Seit dem 7. Oktober gelten neue Regeln im Krieg zwischen Israel und der Hamas. Das scheint letztere noch nicht ganz verstanden zu haben. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.
Jeder langjährige Konflikt entwickelt eigene, meist ungeschriebene Regeln. Die gelten zwischen Polizei und organisiertem Verbrechen ebenso wie sie bis Samstag früh zwischen Hamas und israelischem Staat galten. Damit ist seit den pogoramartigen Massakern, die Hamasmilizionäre an über tausend Zivilisten verübt haben nun Schluss.
Das alte Drehbuch und die alten Regeln sind wohl für immer außer Kraft gesetzt, es gelten nun neue und ganz offenbar hat die Führung der Hamas vieles in monatelanger Planung getan, nicht aber an die Konsequenzen gedacht, die ihre Aktionen, sollten sie denn Erfolg haben, zeitigen würden. Sicher: Niemand in den Führungsbunkern in Gaza scheint so einen durchschlagenden “Erfolg” erwartet zu haben, auch sie waren verblüfft über das stundenlange Versagen israelischer Armee und Sicherheitskräfte vor Ort, hatten vermutlich damit gerechnet, dass an einer, maximal zwei Stellen ein Durchbruch gelingen würde.
Was dann folgte, das größte antisemitische Massaker nach 1945, war ein Sieg, der vermutlich auch der letzte der Terrororganisation sein dürfte: Ähnlich wie Al Qaida am 11.09.2001 haben sie sich mit der Aktion quasi zu Tode gesiegt, denn waren sie vorher immer beides, Regierung eines Quasistaates und Terrororganisation und wurden auf internationaler Bühne auch so behandelt, so sind sie jetzt nur noch letzteres.
Wie wenig das ihnen bislang klar ist, zeigte sich in den letzten Tagen. Da kamen aus Gaza die üblichen Angebote, jetzt doch über Kairo oder Doha zu verhandeln, ganz so als sei kein Zivilisationsbruch geschehen:
A senior Hamas official said the group is open to discussions over a possible truce with Israel, having „achieved its targets.“
Moussa Abu Marzouk told Al Jazeera in a phone interview that Hamas was open to „something of that sort“ and „all political dialogues“ when asked whether the Islamist group is willing to discuss a possible ceasefire.
Ganz offenbar ist Herrn Abu Marzouk noch nicht klar, dass man mit der prä-7/10 Hamas verhandelte, nicht aber mit einer Truppe, die gezielt stundenlang und wahllos Menschen massakriert und Leichen schändet. Genau so dachten sie, schließlich hatte Israel tausend Gefangene für den von der Hamas entführten Gilat Schalit freigelassen, dass über hundert Geiseln ein wertvoller Faustpfand seien.
Wenn angesichts der Bilder und Berichte aus den überfallenen Kibbutzim und Moshavim ein Hamas Sprecher erklärt, man habe keine Zivilisten attackiert, klingt das nicht einmal nach den schlechten Lügen, die sie später immer erzählen, eher schon ein wenig hilflos, ein wenig nach, nein das waren wir gar nicht:
„In an untruthful statement issued on Thursday, Hamas’s deputy leader Saleh al-Arouri said that Hamas’s policy is to not target civilians, and that its attack on Saturday only targeted the IDF’s Gaza Division stationed along the border — despite overwhelming proof that its terrorists systematically targeted and massacred non-combatants, including children.“
Auch da haben sie sich getäuscht, die israelische Reaktion ist so hart wie unerwartet: Man stellte dem Gazastreifen Strom und Wasser an und machte klar, dass solange nicht alle Geiseln frei gekommen seien, dies auch so bleiben würde. Damit liegt der Ball im Feld der Hamas und es ist ihre ureigenste Entscheidung, ob es nun Strom und Wasser gibt oder nicht.
Ebenso verblüfft dürften sie über die internationalen Reaktionen sein. Nicht nur der us-amerikanische Präsident verurteilte die Terrorgruppe in ungewöhnlich deutlichen Worten, sondern zog, wie viele andere Politiker auch, Parallelen zu antijüdischen Massakern der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Kurzum, die Hamas hat ungefähr alle roten Linien überschritten, die es noch gibt und entsprechend fielen die Reaktionen aus. Auch Bombardements des Gazastreifens, die weit heftiger und umfassender sind, als alle Angriffe zuvor, wurden international, wenn überhaupt, sehr zurückhaltend verurteilt. Wohl noch nie in den letzten dreißig Jahren gab es eine so umfassende Solidarität europäischer Regierungen mit Israel wie in den letzten Tagen. Das mag sich wieder ändern, festzustellen bleibt aber, dass die Erklärungen aus europäischen Hauptstädten nicht nach den üblichen äquidistanten Pflichtübungen klangen, die man sonst gewöhnt ist. In vielen Ländern, etwa in Frankreich aber auch Deutschland. wurden sogar propalästinensische Demonstrationen verboten.
Auch international also sind die alten Regeln außer Kraft gesetzt. Dazu kommt, dass die Massaker in Israel die zuvor tief gespaltene Gesellschaft geeint hat, wie schon seit Jahren nicht mehr. Mit Ausnahme von ein paar ganz radikalen Linken, steht die überwältigende Mehrheit hinter der Armee und dem Krieg. Wer früher sich um das Wohlergehen der Zivilisten in Gaza sorgte, will heute vor allem sehen, wie die Mörder vom Samstag gejagt und bestraft werden.
Mit dem neuen Kriegskabinett sitzen zwei ehemalige Oberbefehlshaber der Armee an den Hebeln der Macht, beides erfahrene Militärs, mit denen nicht zu spaßen ist. Ausgeschaltet dagegen sind Ideologen wie Ben Gvir oder Smotrich. Die wissen zusammen mit Benjamin Netanjahu über das Komplettversagen staatlicher Institutionen vom vergangenen Samstag und in Umfragen machen Israelis klar, dass sie mehrheitlich auch die Schuld bei der Regierung sehen und wünschen, dass diese nach dem Krieg abtritt.
Nur eben nach dem Krieg und einem Sieg über die Hamas, bis dahin lenkt eine neue Einheitsregierung das Land und werden Rechnung hinten angestellt. Das Ziel ist klar: Zerschlagung und Ausschaltung der Hamas als in irgend einer Weise relevantem militärischen Akteur, egal ob mit oder ohne umfassender Bodenoffensive. Es dürfte inzwischen auch klar sein, dass weder Europa noch die USA sich den Israelis dabei namhaft in den Weg stellen werden, sondern es bei Appellen belassen werden. Sollte die Hisbollah in den Krieg eingreifen, so, das hat Jerusalem klar gemacht, wird, trotz enorm hoher eigener Opfer, Beirut am Ende aussehen wie Gaza jetzt.
Das sind die neuen Regeln und nicht die Hamas, sondern Israel diktiert sie. Die Frage ist, ob und wann sie das in ihren Bunkern in Gaza begreifen werden und was sie dann tun. Große Handlungsspielräume haben sie nämlich nicht, der Jubel von Samstag dürfte sich inzwischen in einen üblen Kater verwandelt haben. Sie dachten offenbar mit ihrer Aktion ein wenig mehr von “more of the same” zu veranstalten, in Wirklichkeit haben sie dafür gesorgt, dass ähnlich wie am 11.9 eine neue Zeit mit neuen Regeln angebrochen ist, auf die sie sich ganz offenbar weit weniger gut vorbereitet haben, als auch ihre barbarischen Aktionen vom letzten Samstag.