Wenn sich die Fußball-Berichterstattung via Print, Hörfunk oder TV dem Ruhrgebiet annimmt, sprudeln die Klischees vom „Malocher-Fußball“ gerade so. Blumige Sätze wie „Hier wird Fußball noch gearbeitet“ oder „Das Publikum will die Spieler vor allem kämpfen sehen“ reihen sich aneinander. Mit der Wirklichkeit hat das oft nichts zu tun. Von unserem Gastautor Ludger Claßen.
Das berühmte Zitat des 2009 verstorbenen Rolf Rüssmann „Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt“ gilt dabei fast als regionales Glaubensbekenntnis. In der gesamten Fußballrepublik gilt die Gleichung: „Ruhrgebiet gleich Arbeit gleich Fußball“. Die industrielle Arbeitswelt, so die gängige Auffassung, hat das Ruhrgebiet und den Fußball geformt und beide hervorgebracht. Die Geschichten aus der Geschichte des Revier-Fußballs handeln immer davon, wie der SPIEGEL schrieb, dass „Fußball und Arbeit noch Brüder waren“. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Gleichung „Arbeit = Fußball = Ruhrgebiet“ historisch nur teilweise anzuwenden ist und gerade für das erste Viertel des 20. Jahrhunderts nicht zutrifft.
Bürgerliche Fußlümmelei
„Schalke um die Jahrhundertwende: ein Kumpel-Dorf. Rund um die Zeche Consolidation als ‚Brötchengeber‘ kleine, in die Brachwiesen hingeduckte Siedlungshäuser, schmucke Gärten dahinter mit Stallgebäude. Qualm und Ruß in der Luft. Mittagsschicht. Die Frauen mit dem Henkelmann in der Hand – Essen für die Malocher unter Tage. Kohleabbau in den fetten Flö-zen fast 1.000 Meter unter der Erdoberfläche. Wer nicht im Pütt schuftete, malochte am Hochofen oder an der Walzstraße. Das war Heimat. Identität. Fußball – das war ein Stück ‚wirkliches‘ Leben. Das gehörte zum täglichen Einmaleins wie der Qualm aus Schalker Schloten“, entwarfen Hans-Josef Justen und Jörg Loskill in ihrem Buch „Anstoß. Fußball im Ruhrgebiet“ (1985) das Entstehen des Traditionsvereins im Revier als sozial-romantisches Bild. Nur: Auch an Ruhr und Emscher waren es um 1900 vor allem junge Bürgersöhne der Höheren Lehranstalten, Angestellte und Akademiker, die den als „englische Krankheit“ und „Fußlümmelei“ diffamierten neuen Sport huldigten. Der Wittener FC, 1892 aus dem Real-Gymnasium entstanden, ist der älteste Fußballclub der Region. In Herne gründete sich im Jahr 1904 ein distinguierter „Club“, dessen erster Versammlungsort der „Rittersaal eines Schlos-ses“ war. Mit stolzer Brust und in roten Schärpen auf weißer Bluse präsentierten sich die Fußballer des „S.C. Westfalia Herne“ in voller Fußballausrüstung dem Fotografen.
Fußball wurde vor allem zu einem Teil der Angestelltenkultur, und man versuchte, in Habitus, Kleidung und mit Vereinsnamen wie „Borussia“ oder „Westfalia“ die den Angestellten ver-schlossene Welt des studentischen Verbindungswesens zu imitieren. Bis in die 1920er Jahre dominierten im Ruhrgebiet drei Vereine, in denen Arbeiter bestenfalls am Rande eine Rolle spielten: der Duisburger Spielverein (bis 1927 zehnmal Westdeutscher Meister), ETB Schwarz-Weiß Essen und der Duisburger Sport-Club Preußen. Die ersten Hochburgen des Fußballs waren denn auch Dienstleistungszentren wie Berlin, Hamburg, Hannover, Leipzig, Dresden, Düsseldorf, Köln und Frankfurt.
Der Durchbruch zum Massensport
Aber wie entwickelte sich nun der Fußball von der aristokratisch-bürgerlichen Exklusivität hin zum Massenphänomen? Laut einer viel zitierten Studie des Historikers Siegfried Gehr-mann („Fußball – Vereine – Politik. Zur Sportgeschichte des Reviers“, Essen 1988) erklärt sich der Siegeszug des Fußball in der Arbeiterschaft aus einer Veränderungen in der Arbeits-welt: dem Achtstundentag und einem daraus entstehenden ausreichenden Freizeitbudget. Tatsächlich wurde die neue Arbeitszeitregelung jedoch erst 1923 eingeführt, der Siegeszug des Fußballs hingegen setzte direkt nach Ende des Ersten Weltkriegs ein. 1913 hatte der DFB über 160.000 Mitglieder, die sich 1920 auf über 756.000 fast verfünffachten. Auch die Zuschauerzahlen explodierten: Vor 1914 fanden Schlagerspiele vor hunderten von Zuschauern statt, nach 1918 kamen nun zehntausende. Tatsächlich war die Initialzündung für den Siegeszug des Fußballs der Erste Weltkrieg. Besonders folgenreich für seine massenhafte Verbreitung war ein Militär-Turnerlass, der 1910 den Sport in den Ausbildungsplänen der Armee verankerte.
„Die Erfahrung, dass das Fußballspiel bei weitem das beste Bewegungsspiel für die Mannschaften ist, habe ich überall bestätigt gefunden. Neben den Vorzügen, die überhaupt aus dem Sport für Körper und Geist erwachsen, Gelenkigmachen und Kräftigen des Körpers, Steigern der Entschlussfähigkeit und Energie, Konzentrieren der Gedanken auf ein Ziel, hat der Fußballsport noch den großen Vorzug, der gerade in militärischer Hinsicht sehr schätzenswert ist: er zeigt dem Mann die Notwendigkeit der Unterordnung und den Erfolg der Zusammenarbeit“, heißt es in einer Denkschrift des Admiral von Prittwitz-Gaffron. Diese Herkunft kann der Fußball bis heute nicht verleugnen, ist doch seine Sprache von militärischen Begriffen ge-prägt: „Schuss“, „Flanke“, „Deckung“, „Sturm“, „Flügel“, „Feld“, „Schlachtenbummler“ und was es da sonst noch alles gibt.
Und so ist es auch nichts mit der Schwärmerei, der Fußball begann seine Karriere als „subversives Element gegen die Deutschtümelei, den deutschen Militarismus und die deutsche Autoritätsfixiertheit“, denn er verdankt seinen Durchbruch dem Interesse der Reichswehr, die militärischen Produktivkräfte ihrer Soldaten zu verbessern – eine nicht gerade mit Subversion und Antimilitarismus identifizierbare Zielsetzung. Der Gründungsmythos des Fußballs im Ruhrgebiet, das „wilde Kicken“ auf Straßen und Hinterhöfen sei adäquater Ausdruck des Lebensgefühls und habe den Fußball quasi naturwüchsig hervorgebracht, bedarf daher mindestens einer Überprüfung, wenn nicht gar einer Revision.
Fußball und Kommerz
In der Weimarer Republik entwickelte sich der Sport allgemein zum Teil einer populären Massenkultur. Auch der Fußball war erwachsen geworden und mit ihm das Umfeld des Spiels. Zigarettenmarken warben mit dem Bild eines „bekannten Fußballspielers in jeder Packung“, eine Dose Schuhwichse der Firma Erdal enthielt „zwölf Fußballsammelkarten“, Fußballzeitschriften waren massenhaft am Kiosk zu kaufen, Mannschaften aus den Profi-Ligen Englands, Österreichs und Ungarns gastierten im Ruhrgebiet, um ihre Spielkunst vorzuführen. In unmittelbarer Reaktion auf diesen neuen Zuschauerandrang entstanden Stadien wie die „Vestische Kampfbahn in Gladbeck“ (1928), die Kampfbahn „Rote Erde“ in Dortmund (1926), die „Kampfbahn Katzenbusch“ in Herten (1925) oder die „Schwelgern-Kampfbahn“ in Duisburg-Marxloh (1925). Die Vereine kalkulierten mit den Zuschauereinnahmen und konnten schon mal hier und da aus „schwarzen Kassen“ die Spesen einiger Spieler begleichen. Der Fußballsektor entdeckte seine wirtschaftliche Potenz, nur der DFB verharrte auf seiner Position zum Amateurstatus. Eine Haltung, die zu einem guten Teil ideologisch begründet war, da Individualismus und soziale Aufstiegsmöglichkeiten durch den Sport nicht im Sinne der bürgerlichen Funktionärsriege waren, die an einer deutsch-nationalen und wertkonservativen Definition des Fußballs festhielt. Für sie war Fußball körperliche Ertüchtigung eines elitären, nationalen Geistes zum Wohle des Vaterlandes und keine professionelle Spiel-kunst zur Unterhaltung der Massen.
Zu den vielen Geschichten des Ruhrgebietsfußballs gehört die Überlieferung, die Spieler hät-ten früher „für ein Butterbrot“ gespielt. Im Mittelpunkt habe die Fußballbegeisterung gestanden, Geld habe nie eine Rolle gespielt. An dieser Stelle folgt unweigerlich der Hinweis, dass der Kommerz den Fußball kaputt macht. Dabei ist historisch gesehen genau das Gegenteil der Fall: Ohne den entlohnten Fußball hätten die Arbeiterstars von einst nie ihren Aufstieg geschafft. „Mit den Kohlen, die ich gehauen habe, hätte ich noch nicht einmal einen Kessel Wasser heiß gekriegt“, soll die Schalker-Legende Ernst Kuzorra einmal bekannt haben. Er arbeitete auf der Schachtanlage Consolidation am Leseband über Tage und kam als Bremser und Schlepper auch unter Tage vor Kohle. Allerdings malochten oft die Kumpels für ihn, während der Fußballhochbegabte sich ausruhen konnte. Zu den Vergünstigungen am Arbeitsplatz kamen noch die inoffiziellen Zuwendungen des Vereins, die bald zum Konflikt mit dem Westdeutschen Spielverband führten. Im August 1930 wurden nahezu alle Spieler der ersten Mannschaft wegen Annahme überhöhter Handgelder zu „Berufsspielern“ erklärt und aus dem Westdeutschen Fußballverband ausgeschlossen. Eine Maßnahme, die durchaus als „Tätlichkeit“ des bürgerlichen Establishments gegen den aufkommenden und aufmüpfigen Arbeiterverein zu verstehen ist. Die „Schalke-Affäre“ schlug monatelang ungeahnte Protestwellen, und der Verband sah sich gezwungen, die Spieler nach einem Jahr zu begnadigen. Zu spät für den Geschäftsführer Willy Nier. Er beging Selbstmord im Rhein-Herne-Kanal.
Für die damalige Summe illegaler Spielergehälter würde sich heute ein einzelner Bundesligaspieler vermutlich noch nicht einmal umziehen; und dass das Spiel Schalke 04 gegen Arminia Bielefeld im Bundesligaskandal der Saison 1970/71 für insgesamt 40.000 Mark verschoben wurde, wäre als Siegprämie für heutige Bundesligaprofis vermutlich ein zu geringer Anreiz, um ein engagiertes Spiel zu liefern. Die Dimensionen haben sich halt ins Exorbitante verschoben.
Mythos und Marketing
Auch das Aufblühen des Fußball-Westens in den 1950er Jahre ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Ruhrgebiet als schwerindustrielles Zentrum wirtschaftliche Stärke mit großer Bevölkerungsdichte vereinte. Der Ballungsraum bot ein ausreichendes Potential an Spielern und Zuschauern. Und die „Kohle“ kam auch nicht nur von den Zuschauern. Vor der Einführung der Bundesliga und des „Profis“ 1963 konnten spielstarke „Vertragsamateure“ nur dann an Vereine gebunden werden, wenn Geld unter der Hand gezahlt wurde und die Spieler über Anstellungsverträge ohne vollen Arbeitseinsatz bei Vereinsmäzenen ein Einkommen erzielten. So wurde die Zeche Nordstern zum „Sponsor“ des STV Horst-Emscher. Als 1949 das Vertragsspielerstatut eingeführt wurde, das erstmals direkte Zuwendungen an die Spieler zuließ, bekamen die Emscher-Husaren im Lohnbüro des Pütts das Geld ausgezahlt. Die Zeche Ewald-Fortsetzung in Oer-Erkenschwick wurde zum Arbeitgeber für die Schwarzroten der SpVgg. Erkenschwick und das Stimberg-Stadion lag direkt gegenüber dem Pütt. Die Spieler zogen sich in der Waschkaue um. Als Stahlarbeitervereine galten Hamborn 07 und die Borussia vom Borsigplatz – sie wurde unterstützt von Thyssen und Hoesch. Der 2008 verstorbene Schriftsteller Hand Dieter Baroth schrieb 1988 „Jungens, euch gehört der Himmel“, in dem er die Verhältnisse und Geschichten der alten Oberliga West rekapitulierte. Als das Buch im Klartext-Verlag auf den Markt kam, mussten die Bestellungen Waschkörbeweise bearbeitet werden. Das Buch erschien genau in einer Phase des Strukturwandels, in der mit dem Ver-schwinden der Schachtanlagen und Bergwerke die Erinnerung an das „alte Ruhrgebiet“ salonfähig wurde. Und der Fußball gehörte dazu, denn gerade die Vereine der Oberliga West symbolisierten eine Einheit von Sport, Arbeit, Stadtteilkultur, Menschen und Identität, die vor dem Hintergrund des damals aus Reviersicht höchst bedrückenden Profifußballs – die 1980er Jahre waren die erfolgloseste Zeit des Reviers seit Einführung der Gauliga 1934 – in vielerlei Hinsicht geradezu idyllisch wirkten.
Gleichzeitig ist die Gleichung „Krise des Bergbaus und der Montanindustrie = Niedergang des Revierfußballs“ auch zu kurz gegriffen. Der Absturz von Borussia Dortmund und Schalke 04 nach den ersten Jahren der Bundesliga scheint eher hausgemacht. Mitunter wurden die klassischen Ruhrgebietsmythen der Tradition, des sozialen Zusammenhalts, der wirtschaftlich Schwächeren und Gebeutelten von Vereinsführungen und Präsidenten auch als Legitimation des Versagens benutzt. „Wer es bei Versammlungen verstand, diese Mythen zu vertreten, das Gefühl der Anwesenden anzusprechen, sich auf Tradition zu berufen und vage Versprechungen zu machen, konnte genügend Stimmen erhalten – und anschließend im alten Trott weiter machen. Während andernorts neue Wege beschritten wurden, erfolgreiche Trainer über längere Zeit arbeiten konnten und neue Strukturen entstanden, blieb der Ruhrgebietsfußball auf sich bezogen und in seinen Mythen befangen“, liest der Sozialwissenschaftler Franz-Josef Brüggemeier der Vereinspolitik der 1970er und 1980er Jahre die Leviten. Vereine in vergleichbaren industriellen Krisenregionen wie Liverpool und Manchester erlebten während der Zeit eine vollkommen andere Entwicklung.
Vielleicht könnte die Einsicht, dass Fußball immer schon mit Kommerz zu tun hatte, den Blick dafür schärfen, was den Fußball der Gegenwart ausmacht und in welche Richtung sich die „schönste Nebensache der Welt“ bewegt. Der Ruhrgebietsfußball ist ungebrochen lebensfähig. Mythos und Marketing können wirtschaftliche Prosperität und damit sportliche Erfolge wirksam fördern, was man in oder auf Schalke und rund um die Geschäftsstelle des BVB nicht erst seit einigen Jahren beherrscht. Zum Mythos geworden lässt sich das veränderte Ruhrgebiet und auch der Fußball offenbar leichter auf den Begriff bringen – und auch besser vermarkten. Im Jahr 1997 skandierten Bergleute bei einer Demonstration für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze in Bonn lautstark „Ruhrpott“; Anhänger des BVB und des S04 nahmen dies als Schlachtruf bei den Siegen ihrer Vereine im selben Jahr in den europäischen Wettbewerben auf. Der Schlachtruf ertönte nach dem Rückzug von Kohle und Stahl und ist dennoch kein Abgesang auf das untergegangene Ruhrgebiet des Bergbaus und der Schwerindustrie. Die Region bekennt sich vielmehr zu einer historischen Identität und markiert ein neues Selbst-bewusstsein. Mit gänzlich neuen Marketingoptionen.
Ludger Claßen ist Verleger. Schon Ende der 1980er Jahre brachte er in seinem Essener Klartext Verlag Fußball-Bücher heraus, die das Spiel und seine sozialen Verankerungen ernst nahmen, bevor der sinnstiftende Begriff „Fußball-Kultur“ überhaupt von den Feuilletons entdeckt wurde. In seinem historischen Exkurs räumt er mit einigen Mythen zum Ursprung des Fußballs im Ruhrgebiet auf. Der Text ist aus dem Buch Heimspiel B1, das im Klartext Verlag erschienen ist.
Jetzt bitte noch die Word-Silbentrennungs-Bindestriche entfernen und fertig ist die wunderschöne Zweitverwertung. Borussia ist im Fall des glorreichen Ballspielvereins aus Dortmund keine bürgerliche Hommage an die Preußen, sondern an die Brauerei, die den Gerstensaft auf der Gründungsversammlung des Vereins in der Gaststätte Wildschütz braute.
@Thorsten: Besser? 🙂
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Wunderbar.
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