Auszug aus dem Buch „Zeitgeisterjagd. Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ von unserem Gastautor Matthias Heitmann
Was bevorzugen Sie: ein gutes Essen, Mountainbiking im Himalaya, eine feucht-fröhliche Kneipentour mit Freunden, die Lektüre eines guten Buches oder eine Auspeitschung im SM-Studio? Was es auch immer ist: es sei Ihnen gegönnt. Für jeden Menschen ist Genuss etwas anderes, vor allem aber Geschmacksache. Oder etwa nicht?
Ja, wir leben in einer Genussgesellschaft. Nicht, weil wir uns jeden Genuss leisten können, sondern weil Genuss eine der wenigen individuellen Zielsetzungen ist, die die Gesellschaft in Bewegung hält. In dem Maße, in dem viele öffentliche Bereiche des Lebens an Bedeutung verlieren, erfahren private Ausrichtungen und somit auch das Ausleben der eigenen Individualität über verschiedenste Genussformen eine starke Aufwertung. Diese „Politisierung“ persönlicher Vorlieben und Genüsse vollzieht sich in dem Maße, in dem sich die Menschen aus der „politischen“ Öffentlichkeit zurückziehen und ihr Glück im Privatleben suchen, das leider dadurch nicht mehr wirklich privat ist.
Die Art, in der private Vorlieben öffentlich beurteilt werden, legt in einer Gesellschaft, die vom Misstrauen gegenüber „den Anderen“ geprägt ist, die Freiheit des privaten Genießens in enge Ketten. „Über Geschmack lässt sich streiten“ – dieser einstmals Toleranz gegenüber den privaten Vorstellungen und Vergnügungen anderer signalisierende Satz wird heute in immer weniger Bereichen noch als gültig empfunden. Je stärker der von speziellen Vorlieben ausgehende potenzielle Einfluss auf die Gesellschaft ist, desto genauer und kritischer wird hingeschaut. Je mehr eine Vorliebe aber ausschließlich nach „innen“ orientiert ist, desto unproblematischer wird sie gesehen. Beispiele für diese Innen-Orientierung sind: das Es-Sich-Gemütlich-Machen in den eigenen vier Wänden, im Privatleben oder im eigenen Körper. Es geht dabei um private Abgeschiedenheit, das Für-sich-Sein und auch darum, sich eine Auszeit zu nehmen von der „Welt da draußen“.
Im Gegensatz zu diesen „Rückzugs-Genüssen“ gibt es eine Reihe anderer Genüsse, die stärker auf dem Prüfstand und unter Beobachtung stehen. Viele sind extrovertierter, geselliger Natur und beanspruchen öffentlichen Raum. Und es gehören auch solche dazu, die als unvernünftig und gesundheitsschädigend gelten – und es manchmal tatsächlich auch sind. Warum ist es so, dass Menschen oftmals Dinge tun, die sie ansonsten sich und anderen verbieten würden? Muss das denn sein? Ja, muss es! Weil diese Art von „Ausbruchs-Genüssen“ gerade davon lebt, etwas zu tun, was man „eigentlich“ nicht tun sollte. Es macht einen Großteil dieses Genussreizes aus, die Grenzen der Schicklichkeit, der Vernunft und des Anstands auszutesten und auch zu überschreiten, ohne diese dabei aber grundsätzlich infrage zu stellen. Wir genießen die Lust daran, etwas Verruchtes zu tun.
Was den Ausbruchs-Genuss vom Rückzugs-Genuss unterscheidet, ist seine Kompatibilität mit der Gesellschaft. Deren Bereitschaft, individuelle Freiheiten zu erlauben, ist einem steten Wandel unterworfen. Für den Rückzug von den öffentlichen Flächen bedarf es hingegen keiner Erlaubnis; was er braucht, ist Nichtöffentlichkeit, Ungestörtheit und Ungeselligkeit – damit passt er viel besser zum modernen Zeitgeist. Der Ausbruchs-Genießer ist daher eher dafür prädestiniert, sich der Verteidigung von Freiheiten zu verschreiben als der Rückzugs-Genießer, der vor allen Dingen „seine Ruhe“ (geschützt) haben will, koste es, was es wolle.
Die andauernden Auseinandersetzungen in Deutschland über Rauchverbote zeigen dies sehr deutlich: Der klassische Rückzugs-Genuss (öffentlich nicht von Zigarettenrauch behelligt werden) gilt vielen heute als höherwertiger als der Ausbruchs-Genuss (öffentliches Rauchen). Der staatlich geprüfte und verteidigte Schutz des Rückzugs-Genusses steht der Freiheit zum Ausbruchs-Genuss entgegen. Dies zeichnet die introvertierte und vernunftgesteuerte Genusskultur unserer Tage aus: Ihr Leitmotiv ist die Eindämmung öffentlicher Ausbruchs-Genüsse mit dem Ziel, den „verantwortungsbewussten Rückzugs-Genießer“ vor „verantwortungslosen Störern“ zu schützen.
Bei aller gesellschaftlicher Wertschätzung des Rückzuges und der Zurückhaltung zugunsten einer „unbehelligten“ Öffentlichkeit: Viele Menschen reagieren gegen den Vorrang des streng vernünftigen und unbedingt sozialverträglichen Rückzugs-Genusses und geben sich zuweilen kollektiv Ausbruchs-Genüssen hin. Dies ist eine Begleiterscheinung des Verschwindens der öffentlichen, geselligen und unbeschwerten alltäglichen und öffentlichen Genusskultur. Ohne dies wäre das Phänomen der „Public-Viewing“-Euphorie bei Großereignissen wie Fußball-Welt- und -Europameisterschaften oder dem Eurovision Song Contest kaum zu erklären.
Auch der Wandel der gesellschaftlichen Bedeutung von Veranstaltungen wie etwa dem Münchner Oktoberfest zeigt es: Immer mehr Menschen geht es um das Erleben von ausschweifender Kollektivität im öffentlichen Raum, um das massenhafte Ignorieren üblicher Gepflogenheiten, ja sogar um den bewussten Verstoß gegen Recht und Ordnung. Dies ist eine direkte Gegenreaktion auf die zunehmende Regulierung und Verengung des öffentlichen Raumes sowie der fortschreitenden Vereinzelung, aus der sich die Menschen gelegentlich „eruptiv“ befreien müssen.
Wie viel die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Genusses mit dem Gefühl der eigenen Freiheit zu tun haben, zeigt sich auch an der hohen Emotionalität, die zutage tritt, wenn liebgewonnene Genussangewohnheiten den Rang einer Unbotmäßigkeit oder gar einer Illegalität zugeschrieben bekommen. Während in vielen Bereichen die Beschneidung von Freiheitsrechten häufig ohne große Gegenwehr geschieht, sind es gerade persönliche Gewohnheiten, deren Kriminalisierung Menschen auf die Barrikaden bringt.
Das ist auch gut so. Denn wogegen hier rebelliert wird, ist die dieser moralischen (und zunehmend auch rechtlichen) Verurteilung zugrundeliegende Annahme, dass Menschen nicht in der Lage sind, ihr Leben frei und selbstbestimmt zu gestalten. Und in der Ablehnung dieser Annahme dürften sich sowohl Ausbruchs- als auch Rückzugsgenießer einig sein.
Matthias Heitmann ist freier Journalist, Redner und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag, Jena 2015, 197 S., EUR 19,90). Der vorliegende Text ist eine stark gekürzte Fassung des dortigen Essays „Genusskulturkampf“. Heitmanns Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.
Interessant, nachdenkenswert .
Einige spontane Einwürfe dazu -nicht mehr-:
Auch mir scheint, daß sehr viele Menschen , und zwar seit Jahren mit zunehmender Tendenz, das zu genießen wünschen, was "in ihren Kreisen", was in ihren Cliquen, was dann und wann sogar in der Mehrheitsgesellschaft jeweils als d e r Genuss gilt. Das würde dann eben bedeuten , daß sich im Genießen -Essen,Trinken, Sex, Musik,Sport pp.-nicht (nicht mehr) das Ausleben der eigenen Individualität äußert, sondern das Dabeiseinwollen, das Mitmachen wollen in einer r Gemeinschaft – auch das Nichtauffallen-wollen?, was dann das Verkümmern des Individuellen auch beim
Genießen dolumentieren würde
Letzters führt zwangsläufig zu der Frage, wie sich solche " gemeinschaftlichen Genussprioritäten " zu Lasten "lustvollen Genusses nach den individuellen Bedüfrnissen" bilden , wie darauf bezogen manipuliet und gesteuert wird und warum das Individum -sich mehr als "früher"?- dem nicht entzieht -nicht entziehen kann, nicht entziehen will?
Wird hier durch die allumfassende Werbung in allen Lebensbereichen…….??
(So nebenbei frage ich mich, ob nicht auch in den sog.Shit-Strorms Genussbefriedigung zu erkennen, nur weil die Gemeinschaft diese produziert und suggeriert, die also das Gegenteil von dem wäre, was eine individeullen Meinungsäußerung ausmacht, die ja gerade deshalb "lustvoll genossen" werden kann, weil sie vorsätzlich gegen die "vergemeinschaftete Meinugn" gerichtet isein kann.)
Ich bin mir allerdngs keinesweg -im Gegensatz zu Mathias Heitmann-sicher, ob es hier gravierende Unterschiede gibt, zwischen dem Genießen in der Öffentlchkiet, im offentlichen Raum und dem Genießen in der Privatspähre- im Rückzugsraum-.
Ist nicht auch "zu Hause", ist nich auch "daheim", ist nicht auch in der Familie, ist nicht auch in der privaten Zweisamkeit" das und nur das "lustvolles Genießen" was derzeit in der Geselllschaft und durch diese bzw. durch Gruppen, die man für sich als relevant ausmacht, als solchen propagiert wird?
Ich frage zudem, ob es unstrittig die in der Mehrheitsgesellschaft produzierten"moralischeen (Vor-)Urteile
sind und/oder primär die vom Staat gesetzten Normen, die subtstantiell und existentiell das lustvolle Genießen " so wie es jedem gefällt" verhindern,behindern oder gar gänzlich auszuschließen oder gibt es nicht vielmehr ein stets anwachsende Wollen der Individuen, im privaten und im öffentlichen Leben möglichst jedes Risiko zu vermeiden, stets ehe nach dem bequemeren Weg und nicht nach "dem richtigen" zu suchen, sich lieber unauffällig zu verhalten, sich möglichst stets anzupassen; u.a. eben auch dann,wenn es um den Genuß, wenn es um das Genießen geht?
Sollte diese "Mutmaßung" meinerseits nicht abwegig sein, wäre nach Erklärungen zu suchen.
Wenn ich den Beitrag von Mathias Heitmann und meine Überlegungen beziehe auf einen simplen politischedn Vorgang, nämlich auf den sog.Fraktionszwang, dann…….., ja auch dannl ließe sich über "genussvolles Ausleben von Individualität im öffentlchen Raum oder eben über das Nichtausleben"
diskutieren, über Möglichkeiten des Auslebenwollens und des Auslebenkönnens
sowie über deren Beschränkungen mittels politisch-moralischer Vorgaben einhergehend mit Sanktionsandrohungen.
(MdB Bosbach praktiziert derzeit für jedermann erkennbar, wie lustvoll es sein kann, indivuelle Souveränität im öffentlichen Raum auszuleben und zu genießen).
Letzteres bringt mich zu der Frage, ob nicht zunehmend immer weniger Menschen das Privileg haben , z.B. aufgrund ihrer fnanziellen, beuflichen, politischen Abnsicherung und ohne diese zu gefähden, das ausleben können, was für sie und nur für sie "genussvolles Ausleben indivueller Bedürfnisse" ist.Das wäre dann eine denkbare Antwort auf die von mir imn vorletzten Absage gestellte Frage zu den Gründen meiner "Mutmaßungen".
Wer eckt noch an? Wer ist anders?
-Schule, Uni, Karriere.
-Schule, Fußball, jedes Interview möglichst mit den gleichen Floskeln beantworten, bloss nicht anecken
-In der Politik schauen, was die allgemeine Meinung ist, sich nicht festlegen. Notfalls die 180 Grad Wendung, wenn die Volksmeinung sich ändern könnte
– Beim Fußball Fans zündeln lassen, statt gegen sie vorzugehen.
Ist die Welt so komplex, dass man einfach Auseindersetzungen scheut? Wo bleibt bspw. die kollektive Erziehung der Kinder der Vergangenheit, wo der Nachbar sich auch um die Kinder der Umgebung gesorgt hat?
Wir wollen keinen Ärger, schwimmen im Strom und folgen dem, was als Zeitgeist gesagt wird.
Natürlich brauchen wir die Gemütlichkeit und Wärme in der Wohnung als Rückzugsraum. Tiere schlafen/träumen oft den ganzen Tag.
Sind wir vielleicht immer mehr mit Aufgaben/Lebensweisen überfordert, die unser Körper gar nicht bewältigen kann? Machen wir es uns deshalb so einfach in vielen Bereichen, um weiteren Stress zu vermeiden?
Freiheit ist fuer viele kein Genuss, weil ihnen ihr Preis zu noch ist.