Flucht aus Kyjiw nach Duisburg: „Schließt den Luftraum über der Ukraine!“

Per Anhalter: Viktoria (hinten links) und Anna flüchteten über Cottbus aus Kyjiw nach Duisburg
Per Anhalter: Viktoria (hinten links) und Anna flüchteten über Cottbus aus Kyjiw nach Duisburg

Anna und ihre Lebenspartnerin Viktoria sind vorletzte Woche aus Kyjiw, das damals bereits von heftigen Terrorangriffen der russischen Armee betroffen war, geflohen.

Seit dem vierten März 2022 sind Anna und Viktoria in Duisburg. Über Matthias-André Richter, der bei den Demonstrationen in Düsseldorf gegen den putinschen Angriffskrieg als Redner auf dem Podium stand und bis zum Kriegsausbruch einen Wohnsitz in Kyjiw hatte, und die Jüdische Gemeinde in Düsseldorf konnten die beiden Kriegsflüchtlinge bei ihrer Ankunft eine Wohnung in Duisburg beziehen: Durch Sachspenden und freiwillige Helfer fanden Anna und Viktoria nach ihrer Flucht eine bezugsfertige Wohnung vor.

Die Ruhrbarone hatten Fragen an Anna, die fließend Deutsch spricht und sich jetzt bereits in Düsseldorf und Duisburg um andere Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kümmert: Zur Lage in Kyjiw, zur Flucht und ihrer aktuellen Situation in Deutschland.

„Ständig tönten die Sirenen und die Fenster zitterten“

Ruhrbarone: Anna, seit vorletzten Freitag bist du im Ruhrgebiet. Geflohen aus Kyiw, das damals bereits unter dem Beschuss von russischen Truppen stand. Wie war die Situation in Kyjiw vor und während des Zeitpunktes deiner Flucht?

Anna: Die Situation in Kyjiw war sehr angespannt. Als ich die Nachricht vom Bürgermeister Klitschko gelesen habe, dass der Krieg angefangen hätte, hatte ich kurz die Hoffnung: Vielleicht wurde sein Account gehackt. Aber dann habe ich die Sirenen gehört.

Am ersten Tag des Krieges waren überall Staus. Große Menschenmengen an Haltestellen und vor Supermärkten. Aber die Menschen wirkten ruhig, was auch mich beruhigt hat.

Ruhrbarone: Was war der Auslöser für deine Flucht?

Anna: Das war eine sehr spontane Entscheidung, die sich in der Situation ergeben hat. Am ersten Tag des Krieges war ich fest davon überzeugt, dass wir ein paar Tage abwarten und beobachten müssen. Massenpanik und auch Bewegung seien vielleicht gefährlicher als Zuhause zu sein.

Aber schon in der zweiten Nacht wusste ich, dass es nicht auszuhalten ist. Es hat gedonnert und geknallt. Diese Geräusche wurden lauter und waren immer öfter zu hören. Ständig tönten die Sirenen und die Fenster zitterten, die ganze Wohnung hat vibriert. Es flogen Flugzeuge und es fuhren nachts Panzer, die ich nicht zuordnen konnte: Sind das unsere Panzer oder russische Panzer?

Ruhrbarone: Wie hat dein Umfeld in der Ukraine, deine Freunde und die Familie, den Beschluss zur Flucht aufgenommen?

Anna: Sehr unterschiedlich. Manche haben unsere Spontanität nicht für rational gehalten. Uns wurde abgeraten mit den Argumenten, dass Zivilisten nicht das Ziel sind und dass eine Fahrt gefährlicher ist als an einer Stelle zu verbleiben. Aber es gab auch die Meinung, dass wir auf unser Bauchgefühl und unsere Intuition hören müssen. Im Endeffekt entscheidet jeder für sich selbst.

Ruhrbarone: Wie ist deine Flucht nach Deutschland abgelaufen?

Anna: Es war der zweite Tag des Krieges. Um sieben Uhr morgens wurde die Ausgangssperre aufgehoben und der Stau war noch nicht so groß wie am Tag zuvor. Die Autos haben sich langsam, aber immerhin, bewegt. Wir haben unser Glück mit Autostops versucht. Ein Mann nahm uns bis Zhytomir mit. Für 120 Kilometer haben wir sechs Stunden gebraucht.
In Zhytomir haben wir bei den Eltern meiner Partnerin übernachtet.

Am dritten Tag des Krieges, während des Sirenenalarms, haben wir ein Schild gebastelt mit der Aufschrift „DO KORDUNU“ – Richtung Grenze – gebastelt.

Per Anhalter ging die Flucht dann los: Drei verschiedene Lastkraftwagen stoppten und wir fuhren mit einem von ihnen bis Sarny. In Sarny haben wir die Oma einer Freundin abgeholt und sind mit einem Minibus bis zur Grenze gefahren. Acht Kilometer vor der Grenze wurden wir ausgesetzt und sollten zu Fuß weitergehen. Zum Glück haben wir Platz in einem anderen großen Bus gefunden und konnten die Nacht, also die Wartezeit, an der Grenze in Wärme verbringen. Es war gruselig, weil draußen tausende von Frauen mit Kindern in der Kälte standen.

Viktoria auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit aus dem Kriegsgebiet
Viktoria auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit aus dem Kriegsgebiet

Ruhrbarone: Was hast du auf deiner Flucht von Putins Angriffskrieg mitbekommen?

Anna: Wir hatten im Auto und im Lkw Radio gehört, in denen von den Kämpfen und den Raketenangriffen berichtet wurde.

Jede Stadt und jedes Dorf hatte Vorbereitungen getroffen, um sich zu wehren. Es gab viele Kontrollpunkte, Panzer, Barrikaden und bewaffnete Menschen. Man spricht aber nicht über die Standorte oder die Abstände von diesen Dingen. Weil man dem Feind keine Tipps geben möchte.

Aber da unsere Flucht mehrere Abschnitte hatte, mussten wir immer überlegen, wie wir weiter vorankommen. Welche Wege sicherer scheinen und wie man überhaupt weiterkommt.

„Ich werde ihnen bis ans Ende des Lebens dankbar sein“

Ruhrbarone: Was hat dich dabei besonders berührt?

Anna: Der erste Fahrer und auch der Lkw-Fahrer hat kein Geld angenommen. Männer, die nicht fliehen dürfen, aber trotzdem helfen. Ihre Frauen sind mit ihnen in der Ukraine geblieben. Ich werde ihnen bis ans Ende des Lebens dankbar sein und hoffe, dass es ihnen gut geht.

Im Finkenkrug in Duisburg: Anna mit Matthias-André Richter und Jannis Vatalis (Studyon Düsseldorf), die Annas und Viktorias Ankunft in Duisburg vorbereitet hatten; Foto: Peter Ansmann
Im Finkenkrug in Duisburg: Anna mit Matthias-André Richter und Jannis Vatalis (Studyon Düsseldorf), die Annas und Viktorias Ankunft in Duisburg vorbereitet hatten; Foto: Peter Ansmann

Ruhrbarone: Du bist jetzt seit vorletztem Freitag in Duisburg. Wie kam es dazu?

Anna: Die Sprachschule für die ich in Kyjiw arbeite, hat ihre  Zentrale in Düsseldorf. Deren Geschäftsführer haben die Wohnung, in der ich jetzt mit meiner Partnerin bin, gefunden.  Das war eine große Erleichterung. Danke an alle die daran beteiligt sind!

Ruhrbarone: Deine Deutschkenntnisse sind perfekt. Ist das normal für die Menschen die aus der Ukraine kommen?

Anna: In meinem Umkreis sprechen viele Ukrainer Deutsch. Das liegt daran, dass ich an einem deutschem Sprachzentrum in Kyiv arbeite bzw. bis zum Krieg gearbeitet habe.

Außerdem ist meine Mutter mit einem Deutschen verheiratet. Einen Teil meiner Kindheit bzw. meiner Jugendzeit habe ich in Deutschland verbracht. Leider beherrschen viele Ukrainer keine Fremdsprachen. Keine einfache Situation für Flüchtlinge.

Erstes gemeinsames Essen nach der Flucht: David Mursal (Studyon Düsseldorf -  Anna arbeitete bis zum Kriegsausbruch für Studyon in Kyjiw) und Viktoria; Foto: Peter Ansmann
Erstes gemeinsames Essen nach der Flucht: David Mursal (Studyon Düsseldorf –  Anna arbeitete bis zum Kriegsausbruch für Studyon in Kyjiw) und Viktoria; Foto: Peter Ansmann

Ruhrbarone: Du bist mit einem Rucksack aus Kyjiw geflohen…

Anna: Ja, der Rucksack sollte mir Bewegungsfreiheit geben und mich flexibel lassen. Außerdem ist es so platzsparend.

„Meine Dankbarkeit lässt sich nicht mit Worten ausdrücken“

Ruhrbarone: Wie war deine Situation bei der Ankunft in Duisburg?

Anna: Unglaublich rührend. Es gab Menschen, die ich nicht kannte, die aber so viel gemacht haben. Kleidung und Essen bereitgestellt und eine Wohnung mit Möbeln und Internet vorbereitet haben. Meine Dankbarkeit lässt sich nicht mit Worten ausdrücken.

Diese Hilfe muntert auf, die Welt ist nicht verloren!

Ruhrbarone: Hast du aktuell, via Internet, Kontakt zu Freunden und Verwandten im Kriegsgebiet?

Anna: Ja, meine Familie väterlicherseits ist in der Ukraine und bleibt es voraussichtlich auch. Aber es gibt leider zu manchen Freunden inzwischen gar keinen Kontakt. Viele Städte haben keinen Empfang, kein Wasser und keinen Strom. Besonders um die, die nicht antworten, habe ich große Angst. Eine Freundin hat seit neun Tagen keinen Kontakt zur ihren Eltern in Mariupol. Es ist schrecklich, was genau in diesem Moment in der Ukraine passiert.

Ich habe Freunde, die Berufssoldaten sind. Die sind seit November in Kampfbereitschaft und haben seitdem ihre Familien nicht mehr gesehen.
Wir bekommen von unseren Soldaten ab und zu ein Lebenszeichen, aber keine genauere Info.

Ruhrbarone: Der Westen unternimmt aktuell wenig um den Luftraum der Ukraine zu schützen, auch bei Waffenlieferungen hält der Westen sich zurück. Wie empfindest du – und deine Kontakte die unter dem russischen Angriffskrieg leiden – diese Zurückhaltung?

Annas Fluchtrucksack und ein Panzer der ukrainische Armee am 26.02.2022 in Kiew
Annas Fluchtrucksack und ein Panzer der ukrainische Armee am 26.02.2022 in Kyjiw

Anna: Ich habe auch der ukrainischen Armee mein Leben zu verdanken. Sie sind meine Helden. Aber wir brauchen mehr Unterstützung von der Welt. Der Krieg ist in Europa, wir müssen ihn gemeinsam stoppen. Der Krieg geht uns alles was an. Schließt den Luftraum.

Ruhrbarone: Was wünschen Sie sich vom Westen – der NATO – als Reaktion auf den Angriffskrieg?

Anna: Mehr Mut und Zusammenhalt.

„Fakt ist: Wir wollen unbedingt wieder nach Hause“

Ruhrbarone: Gehst du davon aus zeitnah wieder in der Ukraine zu sein?

Anna: Viele geflohene Ukrainer denken und hoffen, dass sie in ein bis zwei Wochen wieder nach Hause können. Vielleicht ist es eine Schutzreaktion, denn viele haben verständlicherweise Existenzängste.

Ich hoffe und bete, dass mein Heimatland so schnell wie möglich siegt und dass wir es so schnell wie möglich wieder aufbauen können. Ich habe mich erstmal auf ein halbes Jahr in Europa eingestellt. Weiter muss man sehen.  Fakt ist: Wir wollen unbedingt wieder nach Hause.

Ruhrbarone: Fühlst du dich hier willkommen – oder erlebst du auch Anfeindungen?

Anna: Auf dem Fluchtweg hatten wir Angst, nicht nur um unser Leben, sondern auch mit der Entwicklung, wie es weiter geht.

Ich habe auf so viel Hilfe nicht mal gehofft, es ist einfach nur unglaublich.

Sowohl in Polen wie auch in Deutschland, besonders in Duisburg fühlen wir uns sicher und willkommen. Alle sind hilfsbereit und bieten ihre Hilfe an.

Bei Fahrscheinkontrollen zweifelten manchmal die Kontrolleure, ob ich wirklich geflohen bin. Meine Sprachkenntnisse sind anscheinend irritierend. Aber Anfeindungen habe ich, zum Glück, keine erlebt.

Viktoria und Anna auf ihrer Flucht aus der Ukraine
Viktoria und Anna auf ihrer Flucht aus der Ukraine

Ruhrbarone: Lief die Registrierung als Kriegsflüchtling und die Beantragung von Übergangshilfen problemlos ab?

Anna: Dieser Prozess verläuft per E-Mail, ich warte auf einen Termin bei der Ausländerbehörde. Jede Stadt hat ihre eigene Prozedur.  Das ist etwas kompliziert, weil ich Menschen aus anderen Städten wenig Infos geben kann.

Ruhrbarone: Wie hat sich deine Situation in Deutschland seit Ihrer Ankunft entwickelt?

Anna: Die erste Zeit wussten alle nicht, was zu tun ist. Inzwischen ist alles viel besser organisiert. Ankunftszentren, Registrierungen alles ist mit der Zeit etwas klarer geworden.

„Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen Essen, Wärme und Medikamente.“

Ruhrbarone: Hast du konkrete Tipps, an wen Ruhrbarone-Leser die helfen wollen – mit Spenden, Bereitstellung von Wohnraum, sonstigem Engagement – sich wenden sollten?

Anna: Ich bitte Menschen, die Wohnraum haben – sei es eine freie Wohnung oder auch nur eine freie Couch: Bitte meldet euch beim Amt oder bei Organisationen. Nehmt Menschen auf!

Überall fehlen Übersetzer, die ukrainischen Neuankömmlingen helfen. Sollten sie Deutsch und Ukrainisch oder wenigstens Russisch beherrschen: Sie können auch online ihre Hilfe anbieten.

Die Ukrainer – sowohl geflohene, als auch auch die Hinterbliebene – stecken in großer Not. Jede Spende hilft. Wenn die Möglichkeit besteht zu helfen, wendet euch an Organisationen und man kann Listen bekommen, was am Nötigsten gebraucht wird. Man kann sogar Geld direkt an die ukrainische Armee überweisen.

Ich weiß, dass manche Leute sich dabei nicht wohl fühlen und denken, dass es Kriegsfinanzierung ist.

Es geht aber nicht nur um Waffen. Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen Essen, Wärme und Medikamente.

Anna und Viktoria demonstrierten am 06.03.2022 in Düsseldorf; Foto; Matthias-André Richter
Anna und Viktoria demonstrierten am 06.03.2022 in Düsseldorf; Foto; Matthias-André Richter

Hilfe für die Ukraine

    • Empfänger: Jüdische Gemeinde Düsseldorf
    • Bank: Stadtsparkasse Düsseldorf
    • IBAN: DE13 3005 0110 1006 0531 34

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ke
ke
2 Jahre zuvor

Die Ukraine ist riesig. Es sind über 40 Millionen Menschen. Das Land sollte in der Lage sein, sich mit Waffenlieferungen zu verteidigen.

Es ist nachvollziehbar, dass die NATO den Luftraum nicht schließen wird.
Die Rolle der UN wirkt eher überflüssig. Das liegt natürlich auch an die Vetomächte.

Spannend ist aber auch die Rolle der großen asiatischen Länder Indien und China,.

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