Gaza: Verdeckter Krieg um Hilfslieferungen

Hamas feiert in Gaza: Kindersoldat Foto: Hadi Mohammad cc 4.0


Die internationale Hilfe war schon vor dem 7. Oktober eine wichtige Einnahmequelle für die Hamas. Zugleich ist sie zu einem Politikum geworden, da mehrheitlich Israel für die Situation in Gaza verantwortlich gemacht wird. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.

Erneut kritisierte die UNO Israel in scharfen Worten für die humanitäre Krise im Gazastreifen:

»Die israelischen Beschränkungen für die Einfuhr humanitärer Hilfe in den Gazastreifen könnten nach Ansicht der UNO dem Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Aushungerns gleichkommen, während das Weiße Haus ungehinderten Zugang für Hilfsgüter in den Küstenstreifen forderte.

Angesichts der zunehmenden und katastrophalen Hungersnot in Teilen des Gazastreifens und der offiziellen UN-Zahlen für Hungersnöte, die nach dem derzeitigen Klassifizierungssystem die schlimmsten sind, fügte die Regierung Biden hinzu, nach einem Bericht über eine mögliche Hungersnot in Gaza ›tief besorgt‹ zu sein. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Turk, erklärte, die israelischen Beschränkungen für die Einreise von Hilfsgütern könnten auf ›Aushungern als Kriegsmethode‹ hinauslaufen.«

Seit Monaten warnen UN-Agenturen, Hilfsorganisationen und auch Politiker aus den USA und der EU vor einer drohenden Hungersnot in Gaza. Vor allem im Norden des Gazastreifens sei laut Aussagen der Welternährungsorganisation WFP die Lage besonders katastrophal. Erst kürzlich hatten die Organisationen Open Arms und World Central Kitchen über den Seeweg zweihundert Tonnen Hilfsgüter in den Norden verschifft, wo auch regelmäßig jordanische, amerikanische und andere Flugzeuge Lieferungen abwerfen.

Über Land kommt die meiste Hilfe weiterhin über den ägyptischen Grenzübergang bei Rafah, der auf palästinensischer Seite bis heute von der Hamas kontrolliert wird, wie der ganze südliche Grenzstreifen, in den auch ein Großteil der zivilen Bevölkerung geflohen ist. Hier üben Hamas-Milizionäre weiterhin die Macht aus: Wer in Rafah humanitär tätig sein will, kann dies nur in Absprache mit den lokalen Behörden tun.

Nun stellte die internationale Hilfe schon vor dem 7. Oktober eine wichtige Einnahmequelle der Hamas dar, auf die sie jetzt noch weniger verzichten kann denn je. Zugleich ist diese Hilfe zu einem Politikum geworden, denn international wird mehrheitlich einzig Israel für das in Gaza herrschende Elend verantwortlich gemacht.

So zynisch das ihr zugrundeliegende Kalkül klingt, so wahr ist jedoch die Faustregel: Je mehr Bilder von unterernährten Kindern aus Gaza um die Welt gehen, umso stärker wächst der Druck auf die israelische Regierung, was wiederum ganz im Interesse der Hamas ist.

Machtdemonstration der Hamas

In Vergessenheit gerät dabei nicht nur, dass die Hamas de facto die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens zur Geisel genommen hat, sondern auch, dass angesichts all der geschmuggelten Waffen, Ersatzteile und Munition, die in den letzten Jahrzehnten über Rafah kamen, Israel mehr als gute Gründe hat, auf der genauen Inspektion der Hilfstransporte zu insistieren. Gerade angesichts all der islamistischen Organisationen, die weltweit Spenden für Gaza sammeln und dies sehr oft mit Aufrufen zum heiligen Krieg gegen den zionistischen Feind verbinden, verwundert es nicht, dass die israelische Seite vielen dieser Hilfslieferungen mit Misstrauen begegnet.

Zudem ist längst klar, dass die Hamas alles unternimmt, um die Kontrolle über die Hilfsgüter in ihren Händen zu behalten; nicht nur, weil sie, wie ihr seit Monaten vorgeworfen wird, große Teile für ihre Milizionäre abzweigt oder sie teuer auf dem Markt verkauft, sondern weil diejenigen, welche die Kontrolle über die Lieferungen in ihren Händen halten, zugleich über eine ungeheure Macht verfügen.

Wie ernst israelische Versuche sind, mit sogenannten Clanchefs in Gaza-Stadt und dem Norden des Küstenstreifens zu kooperieren, um an der Hamas vorbei der Bevölkerung zu helfen, ist bislang unklar, alleine die Ankündigung allerdings führte zu heftigen Reaktionen seitens der Hamas:

»›Palästinenser, die bei der Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen mit Israel zusammenarbeiten, werden als Kollaborateure betrachtet und mit eiserner Faust behandelt‹, hieß es am 11. März auf einer der Hamas nahen Website.

Unter der Hamas-Herrschaft ist die Zusammenarbeit mit Israel ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wird, und die aktuelle Drohung ist wahrscheinlich eine Reaktion auf Medienberichte, wonach Israel erwägt, bei der Verteilung von Hilfsgütern mit bestimmten Clans in Gaza zusammenzuarbeiten. Möglicherweise will Israel diese Clans ermächtigen, eine Führungsrolle zu übernehmen, sobald der jüdische Staat die Hamas in der Enklave vollständig besiegt hat.«

Gesagt, getan: Kurz nach dieser Ankündigung tötete die Terrororganisation einen »Prinzen« des einflussreichen Doghmush-Clans, den sie im Verdacht hatte, mit den Israelis zu kooperieren. In Gaza-Stadt und dem Norden kontrollieren zwar erneut Hamas-Milizionäre und -Polizisten die Straßen, ihr Zugriff ist allerdings wesentlich schwächer als in Rafah. Entsprechend schwächer ist auch ihr Zugriff auf die Hilfsgüter, die nun eben möglichst direkt an die Bevölkerung verteilt werden sollen.

Seit Monaten fordert etwa der aus Gaza stammende Aktivist Ahmed Fouad Alkhatib solche Luftbrücken und Verschiffungen, um nicht nur den Menschen zu helfen, sondern auch die Hamas zu schwächen. Und in der Tat: Wo immer ihr Zugriff schwindet, wird Unmut laut geäußert, wie etwa gegenüber dem Christian Science Monitor:

»Mit dem Zusammenbruch von Recht und Ordnung nimmt die organisierte Kriminalität zu, die Hilfsgüter werden geplündert und auf dem Schwarzmarkt verkauft, bevor viele sie bekommen können. Und es wächst die Überzeugung, dass die Hamas durch ihre Abwesenheit nicht nur die Verantwortung für die Plünderungen und die Geschäftemacherei trägt, sondern dass sie möglicherweise auch mitschuldig oder daran beteiligt ist.

›Wir müssen Lebensmittel kaufen, die als Hilfsgüter nach Gaza geschickt wurden. Wir hören viele Gerüchte, dass diese Hilfsgüter unter den Augen der Hamas gestohlen wurden, manchmal in Komplizenschaft mit Leuten aus der Regierung‹, sagt Walid.

Mohammed, ein Buchhalter und ehemaliger Regierungsangestellter, der jetzt in Rafah lebt, meint, die Verbindungen zwischen der Hamas und dem Diebstahl von Hilfsgütern im Gazastreifen seien eindeutig. ›Wir können zwar keine endgültigen Beweise liefern, aber wer hat die Waffen? Wer hat das Gewaltmonopol in Gaza? Es ist die Hamas. Die Arbeit der organisierten kriminellen Gruppen könnte ohne ihre Zustimmung nicht stattfinden‹, sagt Mohammed per WhatsApp-Nachricht. ›Sie profitieren politisch und wirtschaftlich von unserem Tod und unserem Elend.‹«

In einem privaten Chat brachte es ein ehemaliger Bewohner des Gazastreifens, der inzwischen in Europa lebt, dem Autor gegenüber mit den folgenden Worten zynisch auf den Punkt: »Könnte man Tunnel essen, gäbe es keinen Hunger in Gaza.«

Verdeckter Krieg um Hilfslieferungen

Ganz offenbar findet deshalb auch ein verdeckter Krieg um humanitäre Hilfe für den Norden statt, denn sowohl Jordanien als auch die Vereinigten Arabischen Emirate, die beide Israel heftig kritisieren, kooperieren doch mit der israelischen Armee, um Hilfsgüter dort abwerfen zu können. Auch ihnen geht es, wie fast allen arabischen Ländern, um eine Schwächung der Hamas, ohne dabei als Alliierter der Israels zu erscheinen.

Solange allerdings die Hamas Rafah und vor allem den existentiell wichtigen Grenzübergang dort kontrolliert und damit auch die Überlandrouten in den Norden des Gazastreifens, wird sich an der Lage hier wenig ändern. Denn selbst wenn in Zukunft massive Hilfe über den Seeweg kommen sollte, wird dies noch Wochen dauern, denn es müsste ein provisorischer Hafen geschaffen werden, eine Aufgabe, welche die amerikanische Armee nun in Angriff nimmt:

»Der Hafen, der vom US-Militär gebaut werden soll, umfasst eine provisorische Anlegestelle für den Transport von Hilfsgütern von Schiffen auf See an die Küste. Es ist nicht klar, wer den Pier bauen oder die Hilfsgüter an Land sichern wird, was bedeutet, dass entscheidende Fragen darüber, ob die Operation erfolgreich sein kann, vorerst unbeantwortet bleiben.

Die Einrichtung des Hafens wird nach offiziellen Angaben ›einige Wochen‹ in Anspruch nehmen und er soll große Schiffe mit Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und Notunterkünften aufnehmen können. Die ersten Sendungen werden über Zypern eintreffen, wo israelische Sicherheitsinspektionen stattfinden werden.«

Klar ist allen Beteiligten derweil, dass die Hamas zwischenzeitlich ihrerseits alles in ihrer Macht Stehende unternehmen wird, um diese alternativen Hilfsrouten zu sabotieren, denn sie möchte ihr Quasi-Monopol in Rafah behalten. So gerät einmal mehr die dringend benötigte Hilfe zum Politikum. Selbst gutgemeinte Aufrufe und Appelle zu Spenden können deshalb das Gegenteil des Intendierten bewirken und ausgerechnet jenen helfen, die an neutraler Hilfe keinerlei Interesse haben.

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

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