„Das Allerwichtigste ist, dass möglichst viele Leute wählen gehen.“ Eine hohe Wahlbeteiligung als wichtigstes Ziel zu sehen, gilt als politisch höchst korrekte Einstellung. Leider ist sie falsch. Ein Zwischenruf von Florian Aigner.
Kein Zweifel: Demokratie lebt davon, dass möglichst viele Leute gemeinsam Entscheidungen treffen. Dass die Wahlbeteiligung in den letzten Jahrzehnten gesunken ist, sollte uns durchaus Sorgen machen. Wäre es nicht am klügsten, alle Parteien einigten sich auf einen gemeinsamen Aufruf zum Wählen? Sollten wir politisch uninteressierten Menschen auf die Schulter klopfen uns sagen: Egal was du wählst – geh einfach hin! Hauptsache du machst dein Kreuzchen!
Nein, das sollten wir nicht.
Das ist verkehrt herum gedacht. Das Wahlrecht ist nicht eine nette Freundlichkeit, die wir liebenswürdigerweise an jeden austeilen, wie Schwimmwesten auf dem Ausflugsboot oder Probepackungen einer neuen Kaugummisorte. Das Wahlrecht kommt mit einer moralischen Verantwortung. Als stimmberechtigte Staatsbürger sind wir nicht bloß aufgerufen, ein kleines Kreuzchen auf einen Zettel zu malen, wir sind aufgerufen, uns zu informieren, wichtige Themen durchzudenken, mit anderen zu diskutieren und am Ende eine wohlinformierte Entscheidung zu treffen.
Dieser Aufruf ergeht natürlich an alle – und es wäre schön, wenn möglichst viele Leute ihm folgen würden. Aber wer wählen geht, hat zuallererst die moralische Verpflichtung, über Politik Bescheid zu wissen. Das Wahlrecht ist auch eine Last. Wir müssen uns mit Wahlprogrammen auseinandersetzen, Fernseh-Duelle irgendwelcher Spitzenkandidaten ertragen und Steuerreformideen miteinander vergleichen. Das nimmt vor jeder Wahl dutzende Stunden in Anspruch, das ist mühsam – aber natürlich sollte die Demokratie uns das wert sein.
Wichtig wäre es allerdings, genau diese Botschaft zu vermitteln: Wählen ist mühsam, aber es ist wichtig. Geh wählen, aber triff eine informierte Entscheidung! Streite mit deinen Freunden über politische Parteien! Klick dich durch die Webseiten! Quäle dich zumindest durch irgendwelche Wahl-o-mat-Fragen und sieh dir an, welche Parteien die Welt so ähnlich sehen wie du!
Wen das alles nicht interessiert, wer die ideologische Ausrichtung der größeren Parteien nicht in ein paar Sätzen zusammenfassen kann, wer gar keine Ahnung davon haben will, welche Bevölkerungsschichten von welcher Partei profitieren würden – den würde ich auch nicht zum Wählen überreden wollen. Für den ist es vielleicht besser, er bleibt am Wahltag zu Hause. Ich würde ihm über den Wert der Demokratie erzählen und ihm nahelegen, sich in Zukunft mehr mit Politik zu beschäftigen. Wenn er das macht, soll er beim nächsten Mal unbedingt wählen gehen. Wenn ihm das zu mühsam ist, entfernt er sich selbst aus dem politischen Diskurs.
Eine Wahl ist eine Operation am offenen Herzen unserer politischen Zukunft. Natürlich wäre es schön, wenn alle Leute erfahrene politische Herzchirurgen wären. Aber wer sich dafür noch nie interessiert hat, sollte das Skalpell vorerst lieber noch nicht anfassen.
Ein guter Text. Jeder Wähler muß sich im klaren darüber sein, daß letztlich er die Verantwortung für die Regierung und deren Handeln trägt. So wie der Aufsichtsrat eines Unternehmens letztlich für das Versagen eines von ihm selbst bestellten Vorstands die Verantwortung übernehmen muß. Die Entscheidungen treffen andere. Aber der Wähler hat zu entscheiden, wem er die Entscheidungen zutrauen kann und wer in seinem Sinne agieren wird. Und das erfordert Engagement. Wer sich mit dem "Informationsangebot" des Fernsehens begnügt, bleibt auch am Wahltag besser vor der Glotze hocken und wartet auf die Resultate, zu denen er nichts beigetragen hat.
Der Vergleich mit einem Aufsichtsrat hinkt und zeigt so aber auf, wo das Problem mit der deutschen Parteiendemokratie ist. Während ein Aufsichtsrat den Vorstand ständig kontrolliert, darf der Bürger nur alle vier oder fünf Jahre seine Stimme abgeben und ist danach vier bis fünf Jahre ohne Stimme, denn die hat er ja ‚abgegeben‘. Diese Stimme hat jetzt ein Politiker, der damit machen kann, was er will. Wenn das etwas ist, wofür er die Stimme nicht bekommen hat, so hat der Wähler keine Möglichkeit seine Stimme zurück zu fordern. Er kann nur warten und hoffen, dass der nächste Politiker, der seine Stimme bekommt, der Willen der Wähler mehr achtet, als die Anweisungen seiner Parteiführung.