Gegenwartsklimbim im Kino: Lars Henrik Gass bescheinigt Filmbranche kollektiven Narzissmus

Festivalleiter Lars Henrik Gass. Foto: Kurzfilmtage / Daniel Gasenzer

Zeitgenössischer Kinofilm ist leer, sinnentleert. Das ist Annahme, Analyse und Fazit von Lars Henrik Gass, Gründungs­direktor des Hauses für Film und Medien in Stuttgart. Soziale Medien und Streamingdienste verändern Wahrnehmungsgewohnheiten.

Die soziale Praxis Kino wird verdrängt und steuert auf ihr Ende zu. Ein kulturpessimistischer Standpunkt, den man in einem gebundenen Essay als Jünger Adornos über eine ideologiegetriebene Wahrnehmungsökonomie aufstellen und vertreten kann. Zwischen kapitalismuskritischem Aufklärungsanspruch und Aufklärungspathos braucht es plausible Ein- und Ausblendungen durch die eigene Linse.

Ein Autor muss sich an seinem eigenen Maßstab messen, wenn sein erkenntnistheoretisches Aperçu den methodischen Rahmen setzt:

„Nur Genauigkeit und Leidenschaft, die Vertiefung in die Sache oder der Widerstand des Objekts selbst sowie die Konsequenz des Arguments schützen solche Gedanken vor der Beliebigkeit des Feuilletons oder gegen den Vorwurf der Willkür“ (S. 9f.).

Das adressiert mich als Journalistin, die das Buch „Objektverlust. Film in der narzisstischen Gesellschaft“ bei den Ruhrbaronen in ihrem anspruchsvollen Hobby rezensiert, umso verbindlicher. Filmbildung verkomme, so Gass, zu neoliberaler Erziehung. Dabei versteht Gass eigentlich Kino als die bessere Schule des Sehens und Verstehens, um eine lebendige Beziehung zur Welt zu erwerben.

Was genau ist am Kino, stellvertretend für das Gemeinsame von Filmen, ihrer mediengeschichtlichen und gesellschaftlichen Signatur, unverwechselbar, dass es nicht nur eine vergemeinschaftende Aufgabe, sondern – nicht nur für Gass – auch Hinweise zu einer Gegenwartsdiagnose liefert?

Eine Haltung zur Welt durch Kino zu gewinnen, dient als Ausgangspunkt von Gass Argumentation und seinem glasklaren Selbstverständnis, sich voll und ganz guten Filmen zu widmen. Gass führt die These des kollektiven Narzissmus an, in der sich die Gesellschaft und die Qualität des Kinos befinde. Sein Anspruch an universelles Handeln wird als normatives Ziel identifiziert.

Bloß was ist ein guter Film? Wer entscheidet über Geschmack? Welche Wahrheit gilt? Wieso ist die Wirklichkeit eine andere als im Kino? Und wann beginnen die Grenzen aufklärerischer Ideale, ebenso in Gass‘ Buch?

Als Ciné-fils ruft Gass theoretische Grundlagen wie von Siegfried Kracauer, dem Begründer der Filmsoziologie, auf. Der Autor verortet mit Kracauer die Bedeutung des Bewegtbildes in der unumkehrbaren Erfahrung von Faschismus, Nationalsozialismus und Krieg im deutschen Filmdiskurs. Zusätzlich kommt das Anliegen der beiden Hand in Hand zum Ausdruck, Kino als soziale Praxis empathisch zu besetzen, in der vor allem ein Sinn für eine vorsprachliche Realität erworben wird.

[Man erlaube mir die Einblendung einer ganz anderen Note von Kino als soziale Praxis, wenn ich auf meine Rezension zu „Führer und Verführer“ in dem Zusammenhang verweise. Dies stellt kein Widerspruch, sondern vielmehr eine Vertiefung von Gass‘ Grundanliegen dar, dass Kino sich selbst zu prüfen hat.]

Im Aufriss verdichtet Gass Autorenfilme von Neorealismus bis Film Noir, um die europäische Tradition guten Kinos zu veranschaulichen. Seine Würdigung italienischer Ursprünge macht die besondere Sinnlichkeit des Multimodalen verständlich, ebenso der Abbildung von Wirklichkeit im Nachkriegseuropa. Sofort denke ich, ma certo vedi la forza della vita, an „Cinema Paradiso“ (1988) von Giuseppe Tornatore. Der Gedanke an das Knistern von Zelluloid Spulen weckt Erinnerungen und Stimmungen an Zeiten, als Kinos Orte großer Freude für Versammlungen und Geselligkeit waren.

Leser, wie Du und ich, wobei ich – in aller Bescheidenheit – überdurchschnittliches cinephiles Verständnis in Rezeption und Produktion vorweisen kann, müssen einiges aus der Filmgeschichte vor dem inneren Auge abrufen, um der programmatischen Hinführung zur Hauptthese folgen zu können.

Diese Feinheiten seien aber angesichts eines zunehmenden kollektiven Narzissmus, gespeist von amerikanisierten Remakes europäischer Perlen, nicht mehr im Kino abbildbar, ärgert es Gass. Der Autor sieht sich ermuntert, eine Addition von schlechten Filmen zu notieren, die sich dem Konsumrausch verflachter Gesellschaftsschichten anbiedern. Deshalb sei Filmkritik wie von dem Filmkritiker Serge Daney zentral; einverstanden, Buchkritik allerdings auch.

Der Kanon von Werten zerfalle und so macht Gass in der Tradition Kritischer Theorie so ziemlich jeden Agenten dafür verantwortlich: Eltern, Schule, Kapitalismus, TV-Serien, Streaming, die Kunst, die Film immer noch nicht auch als Kunst ansähe, Oscar-Nominierungen usw. usf. Der Film „Barbie“ (2023) von Greta Garwig präge die Großerzählung des instagramibilen Narzissmus und wird in der Schlussfolgerung von Gass zur Chiffre des Totalversagens des Kinos.

Nachdem Gass theoretische Referenzierungen zum Öffentlichkeitsbegriff seit Habermas entlang der Soziologin Alexandra Schauer ausführt, wird seine Kritik an der rein kulturkonsumierenden Zerstreuung in Kino und Gesellschaft manifest. Der Titel seines Essays wird zum ersten Mal klar, wenn Gass das ödipale Subjekt der Moderne durch das narzisstische Selbst abgelöst diagnostiziert. Das Internet befördere die Migration des Films in den privaten Raum und somit einen narzisstischen Umgang mit der Welt, lautet die etwas lineare Kausalität.

Bei der Aufzählung schlechter Regisseure und schlechter Filme komme ich kaum hinterher. Und es macht sich ein Unbehagen in mir breit, weil ich Serien wie „Game of Thrones“ , in denen der Autor die Entbürgerlichung der Gesellschaft sowie eine Entzivilisierung aufziehen sieht, unterhaltsam, bildsam und auch philosophisch stimulierend finde; außerdem sind es erstklassige Kostüme und ja, ich will so einen Drachen. Nein, ich habe nie Gefallen an „The Big Bang Theory“ (2007) gefunden, umso mehr aber an „Malcom Mittendrin“ (2000); auch ein neurotisches „Bildungsmonster“ (S. 57), aber witzig, anders witzig.

Der Autor läuft zunehmend Gefahr, belehrend zu werden. Der ewig gestrige Streit über Kultur und Konsum sowie die Resignation über das bürgerliche Subjekt ermüden in der ersten Hälfte des 100 Seiten-Essays. Humor und eine gesunde Portion Selbstironie gehen dem Autor ab, weil man eigentlich um kognitive Schließungen gerade im Akademikermilieu evidenzbasiert weiß.

Und die armen Swifties bekommen auch noch ihr Fett von Gass weg, die reichlich harmlos im Vergleich zur stumpfen Fangemeinschaft von Kollegah oder Macklemore sind, die kein Problem mit antisemitischen Liedzeilen oder „Stop the Gaza Genocide Quark“-Tribalisierungsimperativen auf Konzertbühnen haben.

In der zweiten Hälfte des Buches tritt ein Schwenk und eine charakteristische Stärke des Autors ein:

„Die Universität wurde der Hort dieser empathielosen Militanz bei gleichzeitiger infantiler Überempfindlichkeit, ewiger Kindergarten, von der Wiege bis pro-palästinensischen Protest-Camp samt islamischem Gebetsgruß ungebremste Omnipotenzfantasien und ungebrochene Unterwerfungen, die allerhand Distinktionswährungen hervorbringen, die neue Privilegien anbieten und zugleich noch ein paar Innovationsverlierer mehr produzieren auf dem Weg zu esoterischer Verblödung. Adoleszenz gilt als Verdachtsmoment“ (S. 59).

Diesen Einwurf versteht der unbedarfte Leser nur, wenn man spätestens jetzt doch um den jüngsten Hintergrund des Autors weiß, der auch Anlass dafür war, nach mehr als 25 Jahren die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen zu verlassen. Als deren Leiter sah er sich einem ungehemmten Boykottaufruf gegenüber, weil er auf dem Facebook-Account des Festivals Solidarität mit Israel nach dem 7. Oktober, statt Süßigkeiten zu verteilen, bekundet hatte.

Kino werde dann zur identitären Waffe, warnte damals Gass und er warnt auch in diesem Buch davor, wenn es nur noch um ein Besinnungskino, ein narzisstisches Geschmackskino und ein Gefälligkeitskino gehe. 2024 wurde er mit der Ernst-Cramer-Medaille der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ausgezeichnet.

Ein weiteres überzeugendes Moment tritt in seiner Argumentation auf, wenn er auf die gegenwärtige Tendenz vom geschichtslosen Kino eingeht. Das ist auch der Grund, warum Gass wiederholt auf jenes regressive Milieu verweist, die blasiert in Geschichtsvergessenheit präpotent neue und absolute Wahrheiten radikal und fundamental, ja auch faschistoid, durchsetzen wollen. Kino ist dann nur noch kitschige Esoterik.

Gass akzentuiert seinen Blickwinkel, wenn er beispielsweise den Oscarprämierten deutschen Film „The Zone of Interest“ (2023) von Jonathan Glazers demontiert. Er repräsentiere nach Ansicht von Gass den Objektverlust im narzisstischen Kino, weil das Nichtidentische fast restlos eliminiert und eine gesellschaftliche Realität des Jüdischen oder Juden als agierende Subjekte nicht mehr sichtbar sei. Zusätzlich schwurbelte ausgerechnet dieser Regisseur bei der Preisverleihung in Hollywood antizionistische Mitläuferparolen unter Beifall. Kenn ick, weeß ick, war ick schon aus Berlin, wa Claudia?! Und der nächste selbstgerechte Boykott von BDS ist eh schon im Anflug, gut organisiert im Gegensatz zum Senat Berlin sind sie ja.

Gass‘ Zivilcourage ist rühmlich, während andere Filmkritiker Glazers Film weniger kritisch sehen. In der Sache bin ich beim Autor, auf dem Weg dorthin unterscheiden wir uns. Gass Duktus drängt sich im gesamten Lesefluss ein wenig auf, als ob es nur den einen richtigen Blick auf und im Kino gäbe. Ich habe „Zone of interest“ gar nicht gesehen.

Was soll ich zur Oscar Show sagen? Allein diese Artists for Ceasefire-Pins bei den Oscars 2024 – völlig plemplem. Da juckt es mich wenig, ob es ein Deutscher Film in Hollywood geschafft hat, von dem ein fachwissenschaftlicher und gesellschaftlicher Turn ausgehen könne.

Stattdessen – und die Positivbeispiele fehlen mir in Gass Streitschrift – fand man mich hier im Kino:

  • Ich hockte lieber in „Golda“ von Guy Nattiv, wenn postkoloniale Held:innen Feminismus unbedingt wollen.
  • Ich hockte lieber in „Die Fotografin“ von Ellen Kuras [hier meine Rezension], wenn eine Täter-Opfer-Umkehr trotz Holocaust wieder salonfähig geworden ist.
  • Ich hockte lieber in „One Life“ von James Hawes, wenn es heißt, wir konnten ja nischt machen, nein, aber nationalsozialistisch waren wir nie.
  • Und ich hockte lieber in „Die Ermittlung“ von RP Kahl, wenn sich die eklatante Bildungslücke auftut, Holocaust, das Wort, nie gehört. Ach, und ich hockte sogar in „John Cranko“ von Joachim A. Lang, bei dem wiederum das Theaterstück von Peter Weiss, der die Vorlage zum Film von RP Kahl damit lieferte, für seine Choreografien eine zentrale Rolle im Spätwerk einnimmt.

Insgesamt neigt das im xs-Verlag erschienene Buch von Lars Henrik Gass dazu, eine Rückkehr zum Status quo ante als Lösung des Werteverfalls im Kino zu betrachten. Ein- und Ausblendungen oder nötige Umkehrproben täten einer konsistenten Linsenschärfe gut. Gleichwohl teile ich den Anspruch des Autors, auch ein Verständnis für Ambiguität durch Kino zu pflegen.

 

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