Fremder Osten: Deutschland zwischen Wiedertrennung und Putinland?


Ein Propaganda­plakat in Dresden beschwört 1985 die militärische Partnerschaft zwischen der DDR und der UdSSR Foto: Hajotthu Lizenz: CC BY-SA 3.0


Nach 34 Jahren ist klar: Ostdeutschland entfernt sich politisch und mental vom Westen. Dieser Prozess hat bereits vor Jahrzehnten begonnen. Wie soll der Westen auf den fremden Osten reagieren?

Als am 9. November 1989 die Nachricht vom Fall der Mauer den damals im Bonner Wasserwerk tagenden Bundestag erreichte, sagte Willy Brandt (SPD) einen Satz, der in die Geschichte eingehen sollte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Brandt, der ehemalige Bürgermeister Westberlins, der es als Kanzler mit den Ostverträgen schaffte, die Mauer etwas durchlässiger zu machen und Brücken zwischen Ost und West zu bauen, sollte sich irren.

35 Jahre nach dem Fall der Mauer und 34 Jahre, nachdem die DDR der Bundesrepublik beitrat, wird immer deutlicher, dass die beiden Staaten nur formal zu einem wurden. Die Bevölkerung des Ostens steht heute dem Westen ablehnender gegenüber als damals, und das wird bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg deutlich. In allen drei Ländern hat die rechtsradikale AfD zum Teil gute Aussichten, stärkste Partei zu werden. In Sachsen und Thüringen zeichnet sich ab, dass Regierungen ohne die AfD nur mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) möglich sein werden.

Doch so schlimm diese Aussichten auch sind, sie sind nur ein Teil eines deutlich größeren Bildes. Seit 1990 haben Parteien an Zustimmung gewonnen, die den Westen und seine Werteordnung ablehnen und die Westbindung Deutschlands auflösen wollen, zu der die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO und der Europäischen Union ebenso zählt wie die militärische Unterstützung der Ukraine. Ob die SED, die ihren Namen immer wieder wechselte, NPD, DVU, AfD und neuerdings das BSW: So ideologisch all diese Parteien auf den ersten Blick sind und waren, so sehr eint sie die Ablehnung des politischen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik und des Westens. Nie war der Osten dem Westen so nah wie 1990, als die Bundesländer noch in der alten DDR entstanden.

Bei den Europawahlen zeigte sich die politische Spaltung Deutschlands Quelle: X

Mit fast jeder der folgenden Wahlen nahm der Abstand zu, und es war egal, wie sich der Osten entwickelte. Das wird deutlich, wenn man sich anschaut, wie sich das Wählerverhalten in den drei Bundesländern veränderte, in denen in diesem Jahr gewählt wird. 1990 hieß der Bundeskanzler Helmut Kohl. Die DDR war nach zwölf Jahren Nationalsozialismus, vier Jahren sowjetischer Besatzung und 40 Jahren Sozialismus ein ruiniertes Land. Die Städte waren verfallen, es herrschte Wohnungsnot, die Wirtschaft war nicht wettbewerbsfähig und stand kurz davor, zusammenzubrechen. Der Staat war mit 49 Milliarden DM verschuldet. Die Umwelt war verseucht, die Krankenversorgung von Mangel geprägt. Das Land war am Ende. Der Westen begann mit dem Aufbau Ost. Bis heute sind um die zwei Billionen Euro in die ehemalige Ostzone geflossen. Noch heute werden hohe, zweistellige Milliardenbeträge auf die andere Seite der Elbe überwiesen. Was damals viele im Westen wunderte, war, wie viele 1990 im Osten trotzdem für die SED stimmten, die sich gerade in PDS umbenannt hatte: 9,7 Prozent erreichte die PDS bei den Landtagswahlen in Thüringen, in Sachsen waren es 10,2 Prozent und in Brandenburg 13,4 Prozent.

Der Aufbau Ost lief an. In den 90er Jahren begann der Wiederaufbau der Innenstädte, Plattenbauten wurden renoviert. Viele konnten sich nun ein richtiges Auto aus dem Westen leisten, die einstmals heißbegehrten Trabants, bis November 1989 die Automodelle mit den weltweit wahrscheinlich längsten Lieferzeiten, wanderten auf die Schrottplätze. Die Arbeitslosigkeit war zwar massiv gestiegen, die Kaufkraft jedoch auch: Selbst Sozialhilfeempfänger konnten sich in der Regel mehr leisten als Facharbeiter zu DDR-Zeiten. Die von Helmut Kohl versprochenen „Blühenden Landschaften“ kamen später als vom damaligen Kanzler vorausgesagt, aber man konnte sehen, dass im Osten etwas in Bewegung geraten war, dass das Land sich entwickelte. Der Westen ächzte unter der Belastung, und der Osten setzte sich politisch von ihm ab: 1994 stimmten 16,5 Prozent in Sachsen für die umbenannte SED, in Thüringen waren es 16,6 Prozent und in Brandenburg 18,7 Prozent. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wuchs die Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland, im Osten sogar auf über 17 Prozent. Der Wegfall vieler maroder Betriebe forderte seinen Preis.

Aber in vielen Städten sah man Fortschritte. VEBA, DEA sowie ein Konsortium aus Agip, Elf und Total investierten in die Raffinerie in Schwedt, im von Opel neu gebauten Werk in Eisenach lief 1999 das millionste Auto vom Band. Im selben Jahr wurde in Zwickau der einmillionste Volkswagen gebaut. Die Hauptstadt wurde von Bonn nach Berlin verlegt, was der Stadt und ihrem Umland viele neue Jobs brachte. Ab 2003 nahm die Zahl der Arbeitslosen ab. Im Westen wie im Osten fanden immer mehr Menschen nun einen Job. Von über 18 Prozent im Jahr ging die Arbeitslosenquote im Osten bis 2008 auf 13 Prozent zurück. In den kommenden zehn Jahren fiel sie steil ab. 2019 waren nur noch gut sechs Prozent ohne Arbeit. Die meisten ostdeutschen Städte sahen mittlerweile besser aus als die im Westen. Ob Schienen oder Straßen, Besucher aus dem Westen bestaunten die Infrastruktur des Ostens. Schulen, Universitäten – vieles war nun neuer und besser als in den alten Ländern. Doch trotz aller Erfolge stieg nach einer Unterbrechung 2009 die Zahl derer, die antiwestliche Parteien wählten. 2014, ein Jahr vor Merkels Grenzöffnung, bekamen AfD und die Linke, wie sich die SED mittlerweile nannte, bei der Landtagswahl in Sachsen 28,6 Prozent, in Brandenburg über 30 Prozent und in Thüringen 38,8 Prozent.

2019 sollte Thüringen das erste Bundesland in der Geschichte der Bundesrepublik werden, in dem AfD und Linke, zwei antiwestliche Parteien, mehr Sitze im Landtag errangen als die demokratischen Parteien. Egal, ob die Kanzler Kohl, Schröder oder Merkel hießen, unabhängig von der wirtschaftlichen Lage, den Summen, die aus dem Westen in die ehemalige DDR flossen, radikalisierten sich die Ostdeutschen, ihre Ablehnung gegenüber der alten Bundesrepublik wurde größer. Dazu passt eine Studie, über die im vergangenen Jahr der MDR berichtete und die zu dem Ergebnis kam, dass viele Menschen in Ostdeutschland einen „Hang zur Verschwörungsmentalität“ hätten und zwei Drittel der Befragten sich nach autoritären Strukturen wie in der DDR sehnen.

Die Grafiken zeigen, wie sehr sich die politische Lage in den Landtagen Thüringens, Sachsens und Brandenburgs von der in den Vergleichsländern NRW, Niedersachsen und Bayern zunehmend unterschied. Wir haben für die Grafiken in sechs Bundesländern die Prozentzahlen aller Parteien addiert, die bei den Landtagswahlen über die Fünfprozenthürde kamen. Zu den westlichen Parteien haben wir CDU, SPD, CSU, Grüne, FDP, Piraten (in NRW) und die Freien Wähler in Bayern und Brandenburg gezählt. AfD, BSW, Linke, DVU (Brandenburg) und NPD (Sachsen) fassten wir als antiwestliche Parteien zusammen. Die Grafiken hat Roland W. Waniek erstellt. Die drei ostdeutschen Bundesländer sind die, in denen im September Landtagswahlen stattfinden. Bayern wurde ausgewählt, weil es wie Sachsen ein Freistaat ist und es in beiden Ländern eine lange Tradition einer konservativ-demokratischen Regierung gibt. Niedersachsen grenzt mit Bremen und Hamburg an zwei linksliberale Großstädte und ist in diesen Regionen Teil ihres Umlandes. NRW ist das einwohnerreichste Bundesland Deutschlands.

 

 

Wie viele ehemalige Ostblockstaaten verlor auch die ehemalige DDR nach dem Zusammenbruch des Sozialismus Einwohner. „Durch Wanderungsverluste“, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung, „haben die ostdeutschen Bundesländer im deutschen Einigungsprozess rund 1,7 Mio. Bürger verloren (die Zahl ergibt sich als Summe der Wanderungssalden 1989-2017). Andere Schätzungen liegen bei 1,3 Mio. oder 1,9 Mio. (Zeit 2019, Garton Ash 2019). Gut zehn Prozent weniger Menschen als 1990 wohnen heute in Ostdeutschland. In anderen einstigen Ostblockstaaten wie Bulgarien (- 21 Prozent) oder Litauen (-27 Prozent) war die Zahl der Abwanderer größer. Von der Gründung 1949 bis in den Juni 1990 verließen allerdings schon über 3,8 Millionen Menschen die DDR.“ Ende 1945 lebten im Osten 16,2 Millionen Menschen. Heute sind es nur noch 12,6 Millionen. Der Eindruck vieler Besucher aus dem Westen, durch ein leeres Land zu fahren, ist also nicht falsch. Der Osten ist heute vor allem ein Land der Männer, überaltert, seine Bevölkerung ist unterdurchschnittlich qualifiziert. Viele, die etwas aus ihrem Leben machen wollten, vor allem junge Frauen, haben den Osten verlassen. Bonjour Ostresse. Unter denen, die blieben, hat sich die Ablehnung des Westens immer weiter verfestigt.

Björn Höcke auf DDR-Moped Simson Foto: AfD Thüringen/Björn Höcke Lizenz: Copyright

Der Soziologe Steffen Mau stellt in seinem Buch „Ungleich vereint“ fest: „Ostdeutschland mangelt es bis heute an einem robusten sozialmoralischen und sozialstrukturellen Unterbau, der Toleranz, ein emphatisches Demokratieverständnis und ein Bekenntnis zu den Prinzipien der liberalen Ordnung tragen könnte.“ Mau zitiert den »Sachsen-Monitor 2023«, einer repräsentativen Umfrage im Freistaat. Nach dem misstrauen 89 Prozent der Sachsen den Parteien, 85 Prozent den Medien und 44 Prozent den Gerichten. Und das ist keine Frage des Alters: Eine Ost-Identität mit all ihren politischen Folgen ist bei der jüngeren Generation stärker vertreten als bei den Älteren. Im Westen gibt es nichts Vergleichbares. Mau hält die Ostdeutschen nicht für undemokratisch. Nur hat das, was viele Ostdeutsche für demokratisch halten, nicht viel mit der demokratischen Kultur des Westens zu tun, die sich in den vergangenen Jahrhunderten herausgebildet hat. Gewaltenteilung und Rechtsstaat sind einem großen Teil von ihnen fremd. Mau schreibt: „Während die Bejahung der Demokratie als Idee im Osten recht stark ist (über 90 Prozent), rauschen die Werte in den Keller, wenn man fragt, ob die Demokratie in der Bundesrepublik gegenwärtig gut funktioniert (nur noch knapp über 40 Prozent Zustimmung).“ Viele hätten ein ganz eigenes Politikverständnis ausgebildet, bei dem Vorstellungen des ursprünglichen und direkten »Volkswillens« im Zentrum stehen: „Dieser (nur) imaginierte Gesamtwille soll die Politik bestimmen, nicht das Parteienkarussell samt den ihm eigenen Formen der Personalauswahl, der innerparteilichen Austarierung von Interessen und der strategischen Positionierung. Politiker und Politikerinnen sollen das tun, was die Bevölkerung verlangt. Mit der Einbeziehung anderer Aspekte – etwa verfassungsrechtlicher Selbstbindungen oder organisierter Interessen – werde der »Wille des Volkes« verfälscht.“

Die Demokratisierung des Ostens nach westlichen Maßstäben ist gescheitert. Die Entfremdung zwischen den beiden Landesteilen nimmt zu und sie ist, realistisch betrachtet, auch nicht rückgängig zu machen. In der Vergangenheit haben weder mit Billionen aus dem Westen erkaufte wirtschaftliche Erfolge noch Reise- oder Meinungsfreiheit etwas daran geändert, dass der Osten sich vom Westen entfernt. Geben sich Politiker Mühe, den Osten zu mehr Wohlstand zu verhelfen, bringt ihnen das keine politische Rendite: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wird wie alle Westpolitiker in Sachsen-Anhalt abgelehnt, egal ob ihm mit Milliardensubventionen die Ansiedlung der Intel-Chipfabrik gelingt oder nicht. Zumal dort auch die Gefahren für ausländische Arbeitnehmer geringer wären, die im Osten nicht gewollt sind.

Nach der aktuellsten Umfrage würden sich bei einer Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 45 Prozent der Wähler für die Westenhasser von AfD und BSW entscheiden. Mit CDU und SPD kämen nur zwei westliche Parteien in den Landtag. Zusammen kämen sie auf gerade einmal 36 Prozent. Es würde sich für Habeck und jeden anderen Politiker mehr lohnen, sich für Niedersachsen, Hessen oder jedes andere westdeutsche Bundesland zu engagieren. Dort wären auch die Gefahren für ausländische Arbeitnehmer geringer, die im Osten nicht gewollt sind. Für den britischen Historiker James Hawes ist die Entwicklung Deutschlands seit 1990 keine Überraschung. In seinem Buch „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ schreibt er: „Die Wunschvorstellung von 1990, dass das ehemalige Ostdeutschland bald wie Westdeutschland werde, muss aufgegeben werden. Ostdeutschland wird auf lange Zeit nicht wie Westdeutschland sein, weil es noch nie so war wie dieses.

Detlef Pollack schreibt in der FAZ, die Gründe für den Erfolg der AfD seien „ein Dreiersyndrom aus Abwehr des Fremden, wahrgenommener Nichtanerkennung und Misstrauen gegenüber Institutionen, das entscheidend für die Ausbildung rechtspopulistischer Neigungen ist.“

Nur selten erwähnt werden die Folgen von Nationalsozialismus und Sozialismus. Zwischen 1933 und 1990 lebten die Menschen im Osten in unterschiedlichen Diktaturen. In diesen Jahrzehnten wurden nahezu alle bürgerlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen zerschlagen. Die besten Köpfe flohen, vor allem unter den Nazis wurden Hunderttausende, darunter der größte Teil der jüdischen Bürger, ermordet. Nur wenige leisteten Widerstand. Den Aufstand gegen die SED-Herrschaft trugen Minderheiten, die auch von ihren Mitbürgern verachtet wurden. Die heutigen Bewohner des Ostens sind die Kinder dieser Entwicklung und ein immer größer werdender Teil scheint sogar stolz auf sie zu sein.

Für Hawes hingegen liegen die Wurzeln der Andersartigkeit des Ostens nicht nur in den Jahrzehnten begründet, in denen dort der Nationalsozialismus, sowjetische Besatzungstruppen und die SED das Leben prägten. Er blickt weiter zurück: „Seit 100 n. Chr. gehörten das südliche und westliche Deutschland zu Westeuropa. Erst im Jahr 1525 erschien ein neues, nicht westliches Deutschland auf der Bildfläche: Preußen. Die Westdeutschen indes waren alles andere als unverbesserliche Kriegstreiber – oder geborene Staatsvergötzer – und waren deshalb nicht in der Lage, sich gegen diesen Parvenü zu vereinen. Ihre Länder wurden immer mehr zur Kampfarena und zu potenziellen Kolonien ihrer stärkeren Nachbarn. Dann wurde Preußen 1814 – zu einer Zeit, da es nicht mehr als ein Klientelstaat Russlands war – durch einen folgenschweren Akt der Dummheit erst richtig stark gemacht. Großbritannien wollte, ganz wie die Trumpisten unserer Tage, dass Europa ein Durcheinander konkurrierender Staaten bliebe, und schenkte Preußen deshalb eine moderne Industrieregion am Rhein. Im Jahr 1866 wurden Süd- und Westdeutschland auf dem Schlachtfeld besiegt und kurze Zeit später absorbiert – und zwar vom fatalerweise hochgezüchteten Preußen, welches nach den üblichen Standards europäischer Nationalität – Geschichte, Geografie, politische Strukturen, Religion – vollkommen fremd war. Dies war die große Deformation. Von nun an speisten der Wohlstand, die Industrie und die Demografie Süd- und Westdeutschlands den Ehrgeiz Preußens. Dabei hatte Preußen stets ein Hauptziel vor Augen: die Hegemonie über Polen, die baltischen Länder und Nordmitteleuropa, wenn möglich im Verbund mit Russland, oder, wenn nötig, durch ein finales Kräftemessen mit dem Riesenreich im Osten. Der tausendjährige Kampf endete 1945 mit der blutigen Auslöschung Preußens, bis hin zu seinem Namen. Westdeutschland war endlich frei. Im Jahre 1949 fand es schließlich seine ihm entsprechende politische Gestalt.“

Und diese politische Gestalt war für ihn die Bundesrepublik, wie sie bis zum 3. Oktober 1990 existierte, bevor ihr die DDR beitrat. Hawes fordert die Politik auf, den Osten zu ignorieren. Er sei egal. Es käme nur auf den Westen an: „Die Gefahr, dass die politischen Tendenzen Sachsens in den Westen übergreifen, ist ebenso gering wie die, dass New York den Menschen erlaubt, Sturmgewehre offen mit sich zu führen.“ Hawes schrieb sein Buch 2017. Seitdem ist viel geschehen. Wir leben in einer anderen Zeit. Mit Israel wurde am 7. Oktober vergangenen Jahres eine westliche Demokratie angegriffen. Die Ukraine, die sich auf den Weg gemacht hat, eine solche zu werden, steht seit 2014 im Krieg mit Russland, den Putin mit dem Einmarsch im Februar 2022 eskalieren ließ. Es sind AfD, BSW und die Linken, die sich als Helfershelfer des Kreml erweisen und bereits bereit sind, die Ukraine zu opfern. Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, sagte im Interview mit der Welt: „Das BSW befeuert mit seiner eher populistischen Positionierung den Israelhass in Deutschland.“ Dazu passt, dass die Partei Waffenlieferungen an Israel ablehnt. Immer mehr Landesverbände der AfD gelten dem Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem.

Sarah Wagenknecht Foto: Roland W. Waniek

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat im Spiegel den Ernst der Lage erkannt: „Seit Jahren erleben wir einen sich zuspitzenden Kampf zwischen Verteidigern der bundesdeutschen Grundordnung und scharfen Kritikern von links wie rechts, die ebendiese Grundordnung überwinden wollen. Ostdeutschland spielt hierbei seit rund 25 Jahren eine Vorreiterrolle. Erst die SED-PDS-Linkspartei, dann die AfD und nun noch das BSW – antiwestliche, antifreiheitliche Parteien hatten hier immer einen besonders hohen Zulauf. Zwei Drittel der Bürger, die in Ostdeutschland leben, können sich vorstellen, Extremisten mit autoritären Staatsvorstellungen zu wählen. Die repräsentative Demokratie ist gefährdet wie nie seit 1949. Es geht um Freiheit. Um nichts weniger. Heute leben wir in einer anderen Zeit.“ In ihrem Überlebenskampf im Osten übernehmen auch demokratische Parteien wie die SPD und die CDU zunehmend die antiwestlichen Parolen von AfD, BSW und Linken, um bei der Wählerschaft zu punkten.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der schon zu Beginn des Ukrainekriegs in völliger Selbstüberschätzung versuchte, in Moskau für den Frieden zu werben und von Putin nicht einmal empfangen wurde, will eine Volksabstimmung über die Stationierung von US-Raketen in Deutschland. Ginge es nach ihm, würde auch weniger Geld in die Ukraine geschickt. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) will bei Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland helfen, die Putin gar nicht führen will, und auch Thüringens CDU-Spitzenkandidat Voigt fordert mehr Diplomatie im Ukrainekrieg. Der Freiheitskampf der Ukraine ist im Osten eines der großen Wahlkampfthemen und die Bewohner der ehemaligen Ostzone stehen zu einem großen Teil dabei auf Putins Seite. Sahra Wagenknecht will vom Abrücken der Unterstützung der Ukraine und der Stationierung der US-Raketen die Beteiligung ihrer Partei an Landesregierungen abhängig machen. Ihr Bochumer Sidekick Sevim Dagdelen hetzt indes wie eh und je gegen den Westen und nennt Deutschland einen Vasallenstaat der USA. Wollen Union oder SPD an Regierungen im Osten beteiligt sein, wird das in Zukunft in den meisten Fällen nur über eine Zusammenarbeit mit der Putin-Partei BSW sein, da beide nicht mit der radikalen AfD kooperieren wollen. Was die Ablehnung des Westens betrifft, passt zwischen AfD und BSW allerdings kein Rubelschein.

Es besteht die Gefahr, dass der Osten Westdeutschland und später vielleicht sogar die ganze EU und die NATO beschädigt. Deutschlands Zugehörigkeit zum Westen ist fragil. Großbritannien, Frankreich und die USA schufen den Westen. Die alte Bundesrepublik wurde von Adenauer, für den der Osten der Hort des preußischen Militarismus war und eigentlich schon ein Teil Asiens, in den Westen geführt. Die Westorientierung war Teil eines Zivilisierungsprozesses in der Zeit nach dem Nationalsozialismus und tatsächlich gelang es, dass die Bundesrepublik sich nach und nach als Teil der westlichen Staatengemeinschaft sah. Das war ein schwieriger Prozess, in dessen Verlauf viele Widerstände, auch in der alten Bundesrepublik, zu überwinden waren. Manche, wie ein tief sitzender Antiamerikanismus, den viele Linke und Rechte teilen, waren auch in der alten Bundesrepublik immer präsent und haben sich bis heute gehalten. Der Osten Deutschlands gehörte, wie Hawes richtig schreibt, nie zum Westen. Wenn er nun an Einfluss gewinnt, könnte Deutschland wieder in die Rolle zurückfallen, die es unter dem Einfluss Preußens jahrhundertelang in Europa hatte: Als instabiler Koloss, der zwischen West und Ost laviert. Wenn sich eine solche Entwicklung abzeichnet, werden bei heutigen Partnern wie Polen, Frankreich, Großbritannien und vielen anderen Staaten schnell alte Ängste wach werden und das zu Recht: Ein Deutschland, das nicht mehr fest in den Westen eingebunden ist, ist eine Gefahr für die Stabilität des Kontinents, vor allem in einer Zeit, in der der russische Imperialismus immer aggressiver wird. Ein unzuverlässiges Deutschland, das auf Distanz zu NATO und EU geht, könnte die Bündnisse sprengen. Das ist die größte Gefahr, die von einer Entwicklung ausgeht, die mit Siegen der AfD und des BSW bei den Landtagswahlen in Thüringen ihren Anfang nehmen könnte. Die Frage, warum sich immer größere Teile der Bevölkerung im Osten radikalisiert haben, ist wichtig, aber egal wie die Antwort ausfallen wird, ändert das nichts an der Tatsache, dass das geschehen ist und nicht mehr rückgängig zu machen ist. Der Westen muss sich die Frage stellen, wie er sich verhält.

Im Westen leben 68 Millionen Menschen, im Osten sind es nur knapp über zwölf Millionen. Der Westen ist wirtschaftlich stärker, auch wenn er unter dem Beitritt der DDR gelitten hat und zugunsten des Ostens seine Infrastruktur vernachlässigte. Wenn man Kowalczuk folgt, und dafür gibt es gute Gründe, geht es ab jetzt um die Verteidigung von Demokratie und Freiheit. Dabei sollte man ohne Tabus nach Lösungen suchen. Der Osten ist verloren, damit sollte man sich abfinden. Der Glaube, ihn mit Geld, Sozialarbeitern oder, wie Mau es vorschlägt, Ossi-Quoten und „neuen demokratischen Formen“ wie Bürgerräten doch noch zu demokratisieren, ist naiv. Mau sieht nach den Wahlen im September neue Konflikte kommen: „Angesichts der anstehenden Wahlen steht zu befürchten, dass sich die Spannungen tatsächlich verstärken könnten und es zu mentalen Entfremdungen kommt. Wird die AfD in der Region dauerhaft die mit Abstand stärkste Kraft, dürfte sich ein Image des »braunen Ostens« einprägen. In der Folge könnten Menschen in den westlichen Bundesländern (und migrantische Gruppen sowieso) Ostdeutschland dann wirklich als different und fremd und das Ost-West-Verhältnis als zunehmend konfliktreich ansehen, ungeachtet des Umstands, dass die AfD ein gesamtdeutsches Phänomen darstellt.“ BSW und AfD sind tatsächlich gesamtdeutsche Phänomene, nur sind beide im Osten deutlich erfolgreicher als im Westen und so war es auch schon bei der Linken. Der Osten ist nicht nur braun, er ist antiwestlich in allen politischen Farben. Mit dem Ampel-Chaos oder Merkels Migrationspolitik lässt sich diese Entwicklung nur teilweise erklären. Ihre Wurzeln liegen tiefer.

Correctiv-Reporter Marcus Bensmann schrieb angesichts steigender Umfragewerte für AfD und BSW vor wenigen Wochen auf X: „Dann sollten wir lieber über eine Trennung nachdenken. Es kann nicht sein, dass eine Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger, die nur 1/6 der Gesamtbevölkerung stellen, mit der Westbindung das Erfolgsmodell der Bundesrepublik zerstören. Die Tschechoslowakei hat es vorgemacht.“ Den Tweet löschte er kurze Zeit später. Ihm schlug eine Welle der Empörung entgegen, allerdings auch Zustimmung: Redet man mit Menschen in Westdeutschland, sagen viele, dass sie zwar nicht daran glauben, dass die beiden Teile Deutschlands sich wieder trennen werden, aber es sich wünschen würden. Mit jeder Stimme für AfD und BSW wird der Osten dem Westen fremder und die immer schon bei vielen vorhandenen Ressentiments gegen Ostdeutsche werden nun offener geäußert. Eine Wiedertrennung ist zurzeit rechtlich nicht möglich und mindestens so unvorstellbar, wie es die Wiedervereinigung Mitte der 80er Jahre war. Um jeden Preis muss jedoch verhindert werden, dass aus Deutschland Putinland wird, es erst sich selbst und ganz Europa destabilisiert und zu einem Land wird, in dem der Kreml über seine Vasallen die Politik indirekt steuert.

Deshalb darf auf keinen Fall zugelassen werden, dass BSW und AfD über ihre Erfolge in den Ländern Einfluss auf die Bundespolitik und die sie tragenden demokratischen Parteien nehmen. Statt ihnen hinterherzulaufen, hätten deren Politiker im Wahlkampf für die Westintegration und die Außenpolitik der Republik streiten müssen. Dass sie es, ob aus Opportunismus, Kalkül oder Überzeugung, im Osten nicht getan haben, passt ins Bild des nie in der Bundesrepublik angekommenen „Ostelbien“, wie Hawes die Region nennt. Und natürlich sind weder BSW noch AfD Partner für Demokraten. Der Fehler, den SPD und Grüne mit der Linkspartei gemacht haben, als sie mit ihr Koalitionen eingingen, darf nicht wiederholt werden. Die Bürger im Osten sind für die Wahlergebnisse in ihren Ländern verantwortlich. Sie bestimmen die Zusammensetzung der Landtage. Dass demokratische Parteien ihre Identität verleugnen, um eine Regierung zu stellen, steht allerdings außerhalb ihrer Macht. Der Westen muss aus dem politischen Scheitern der Wiedervereinigung Konsequenzen ziehen. Die Debatte wird spätestens am 1. September um 18.00 Uhr beginnen.

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