationale werden. Den passenden Namen hat sie schon: Multifinance. „Von einem eigenen Unternehmen habe ich schon immer geträumt. Als mir die Zusage für eine Stelle in einer internationalen Bank wegen Sparmaßnahmen dann zurückgezogen wurde, habe ich verstanden, dass ich keinen Job zu suchen brauche und dass es keine bessere Zeit geben wird, um eine eigene Firma zu gründen.“ Arbeitskräfte sind günstig und enorm motiviert, Konkurrenten gehen Pleite, Mietpreise sinken – das sind die Gründe, warum Rybasow mitten in der Krise eine eigene Firma gründet. 18.000 Dollar hat der studierte Betriebswirt in das Beratungsunternehmen bereits investiert. Einige Dividenden sind schon spürbar. „Zur Zeit verkaufen sich Autoversicherungen wie frische Brötchen. Die Autoinhaber wollen so schnell wie möglich ihre Wagen versichern, da Preiserhöhungen drohen“, erklärt Kirill Rybasow.
Dem jungen Geschäftsmann ist es anscheinend gelungen, sich der Krise anzupassen, so wie es die Leiterin des Petersburger Psychologiezentrums Olga Kuprijanez rät: „Wir sind daran gewöhnt, stereotypisch zu denken und zu handeln. Doch die Krise ist kein normaler, sondern ein Ausnahmezustand. Die Stereotypen passen nicht. Man muss flexibel sein. In dieser Zeit kann eine Weiter- oder Zusatzausbildung helfen.“ Die Empfehlung wurde anscheinend von der Stadtregierung gehört. Denn die hat 21 Milliarden Rubel (etwa 5,8 Millionen Euro) aus dem Stadthaushalt bereitgestellt, um die Studenten weiter auszubilden. Es sollen laut Stadtverwaltung mehr gebührenfreie Studienplätze für Masterstudenten und Promovierende eingerichtet werden. Zugleich wird überlegt, ob nicht die zwölfte Klasse an den Schulen eingeführt werden soll. Derzeit lernen die Petersburger Kinder elf Jahre in der Schule.
Außerdem startete in St. Petersburg ein Umschulungsprogramm für Entlassene, für das in diesem Jahr 5,5 Millionen Rubel (etwa 153.000 Euro) bereitgestellt wurden. Dank dieses Programms können die nach dem 1. Oktober 2008 entlassen Petersburger eine neue Qualifikation für die am meisten gebrauchten Berufe erwerben. Das sind Kraftfahrer, Hilfsarbeiter, Koch, Buchalter. Die Berufe, in denen die meisten Menschen entlassen werden, sind Werbe- und PR-Experten sowie Büroangestellte.
Der Unternehmer Wasilij Baturo (48), Chef einer kleinen Logistik-Firma, will von Krise nichts wissen. Er hat sich gerade ein neues Auto gekauft, einen schicken Outlander. „Ich habe lange nachgedacht, wohin ich meine Rubel, die immer weniger wert werden, investieren kann. Die Immobilien werden billiger, mit den Devisen ist es unklar… Als ich mir die Autopreise angeschaut habe, war ich sehr überrascht, da sie enorm gesunken sind. Ich habe mir also sehr günstig eine fast neue tolle Karre gekauft“, freut er sich über seinen Kauf.
Eine etwas andere Investition hat Tatjana Ermolaeewa gemacht. Als sie im August 2008 erfuhr, dass sie schwanger ist, war sie zuerst nicht gerade glücklich, da sie damals nicht ein Kind, sondern eine Karriere plante. Nun denkt die 24-Jährige anders: „Ich sehe, dass viele meiner ehemaligen Mitarbeiterinnen entlassen wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass so ein Schicksal auch mich erwischt hätte, wenn ich in der Firma geblieben wäre. Nun verstehe ich, dass jetzt, wenn man keine Arbeit findet oder für wenig Geld arbeiten muss, die beste Zeit ist, um ein Baby zu bekommen.“ Ermolaeewa streicht ihren Bauch und schaut aus dem Fenster. Es regnet in St. Petersburg. Aber der Regen wird bald vorbei sein, hoffen die Bewohner.
Schön zu hören, dass die Russen den Kopf nicht hängen lassen. Hoffentlich ist der Spuk schnell vorbei.
So ist er, der Mensch als solcher, und damit auch der russische. Er belügt sich am liebsten selbst und redet sich die Welt schön.
Die Krise hat am Anfang immer auch Vorteile für die, die noch Geld haben. Da die Nachfrage in bestimmten Bereichen sinkt, sinken auch die Preise. Das nennt man Deflation.
Die nächste Stufe ist aber, wenn die Krise sich weiter verschärft, und nichts spricht zur Zeit dagegen, die Inflation. Denn wenn das letzte Geld, ob vom Staat oder von Privaten ausgegeben, weg ist oder nur noch als Minus auf dem Konto steht, wird das, was da noch an Scheinen auf dem Markt kursiert, immer weniger Wert.
Das gilt dann auch für die reale Kaufkraft der Löhne und Gehälter, die noch an die ausgezahlt werden, die überhaupt noch bezahlte Arbeit haben.Die Produktion nimmt parallel dazu im weiter ab, was die Preise noch weiter in die Höhe treibt.
Nicht nur die Russen werden dann gezwungen sein, endgültig der Realität in die Augen zu sehen.Da sie aber durch den Realsozialismus bestens auf den Schwarzmarkt und die unmittelbare Tausch- und Mangelwirtschaft vorbereitet sind, werden sie auch das überstehen.
Dass die Russen jetzige Krise überstehen werden, da bin ich mir auch sicher. Die Menschen sind Ende 1990er dermaßen abgehärtet worden, dass sie alles überstehen werden. Im schlimmsten Fall: sich den Gürtel enger schnallen und Kartoffeln einpflanzen.
Es wird weitergehen auch in Russland, weil es weiter gehen muss. Die Frage die ich mir stelle, ist wie es weitergeht? Wird Russland in der Krise zur totalen Diktatur? Oder hat die Freiheit in dem Land eine Chance?
Üblicherweise verjagt der russische Staat ja alle 70 Jahre seine komplette Intelligenzia. Ist es nun wieder soweit?
Man sollte daran erinnern, dass es Dinge gibt, die man nicht ändern kann.
Dinge entstehen und vergehen, alles ist fortwährend im Werden und Untergang begriffen. Auf die Krise folgt stets der Aufschwung und umgekehrt.
Das Glück jedes Einzelnen ist keineswegs von wirtschaftlichen Dingen abhängig. Dies ist eine 2500 Jahre alte philosophische Tatsache, die sich zudem – für diejenigen, die empirisch argumentieren – durch hirnphysiologische Untersuchungen belegen lässt.
Die Russen scheinen – im Gegensatz zu uns Deutschen, bei denen die Krise zudem noch gar nicht richtig zu spüren ist – verstanden zu haben, dass jede Krise mit Chancen einhergeht.
Ich denke, dass die Russen nach den Erfahrungen der katastrophalen 90er-Jahre kaum noch ein Ereignis als „wahre“ Krise empfinden können. Die wenigsten Deutschen wissen wohl noch, was es bedeutet, wenn das Essen auf Basis von Lebensmittelmarken verteilt werden muss. Zudem ist das Anspruchsdenken in Russland noch lange nicht so ausgereift und es herrscht eine enorme Gleichgültigkeit gegenüber allen äußeren Umständen, deren Vorteil sich ganz besonders in der Krise zeigen wird.
Die meisten sind – soweit ich weiß- auch auf eine Selbstversorgung mit Kleingärten und Datschen vorbereitet. Ressourcen für die Beheizung der eigenen Häuser und Wohnung gibt es auch zuhauf. Alles andere kann zeitweise auch als unnötiger Luxus betrachtet werden.
Da verwundert es einen nicht, wenn die Russen der festen Überzeugung sind, als Sieger aus der Krise herauszugehen.
@David:
Wenn ich mir die Zahl meiner ehemaligen Mitstudenten anschaue, die nach dem Studium für ein Master/eine Promotion/ein zweites Studium/was auch immer in den Westen gegangen sind, dann sieht es wohl so aus… Schade eigentlich. Für Russland.
Und die Frage über eine Chance für die Freiheit in Russland bleibt rhetorisch…
@Philipp:
Ich habe auch das Gefühl, dass in Deutschland mehr und pessimistischer über die Krise geredet wird, obwohl die hier nicht wirklich zu spüren ist. Und in Russland umgekehrt.