Wenn man sich Mut anklatschen kann, hat die SPD schon wieder halb gewonnen. Vier Minuten Applaus für Franz Müntefering nach dessen starkem Abtrittsauftritt, sieben Minuten gar – rhythmischen, popstargerechten – Applaus für Sigmar Gabriel! Womöglich hätten die Sozialdemokraten bis zum nächsten Wahltag weitergeklatscht, hätte ihr zu diesem Zeitpunkt noch künftiger Vorsitzender sie nicht zur Ordnung gerufen – nachdem er sowohl Müntefering als auch Kurt Beck geherzt, Greta Wehner umarmt, Jochen Vogels und Erhard Epplers Ritterschlag entgegengenommen hatte: „Das nützt nichts,“ rief er den Delegierten des Dresdener SPD-Parteitags zu: „Ihr müsst noch wählen!“ – Vom SPD-Parteitag in Dresden berichtet unser Gastautor Uwe Knüpfer.
Das hat er gut gemacht. Die SPD hat wieder einen Vorsitzenden, der klug ist und zuschlagen kann, und das mit Witz. Von Willy lernen heißt siegen lernen, hätte die heimliche Überschrift seiner eindreiviertelstündigen, doch immer kurzweiligen Rede sein können. Unter Willy Brandt habe die SPD die Deutungshoheit im Streit um gesellschaftlich wichtige Themen erobert. Heute sei diese Hoheit verlorengegangen. Und damit der Kampf um die Mitte, die „nie ein fester Ort war.“
Union und SPD stellten sich heute als Regierung der „bürgerlichen Mitte“ dar, dabei sei ihre Politik „weder liberal noch bürgerlich“. CDU und FDP, „das ist die demokratische Rechte dieses Landes!“ Selbst Ludwig Erhard und dessen Soziale Marktwirtschaft will Gabriel der CDU streitig machen. Er will definieren, was und wo die Mitte ist, nämlich links und rot, jedenfalls so rot wie die SPD.
„Macht Euch auf was gefasst,“ rief er zur Freude der Truppen, die im Laufe seiner Rede immer mehr zu seinen Truppen wurden, der schwarzgelben Regierung zu: „Wir kämpfen wieder!“
Kritik an vergangener SPD-Regierungspolitik bringt Gabriel stets elegant und ohne Namensnennung vor. Er sagt nicht, die SPD habe sich unter Schröder zum Büttel von Kapitalinteressen machen lassen oder ihre Ideale verraten, sondern: „Statt die Mitte zu verändern, haben wir uns verändert.“ Schröder wusste schon, warum er Dresden ferngeblieben ist.
Wenn Gabriel zu verstehen geben will, dass viele SPD-Ortsvereine überaltert und selbstgefällig vor sich hin brüten, sagt er: „Wir müssen raus ins Leben! Dort wo es brodelt, auch stinkt, und wo es anstrengend ist.“ Da klatschen dann auch die, die Pickel kriegen, wenn sie mit Menschen reden sollen, die anders aussehen, denken und reden als sie: Internetfreaks, Existenzgründer, Handwerker, Zugewanderte. Gabriel fordert: „All denen müssen wir zuhören!“
Anstrengend werde das, versprach Willy Brandts politischer Urenkel: „Mehr Basisdemokratie heißt mehr Arbeit.“ 66 Redner hatten in einer immer sachlichen, durchaus dichten Debatte immer wieder auch gefordert, die Parteiarbeit der SPD neu zu organisieren und Politik von unten her, von den Kommunen aus zu organisieren. Auch das griff Gabriel auf. Wenn er ernst meint, was er in Dresden gesagt hat, will er nicht weniger, als die SPD neu erfinden.
Dabei wird er allerdings im Parteivorstand umgeben sein von vielen altvertrauten Gesichtern. Wie Gabriel das findet, bei aller Nicht-Kritik an denen, die vor ihm Verantwortung trugen, lässt eine Episode gleich zu Anfang seiner Rede erahnen. Die Parteitagsregie hatte das Rednerpult mitten in den Saal gestellt. Das führt dazu, dass, wer redet, die nicht ansehen kann, die auf dem Podium hinter ihm sitzen: die Hochwürdenträger der Partei. Gabriel, sich dabei ein wenig ungelenk windend: „Ich fühle mich gestärkt durch Euch im Rücken – aber derzeit sähe ich Euch lieber Auge in Auge.“
Einen neuen, starken, geistreichen, schlagfertigen Vorsitzenden hat die deutsche Sozialdemokratie jetzt, nun muss sie sich nur noch selber verändern. Laut zu klatschen wird dabei nicht reichen. Gabriel weiß das genau. Zermürbt und verknirscht gäbe sich der typische Genosse gern. Auch das müsse anders werden, denn – und er ließ ein chinesisches Sprich- sein Schlusswort sein: „Wer nicht lächeln kann, soll keinen Laden aufmachen.“
472 von 503 stimmberechtigten Delegierten haben Sigmar Gabriel am Ende gewählt, gerade noch rechtzeitig zur Tagesschau. Das waren 94,2 Prozent. Nicht schlecht für einen Bissigen. Und nicht schlecht für eine Partei, die eben noch verwundet und zerrissen war.
Hallo,
wohin ist der „Mission Impossible“ Artikel verschwunden, den ich in meiner Umleitung verlinkt hatte und den Ihr auch selbst auf twitter beworben habt?
Ich finde Gabriels Rede schrecklich rückwärts gewandt. In der Tradition von „sozial ist was Arbeit schafft“ und „wir sind die Mitte“ (CDU/CSU,FDP,SPD,Grüne).
Kommt denn niemand von den alten Männern und Frauen mal auf die Idee, dass in einer Zeit, in der sich die Wertschöpfung dramatisch vom Faktor Arbeit auf den Faktor Kapital konzentriert hat, es schlicht nicht genug Arbeit für alle gibt und nie wieder geben wird? Und das ist gut so. Haben wir nicht immer davon geträumt, dass Maschinen unsere Arbeit übernehmen und wir, anstatt zu arbeiten, uns weiterbilden, selbst verwirklichen und unsere Kinder erziehen können?
Seit einem Jahrhundert arbeiten die Menschen an Automation und jetzt sind wir soweit: einfache Arbeit hat praktisch keinen Wert mehr. Und trotzdem redet Gabriel von der Vollbeschäftigungsromantik, anstatt an von Konzepten zur Umverteilung des Einkommens aus dem Faktor Kapital (Automation, Maschinen) zu sprechen.
Die SPD soll nicht versuchen, die Menschen im Kreis Gruben ausheben und wieder zuschütten zu lassen. Die SPD muss sich knallhart neuen Konzepten der Zukunft zuwenden. Andernfalls wird die SPD sterben. Allerdings wärs dann auch nicht schade drum.
Tharbens Kommentar ist interessanter als Gabriels Rede.
„Sozial ist wer/was Arbeit schafft“ (Alfred Hugenberg, DNVP, Mitinitiator der Hartzburger Front), in Etappen wiederholt, letzte Woche dann vom Kriegs-, pardon, Arbeitslosenminister Jung. Wiederholt und diesmal fiel es keinem auf.
Ludwig Stiegler war’s, der vor Jahren an das Copyright erinnerte und gleichzeitig auch, wohin das führte. Die gründliche Pervertierung des Begriffs Arbeit in den Vernichtungslagern ist bekannt. Eine Verpflichtung, die Arbeit menschenwürdig und -gerecht zu gestalten, war bis jetzt nie erkennbar. Oder doch?
Sigmar Gabriel war’s, der an Otto Wels erinnerte. Erinnerte an das Versagen der Bürgerlichen Eliten im Reichstag 1933, erinnerte, das dies auch von der Hugenberg-Parole zum „Arbeit macht frei“ führte.
Ein Hauch von Lafargue lag über dem Parteitag. Beim Wort genannt wurden die Mißstände des Ein-Euro-Mist. Genannt die VerLIDLung des Einzelhandels, nicht verschwiegen der Verlust des Tarifrechtes und, natürlich, die Menschenverachtung des Zeitarbeitsstrichs. Beim Wort genannt, die fortschreitende Entsolidarisierung der Gesellschaft, die Schikanen und Denunziationen gegen die Überflüssigen. Und das Beste, von keinem der Hauptverantwortlichen kam auch nur ansatzweise Gegenwehr.
Leider nicht erwähnt, die einzige Reform von Bedeutung, in den 11 Jahren Regierungsbeteiligung, das neue Staatsbürgerrecht. Mehr war wohl nicht zu erwarten. Aber, möglich ist, daß Diskussionen mit Sozialdemokraten wieder interessant und von Leben erfüllt sind. Da gilt es einfach abzuwarten.
Der erste Schritt zum aufrechten Gang ist die Selbstaufrichtung. Reden reicht dafür allerdings nicht aus. Da gabs schon einige in der SPD die gut sprechen aber bei weitem nicht so handeln konnten, weil ihnen schlicht die Macht dazu fehlte. Weil es weder Gefolgschaft noch Mobilisierung gab. Weil alle ganz viel klatschten und ganz wenig vor Ort zu ändern bereit waren. Einer der Letzten der so gut reden konnte ist jetzt Vorsitzenden der „Linken“. Und er hatte, als er den Vorsitz der alten Tante SPD an sich riss, noch einen Gegenkandidaten. Der ist jetzt Vorsitzender der deutschen Fahrradfahrer.
Nicht mal einen Gegenkandidaten, geschweige den eine Kandidatin gabs jetzt noch. Stattdessen all die Gesichter die man schon immer auf den Parteitagen gesehen hat.Die die ganze Misere mit zu verantworten haben. Mit Ausnahme von einem, der auch gut reden, ja mobilisieren konnte, und der jetzt endlich da ist, wo er immer hinwollte. Bei den Bossen.
Dieser Parteitag bedeutet inhaltlich nichts. Gar nichts. Weniger als eine vertane Chance. Weil es keine Chance gab. Eben weil die erwähnten alten Gesichter nicht fähig sein konnten, mit sich selbst abzurechnen und einen Neuanfang zu setzen. Personell wie inhaltlich.
Ein gordischer Knoten. Nur eines bleibt vom Dresdener Parteitag: Sigmar Gabriel, gegen dessen Opportunismus viele moralische Traditionalisten allergisch sind. Währenddessen er mit der eigenen Wendehälsigkeit glänzend und selbstironisch umzugehen versteht.
Womöglich ist ausgerechnet diese Gabe Gabriels Voraussetzung für die historische Unmöglichkeit: des sozialdemokratischen Neuanfangs ohne neu anfangen zu können. Selbstironie jedenfalls ist eine postmoderne Tugend.