Ich lese gerne und viele Bücher über Politik, Bücher von Politikern indes lese ich eher selten. Weil ich mich zur Zeit viel mit der SPD beschäftige, kam es zu einer der eher seltenen Ausnahmen: Ich las Sigmar Gabriels Buch „Zeitenwende in der Weltpolitik“. Es besteht aus zwei Teilen: Einer ist so etwas wie das aussenpolitische Vermächtnis Gabriels, der ja von Januar 2017 bis März 2018 Aussenminister war. Der andere beschäftig sich mit der SPD und zieht sich durch das ganze Buch, das sich gut liest und ausgesprochen flott zu lesen ist.
Die aussenpolitischen Kapitel des Buches sind weitgehend überraschungsfrei: Gabriel spricht sich für Verhandlungen in Konflikten aus, ist auf einen Ausgleich mit Russland bedacht, warnt vor Trump und beschreibt den Aufstieg Chinas. Einiges ist widersprüchlich: Er ist gegen die Besetzung der Ukraine durch Russland, aber es schimmert durch, dass er bereit ist sie auf mittlere Sicht zu akzeptieren. Der Iran ist für ihn eine den Nahen-Osten destabilisierende Diktatur, aber trotzdem ein verlässlicher Partner im unsäglichen Atom-Deal. China wirft er vor, sich nicht an Freihandelsabkommen zu halten und auf eine protektionistische Wirtschaftspolitik zu setzen, Trumps Maßnahmen gegen China lehnt er jedoch ab. Ansonsten: Viel Lob für Europa und der Wunsch, auf dem Kontinent mehr zusammen zu arbeiten, jedoch die Nationalstaaten nicht aufzugeben. Man kann nicht wirklich sagen, das Gabriel aussenpolitische Akzente gesetzt hat, die über seine Amtszeit hinausgehen. Er hat einfach da weiter gemacht, wo sein Vorgänger Frank-Walter Steinmeier aufhörte. Zu kurz war er in dem Job, das Aussenministerium hat ihn mehr geprägt als er das Aussenministerium.
Wichtiger als der Aussenpolitiker Gabriel ist hingegen der Sozialdemokrat Gabriel. Sieben Jahre lang war Gabriel Vorsitzender der SPD. In seiner Antrittsrede weckte er Hoffnungen. Auf dem Parteitag im November 2009 in Dresden sagte er: „Wir dürfen uns nicht zurückziehen in die Vorstandsetagen, in die Sitzungsräume. Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. Und das müssen wir ändern. Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Weil nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben.“
Besser kann man nicht ausdrücken, wo der Platz der SPD ist.
In „Zeitenwende“ geht Gabriel auch immer wieder auf die SPD ein. Seine Haltung, das man dahin gehen müsse, wo es „laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“ hat er nicht abgelegt. Gabriel kritisiert die Hinwendung der SPD zum postmodernen Denken, beschreibt die tiefe Kluft zwischen der Bundestagsfraktion und den Kommunalpolitikern bei Fragen der Migration und bemängelt die Abwendung der SPD von den Problemen und Sorgen ihrer Stammwähler, die überzogene Umweltpolitik, die keine Rücksicht auf Jobs nimmt. Er erkennt, dass zwischen der Kultur der SPD-Funktionäre und jener der Basis und Anhänger ein breiter Graben klafft.
Alles richtig. Nur in sieben Jahren als Parteivorsitzender hätte Gabriel handeln können. Er hätte eine Debatte um die Zukunft der Sozialdemokratie anstossen können, das wäre sein Job gewesen. Eine solche Debatte hätte, je nach ihrem Ausgang, die SPD davor bewahren können so tief zu fallen, ja, um ihre Existenz kämpfen zu müssen.
Gabriel hat sie nicht entschieden und nicht öffentlich geführt und damit seiner Partei einen Bärendienst erwiesen. Dabei ist er war er wohl nicht der Einzige in der Parteispitze, der die Probleme erkannt hat. In der Bundesregierung setzte die SPD in den vergangenen Jahren große Teile ihrer Politik durch und wundert sich, dass sie trotzdem keinen Erfolg bei den Wählern hat. Hätte sie eine offene Debatte über ihre Ausrichtung geführt, wären die vernünftigen Teile Parteispitze gemeinsam mit den einfachen Mitgliedern und Kommunalpolitikern frühzeitig gegen die Funktionärskaste der Partei, die längst einen grünen Lebensstil pflegt, in die Schranken gewiesen, hätte es zwar großen Krach gegeben, aber die SPD stünde heute besser da – inhaltlich und auch bei Wahlen und Umfragen.
Gabriel hat als Vorsitzender damit eine große Chance vertan – allerdings jetzt ein Thema für ein weiteres Buch. Als frischgebackener Mitbesitzer eine Beratungsagentur hat er sicher bald den dafür nötigen Abstand zur Parteipolitik.