Gelsenkirchener Verhältnisse

Gelsenkirchen liegt endlich mal vorne – Screenshot WAZ

Die Stadtgesellschaft interessiert sich nicht mehr für Politik und die SPD feiert sich.

Wer sich am Abend des Wahlabends in Rathaus in Gelsenkirchen verirrte, konnte meinen, dass die SPD einen grandiosen Wahlsieg errungen hat. Auf der Bühne stand der Bundestagsabgeordnete Markus Töns neben der OB-Kandidatin Karin Welge und feierte den Wahlerfolg. Der spärlich besuchte Saal reagierte mit stehenden Ovationen und Welge-Rufen.

Das erinnert an Pippi Langstrumpf und „ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“. Was war passiert? Die Genossen haben eine krachende Wahlniederlage erlitten. Die SPD hat 15,1 Prozent ihrer Wähler verloren. Hinter dieser Zahl verbergen sich 14395 Menschen, die der SPD nicht mehr ihre Stimme gegeben haben. Rechnet man die Zahl der sozialdemokratischen Wähler auf die Zahl der Wahlberechtigten hoch, dann bleiben nur niederschmetternde 14 Prozent der Bürger übrig, die hier ihr Kreuz gemacht haben.

Die Genossen bleiben ihrem Motto treu, die Probleme der Stadt nicht zum Thema zu machen und die Lage schönzureden – auch die eigene. Bei der CDU ist man ebenfalls zufrieden, mit dem Ergebnis von 23,2 Prozent. Dabei ist die Zahl der Wähler zur letzten Wahl 2014 fast gleich geblieben. Die beiden „Volksparteien“ blenden dabei aus, dass in der ehemaligen Stadt der Tausend Feuer, die Menschen kaum Interesse am demokratischen Prozess haben. Die Wahlbeteiligung lag bei 41,5 Prozent und das heißt, dass 58,5 Prozent der Wahlberechtigten nicht gewählt haben. Das sind in nackten Zahlen 111 477 Menschen. Hinzu kommen die rund 33 000 Menschen, die nicht aus der Europäischen Union kommen und nicht wählen dürfen.

Die zweite Katastrophe liegt in dem Ergebnis der AfD mit 12,9 Prozent. In NRW blieb die Partei weit hinter ihren Erwartungen zurück. Ganz anders in Gelsenkirchen, denn hier das ist die Hochburg der Partei im Westen. Das ist umso erstaunlicher, da die AfD sich an der kommunalen Politik nicht beteiligt und keinen Versuch macht, Lösungen zu entwickeln.

Für die Wahl zum Amt des Bürgermeisters hat die Partei den Bundestagsabgeordneten Jörg Schneider aufgestellt. Das Hamburger „Bündnis gegen Rechts“ nennt ihn den „ersten rechtsextremistischen MdB seit 60 Jahren“. Jörg Schneider gehört der Hamburger Burschenschaft Germania an und seit 2014 widmet der Verfassungsschutz den Germanen jährlich ein eigenes Kapitel.

„Es läuft seit vielen Jahren etwas ab, was ich Demokratie–Entleerung genannt habe. Das heißt der Apparat läuft wie geschmiert, aber das Vertrauen von Teilen der Bevölkerung in die Lösung bestimmter Probleme hat abgenommen“, sagt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer. „Auf der anderen Seite gibt es so etwas wie gesellschaftliche Desintegration für bestimmte Gruppen. Sie haben kein Vertrauen mehr in die Demokratie und merken, dass bestimmte Zugänge zu Systemen wie Arbeit – oder nehmen Sie die größeren Städte den Wohnungsmarkt – nicht mehr möglich sind. Diese gesellschaftliche Desintegration führt dazu, dass Menschen sich nicht anerkannt fühlen. Diese Anerkennungsdefizite tragen enorm dazu bei, dass plötzlich diese kulturelle Karte gezogen wird. Deutsch-Sein wird als Anerkennungsressource aktiviert“.

Die Themen für den Wahlkampf liegen quasi auf der Straße und ein Spaziergang durch die Quartiere bietet genug Anschauungsmaterial. Das alles entscheidende Thema ist der Mangel an Arbeit und vor allem an gut bezahlter Arbeit. Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt fehlen in der Stadt rund 23 000 Arbeitsplätze. Wenn hier neue Jobs entstehen, sind es oft Beschäftigungen in den schlecht bezahlten Bereichen Logistik und Dienstleistungen. „Immerhin kann es nicht weiter bergab gehen, denn wir sind schon ganz unten“, analysierte Kämmerer Rainer Kampmann (CDU) 2010 die Lage. Damals lag er richtig, aber leider war seine Prognose zu optimistisch. Das Durchschnittseinkommen in der Stadt ist inzwischen das niedrigste bei den Großstädten in Deutschland und die Armut trifft mehr als 40 Prozent der hier lebenden Kinder. Durch Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau und Armutszuwanderung sind viele Stadtteile zu „Problemvierteln“ geworden. Gelsenkirchen ist hoch verschuldet und durch die Pandemie sinken die Einnahmen bei der Gewerbesteuer um bis zu 80 Prozent. Insolvenzen und Arbeitslosigkeit werden im Herbst neue Rekordwerte erreichen. In der Krise haben viele Unternehmen die „Schockstarre“ genutzt, um Entlassungen und Betriebsverlagerungen anzukündigen. Die Menschen in Gelsenkirchen haben eine geringere Lebenserwartung. Im Wahlkampf hat das alles kaum eine Rolle gespielt und die Parteien haben lieber über Fahrradwege und Sauberkeit auf den Straßen gesprochen.

Wenn die Politik keine Lösungen für die Probleme anbietet, wird die Zahl der Nichtwähler weiter steigen und die AfD wird in solchen Kommunen erfolgreich sein. Die Pandemie verschärft die bekannten Problemen in vielen Städten. Vielleicht sind die Gelsenkircher Verhältnisse nur so etwas wie ein Muster für die Zukunft anderer Regionan. Am 27. September gehen Malte Stuckmann (CDU) und Karin Welge (SPD) in die Stichwahl, um das Amt des Oberbürgermeisters. Dann wird nach Einschätzung von Experten die Wahlbeteiligung noch niedriger sein.

Der Beitrag ist auch auf der Seite podcast.ruhr erschienen.

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der, der auszog
der, der auszog
4 Jahre zuvor

Im Artikel heißt es:
„Immerhin kann es nicht weiter bergab gehen, denn wir sind schon ganz unten“, analysierte Kämmerer Rainer Kampmann (CDU) 2010 die Lage"

Stadtkämmerer in Gelsenkirchen war 2010 (bis 2015) Dr. Georg Lunemann als Nachfolger von Lars Martin Kleve. Rainer Kampmann ist meines Wissens nach seit 2004/5 beim WDR beschäftigt gewesen und arbeitet seit 2014 bei Deutschlandradio.

Wattenscheid 09
Wattenscheid 09
4 Jahre zuvor

Die meisten Leute wählen AFD weil ihnen die Armutsmasseneinwanderung auf den Zeiger geht. In GE gibt es ca. 15.000 – 20.000 Zuwanderer aus den entsprechenden Balkan-/Orientregionen, die in einigen Stadtteilen das Bild prägen. Geringe Beschäftigungsquote, null Leistungs- oder Aufstiegsorientierung, dafür hohe Reproduktions- und Transferquote sind üblich. Ohne diese Klientel würde die Statistik deutlich besser aussehen. Leute von außerhalb, insb. aus Ostdeutschland und aus ländliche Gebieten schlagen die Hände über den Kopf zusammen, wenn sie am Bahnhof aussteigen und im Orient landen. Linksgrüne refugees-Welcome-Aktivisten in ihren mietpreisgated Communities des südlichen Ruhrgebietes und die Esken-SPD sind vollkommen ignorant gegenüber dieser Problematik und fordern weiteren Zuzug. Frau Welge träumt weiter von Multikulti, pc, und anderen Untergangsideologien , wie sie auf einer Ückendorfer Bürgerversammlung zu verstehen gegeben hat.

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