Das Spiel geht so: Man stellt laut und publikumswirksam eine Forderung, die überaus absurd klingt. Sie ist so abwegig, daß jeder mit gesundem Menschenverstand sie ablehnen muß. Dadurch wird die größtmögliche Aufmerksamkeit erzielt, die crowd ist kurz vor der Weißglut. Ein, zwei, drei Tage herrschen Aufruhr und Empörung; trockene Analysen, genervte Kommentierungen wie gereizte Schmähungen sind auf allen Kanälen gratis und franko zu haben.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Der Auslöser der Protestwelle oder sein Umfeld schwächen nach dem Motto „alles nicht so gemeint“ ab. Oder sie machen einen generösen Alternativvorschlag, mit dem ihrer veröffentlichten Ansicht nach „alle leben können“. (Die Anwendung der zweiten Spielart ist auch zu einem späteren Zeitpunkt denkbar.)
Die Erregung ebbt ein wenig ab. Die nun erreichte Phase wird gern als Diskussion oder Dialog bezeichnet. Weitere Spieler treten auf: Die Opposition gibt ihren Senf dazu, Bürger außerhalb des Netzes werden aufmerksam, und die Medien liefern die passende Untergrundwarmwasserbeleuchtung in Form von Talkshows und Umfragen; ein Grund, weshalb die umstrittenen Äußerungen unbedingt vor dem Wochenende zu publizieren sind.
Die öffentliche Erregung nimmt wieder etwas zu, weil noch nicht alle alles gesagt haben. Dabei hat sich – sehr kluges Kalkül – die Aufmerksamkeit ganz unmerklich bereits vom eigentlichen Anlass ab- und dem Nebenschauplatz „öffentliche Meinung“ zugewandt. Jetzt werden gerne Worte wie Demokratie und Meinungsfreiheit benutzt, dies von jedem in seiner persönlichen, durchaus unterschiedlich belegten Bedeutung.
Um nun endgültig die Wogen zu glätten, werden einige politische Beschlüsse gefasst. Sie bestehen in viel bedrucktem Papier, das in später tagenden Ausschüssen als Verhandlungsgrundlage dient. Der Clou: Diese Verhandlungsmasse enthält bereits die Forderungen, um die es von Anfang an tatsächlich ging (gemeinhin als Eckpfeiler bezeichnet). Nach in Hinterzimmern stattgehabtem harten Ringen werden sie in den gesetzgebenden Versammlungen verabschiedet. Das geschieht meist, schon wegen des zeitlichen Abstands, sang- und klanglos. (Bei grundlegenden Gesetzesänderungen wie Eingriffe in die Grundrechte wird diese Variante allerdings grundsätzlich benutzt.)
Wendet sich wider Erwarten das öffentliche Augenmerk doch noch einmal der Angelegenheit zu (und nur im Fall von Änderungen geringerer Tragweite), werden die erzielten Erfolge als großartige Errungenschaften und Fortschritt allerersten Grades gefeiert; überdurchschnittlich oft kommen dabei die Vokabeln Freiheit und Sicherheit vor.
Finale. Die gesetzgebenden Spielteilnehmer sind auf der ganzen Linie zufrieden und feiern, je nachdem, offen oder heimlich. Im Netz rumort es unter Umständen hier und da noch ein bißchen, aber das ist zu vernachlässigen; überdies gibt es mittlerweile reichlich neues Spielzeug. Der normale Bürger hat gar nichts gemerkt.
Der Beitrag erscheint als Crosspost von … Kaffee bei mir?.