Terror wird gern als tiefgründig verstanden, ein irgendwie existenzielles Tun. Tatsächlich unergründlich und ein Mysterium sind, die Terror widerlegen. Weil sie ihn selbst dann, wenn das Messer die Kehle durchschneidet, nicht heranlassen an ihr Selbst. Mitte April besingt Chorwerk Ruhr die „Mystères du Rosaire“, ein furchtbar aktuelles Thema.
„Man spricht zu oft und zu bereitwillig vom Mysterium des Bösen“, schreibt Emmanuel Carrère, Tag für Tag hat der französische Schriftsteller den knapp einjährigen Prozess gegen die Killer verfolgt, die November 2015 in Paris 130 Zivilisten ermordet und beinahe 700 Menschen verstümmelt haben, sie saßen in Straßen-Cafés und Restaurants, hörten ein Konzert im Bataclan, verfolgten ein Fußballspiel im Stade de France. Der Anschlag auf das Stadion misslang, es macht umso deutlicher, dass Terror Willkür ist. Mit ihr muss leben, wer überlebt hat, ihnen hat Carrère zugehört, 15 Zeugenaussagen je Tag, „jede von ungeheuerlicher Intensität“. Kaum erträglich, sie nachträglich zu lesen, und dann, inmitten der Willkür, dem banalen Ballern belgischer Islamisten im Bataclan, begegnet einem Bruno, der sagt, „ich hatte ein weißes T-Shirt an und wog 120 Kilo, ein nettes Ziel. Ich habe mich vor Edith gelegt und gedacht, vielleicht schützt sie das.“ Bruno hat einen Job beim Kundenservice der Bahn, er und Edith hatten sich nie zuvor gesehen, und dann ist da plötzlich „ein guter Moment, um zu fliehen. Bruno meinte“ – Aussage von Edith – , „ich solle mitkommen. Ich sagte, ich kann mich nicht bewegen, da sagte er: ‚Okay, dann bleibe ich bei dir.‘ Und er ist bei mir geblieben.“
Als hätte das Böse der ballernden Killer sie nicht erreicht, sie nie erreichen können.Carrère berichtet von Paaren, „die Paare geblieben sind, auch wenn einer von beiden durch das Massaker behindert oder entstellt wurde“; er lässt Maia sprechen, deren Leben zerschossen wurde, sie sagt, sie habe danach einen gefunden, „der es aushält mit der, zu der ich geworden bin“; er macht mit Nadia bekannt, die sich immer wieder vorstellt und nie begreifen kann, „dass diejenigen, die Lamia getötet haben, so alt waren wie sie. So alt wie sie alle: zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Dass auch sie früher an der Hand in die Schule gebracht wurden so wie früher Lamia.“ Und er berichtet von dem Polizisten und dessen Fahrer, die – „Handfeuerwaffen gegen Sturmgewehre“ – ins Bataclan gestürmt sind mit kaum einer Aussicht, es lebend zu verlassen, und dann haben sie einen der Killer erschossen, als der seinen Sprengstoffgürtel zünden wollte inmitten der wehrlos anderen. Carrères Frage:
„Zum Sterben bereit zu sein, um zu töten, oder zum Sterben bereit zu sein, um zu retten – welches ist das größere Mysterium?“
(II)
Ist das Böse ein Mysterium? Schillert es dämonisch? Die Antwort von Augustin auf die Frage, was das Böse sei: nichts. Das Wesen des Bösen sei Abwesenheit des Guten, aus sich heraus habe es keinen Grund im Sein, es sei im Wortsinn grundlos. Augustin wurde am 13. November 354 geboren, am 13. November 2015 erklärte einer der Täter im Bataclan, er übe „Rache für unsere Brüder in Syrien“, er hat, während er mordete – wieder die Zeugenaussage von Edith – „diese kleine Ansprache über Syrien gehalten, als sei ihm das eigentlich völlig egal, als hätte er es auswendig gelernt und als glaubte er nicht einmal selbst dran, das Einzige, was sie interessiert hat, war, auf uns zu schießen.“
Die Abwesenheit von jedem Grund ist die Erfahrung des Abgrunds, dass alles, was lebt und liebt und tanzt, genauso gut nicht leben könnte, nicht lieben, nicht tanzen. Dass allem und jedem eine Bedeutung beigemessen werden mag, die jederzeit wieder abgezogen werden kann: „Alles ist grundlos“, schrieb Jean-Paul Sartre 1938, „dieser Park, diese Stadt und ich selbst.“ Konzertbesucher im Bataclan ebenso wie „unsere Brüder in Syrien“, wildfremde Menschen in die Luft sprengen ebenso wie mich selbst. Der Blick in den Abgrund saugt ins Nichts hinein, möglicherweise ist dies, was Terror und Kunst verschwistert: In ihren stolzen Momenten verstehe sich Kunst, so die Überlegung von Rüdiger Safranski, als creatio ex nihilo, als schöpferische Kraft, die aus dem Nichts heraus sich selbst erschaffe, das Nichts sei ihre „innere Produktionsbedingung“, sie werde es nicht los, Kunst habe „das Nichts zur Mitgift“.
Am Rande des Nichts haben sich Künstler und Denker nicht selten aufgereiht, nicht wenige sind an den Abgrund des Terrors vorgerückt, „ein gewisses Prahlen mit Grausamkeit“ wirke einfach revolutionär und die „Maske der Grausamkeit“ verführerisch, so hat Hannah Arendt diese Liaison beschrieben: als eine Art „Bombenexpressionismus“: Ernst Jünger und der Che Guevara-Chic, Judith Butler und der Achille Mbembe-Sound, barbarische Vergewaltigung als „Widerstand“, zermetzelte Zivilisten als eine „Vision der Freiheit“ … Wenige Wochen nach dem Gemetzel in Paris erklärte Mbembe, in Deutschland mit Preisen behängt, suicid bomber seien „Märtyrer“, denen es gelänge, „Sterblichkeit zu überwinden“, sei es die eigene oder die von anderen, das Böse?
Ist exakt so schillernd und bigott wie die es sind, die sich in ihm erkennen.
(III)
„Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man lässt.“ Der Sinnspruch stammt von Wilhelm Busch, die Idee dahinter von Arthur Schopenhauer, er hat den augustinischen Satz, das Böse sei die Abwesenheit des Guten, gleichsam umgekehrt: Die Welt sei ganz und gar nicht gut geschaffen, vielmehr die schlechteste aller denkbaren; was immer dem Bösen in dieser Welt widerspreche, so der Philosoph des radical chic, fahre nur zeitweilig dazwischen. Ein Blick zurück, ein Video:
Felsiger Strand, tiefer Sand, dramatische Wolken, das Mittelmeer in Libyen neun Monate vor den Massakern in Paris. 21 Männer, in leuchtendes Orange gekleidet, die Hände auf dem Rücken gefesselt, werden von 21 in Schwarz verhüllten Männern ins Bildzentrum geleitet, der Aufzug gleicht einer Prozession, sie nehmen Aufstellung, einer der Vermummten deklamiert in Richtung Kamera – es sind mehrere aufgebaut, die Szene ist sorgfältig inszeniert, der Film macht auf Kunst und Kunstfreiheit – einer deklamiert und verheißt „etwa Gutes“, nämlich die „Hoheit des Schreckens“, und bevor den 21 gefesselten Männern die Kehlen zersäbelt werden, zoomt die Kamera einzelne Gesichter heran, keine Spur von Panik ist darin zu lesen, keine Angst, sie wirken ruhig und konzentriert, der Blick gelassen, die Augen klar, einer von ihnen, Gaber, hält sie geschlossen, seine Lippen flüstern ein Gebet, nicht einer schreit auf, als die Messer ansetzen, „nur ein Gewirr leiser Stimmen: ‚Jarap Jesoa! – Herr Jesus‘!“
„Als ob die Grausamkeit der Mörder ihr Innerstes nicht erreicht hätte.“
Schreibt Martin Mosebach, Schriftsteller, Katholik, nie linkskatholisch, ihn haben diese Bilder aus Libyen, wo die 21 als Zeitarbeiter gelebt haben, nicht mehr verlassen, also ist er hineingereist in die Welt koptischer Christen, er hat die Familien der Ermordeten in Ägypten aufgesucht. Die koptische Kirche, eine der ältesten, war im 3. Jh nC wie keine andere von der römischen Macht verfolgt, bis heute versteht sie sich als „Kirche der Märtyrer“, in ihr hat sich eine Alltagsfrömmigkeit entwickelt, die im Westen fremd und auch Mosebach unvertraut ist. Aufgewachsen sind die 21 – einer von ihnen, Matthew, stammt aus Ghana, heute zählt die koptische Kirche auch ihn zu ihren Heiligen – aufgewachsen sind sie in einer Gewissheit, die ihr gesamtes Leben durchdringt und die Mosebach nun wie ein Mysterium erlebt: Fatalismus erweist sich als Geborgenheit, Wunderglaube als alltagstüchtig, Wehrlosigkeit als Widerstand. Die koptische Kirche ist eine vitale Kirche, in ihrer Abgeschlossenheit hat sie „die Eigenschaften der frühen Christenheit bewahrt“, schreibt Mosebach, „in jeder Familie gab es ein iPad, auf dem man das Video in voller Länge, ohne schonungsvolle Bearbeitung und Schnitte, abrufen konnte.“ Der filmische Horror ist familiärer Alltag, in keinem seiner Gespräche sei jemals Vergeltung gefordert worden oder auch nur eine Bestrafung der Killer, „es war, als wolle man sich mit den Mördern gar nicht beschäftigen … “
Als er sich von einer der Familien verabschieden will, versammelt sie sich vor dem Schrein mit dem Bildnis des Ermordeten, daneben stehen Pokale aus poliertem Blech, liegen liturgische Hemden und mobile Telefone und was die Ermordeten hinterlassen haben, jetzt stehen alle davor, die Großen und die Kleinen „und sangen diesen Hymnus mit zum Gebet erhobenen Händen“. Ein rhythmischer Gesang, „nicht besonders sakral, sondern heiter und spielerisch“, wie Mosebach schreibt, „der Hymnus glich nicht den Gesängen der Liturgie. Mir schien, sein Ziel sei, die Empfindungen der Trauer jedes einzelnen in einen gemeinsamen Strom einzuspeisen, der diese Empfindungen verwandelte.“ Er hört, er wird eingesogen in den Strom, er fragt sich still, was wohl die Mörder dazu sagen würden, dass hier, in diesem Menschenkreis, „aus der Anstrengung, schrankenlosen Terror zu erzeugen, etwas ganz anderes wurde“.
(IV)
Die 21 Männer am libyschen Strand, Bruno und Edith im Bataclan … als prallte die Grausamkeit der Mörder vor deren Innerstem ab. Als gäbe es etwas, das unerreichbar bliebe für Schlachtermesser und das Kaliber 7,62 mm, „da hat man explodierte Schädel“, wie ein Ermittler im Pariser Prozess erklärte, hat einen Konfetti-Regen aus Menschenteilen in einer Streuzone von 50 Metern. Was ihr Ich zusammengehalten hat am Strand von Sirte und im Bataclan, das haben 7,62 mm nicht zersprengt und nicht zerstreut und kein Messer zerschnitten. Die 21 Kopten waren Chorsänger, sechs von ihnen waren als Hymnensänger ordiniert, allen war bewusst, wozu ihre Kehlen erschaffen worden waren und was sie erschaffen können, den dreistündigen Text der Liturgie kannten sie auswendig: „Die einzelnen Melodien unterscheiden sich zwar, aber nur sehr geringfügig“, schreibt Mosebach, „dieser Gesang ist bestrebt, die gesamte Liturgie zu einem einzigen strömenden Fluss zusammenzuschmelzen.“ Während die Priester ihre Gebete unhörbar flüstern, füllt der Gesang des Chores den Raum, er ist Klang und Dichtung und Rhythmus, er will „die Seele für die Mysterien öffnen …“
Wirkt das fremd? Im Prozess gegen die Bataclan-Killer sagt auch Jesse Hughes aus, er ist Sänger der Eagles of Death Metal, jener Band, die selber von der Bühne geschossen werden sollte. Als er den Zeugenstand verlässt, entsteht ein Spalier, das Rockfans bilden „mit ihren Tattoos auf den Oberarmen und Lederjacken und Ohrringen“, sie haben alle das Massaker überlebt, Jesse Hughes umarmt jeden von ihnen und jede, und jeder von ihnen und jede umarmt Jesse Hughes, eine „riesige Woge von Freundschaft“ flutet den Raum, „ein unglaublich bewegender Moment“, schreibt Emmanuel Carrère, „ich fand überhaupt nicht mehr, dass die Behauptung ein Klischee war: You can’t kill Rock n‘ Roll.“
Als hätte die Grausamkeit der Mörder die Musik nicht erreicht, nicht ihre Fans, nicht deren Innerstes, ein letzter Schwenk zurück in das Ägypten der 21: „‘Sie waren wie wir alle‘“, diesen Satz hat Martin Mosebach immer wieder in seinen Gesprächen gehört, sie waren keine „spirituellen Genies“, keine „Meister der Meditation“, ihr unverletzliches Selbst war ihnen so selbstverständlich und gewiss wie die Sonne am Tag und der Mond bei Nacht. Und ebenso gewiss, dass sie ihr Selbst nie aufgeben werden, es gar nicht aufgeben können, es ist ihr Verborgenes, ihr Mysterium. An dieses Geheimnis – das Wort stammt von Martin Luther, mit ihm hat er Mysterium übersetzt – reicht Terror nicht heran, das Böse, das Terror zelebriert, ist leer: „Beruf?“ fragte der Vorsitzende Richter, und Salah Abdeslam, einziger Überlebender der Terror-Clique von Paris, antwortete und sprach: „Kämpfer des Islamischen Staates“. Der Richter blätterte in seinen Unterlagen: „Bei mir steht: Zeitarbeiter.“
So wie es die 21 Kopten waren. Kein Böses ist mysteriös, kein Terror geheimnisvoll, kein Hamas-Killer komplex. Ein Mysterium ist und ein Geheimnis, wer dem Terror entzieht, was der nicht zerstören kann.
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Emmanuel Carrère
V13. Die Terroranschläge in Paris – Gerichtsreportage. Berlin 2023
Martin Mosebach
Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer. Hamburg 2018
CHORWERK RUHR
Christuskirche Bochum | Sonntag 14. April 17:00 Uhr
Werke von Andre Caplet (1878 – 1925) und Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)
Chorwerk Ruhr (Frauenchor)
Les Essences
Mezzosopran: Ulrike Malotta
Dirigentin: Julia Selina Blank
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