Sicherheitswarnungen, auch über die Landesgrenzen hinaus, überschatteten mehrere diesjährige Gedenkveranstaltung zum Genozid an den Armeniern in Deutschland und stellen eine neue Gefahrendimension dar. Auch dass türkische Gegendemonstranten in Kontakt mit dem türkischen Konsulat zu stehen scheinen, ist ein ernstzunehmendes Signal. Was war geschehen? Von unserem Gastautor Ilias Uyar.
Am 24. April eines jeden Jahres erinnern sich weltweit Menschen an den Auftakt des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich. Am 24. April 1915 wurden in der osmanischen Hauptstadt Istanbul hunderte armenische Intellektuelle des Hochverrats bezichtigt, festgenommen und deportiert. Fast alle wurden während der Deportationen ermordet. Nachdem die armenische Elite, darunter Schriftsteller, Geistliche, Ärzte, Abgeordnete und Rechtsanwälte, umgebracht wurde, trieb man aus allen Landesteilen die armenische Bevölkerung in Todesmärschen durch Anatolien in die syrische Wüste. „Das Ziel der Verschickung ist das Nichts“, hatte der türkische Verantwortliche, Innenminister Talaat Pascha, den Zweck der Verschickung beschrieben. 1,5 Millionen Armenier kamen so bei dem planmäßig und staatlich organisierten Völkermord um, dem ebenso hunderttausende Aramäer, Assyrer, Pontos-Griechen und andere Minderheiten zum Opfer fielen. Dass mit den Osmanen alliierte Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. war genauestens über den Völkermord informiert. Anstatt einzugreifen und für die christlichen Armenier zu intervenieren, war Berlins Haltung klar: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht“, befand Reichskanzler Bethmann Hollweg während des tobenden Völkermordes an den Armeniern.
Eine Haltung, die auch in der Bundesrepublik lange unterschwellig die politische Einstellung prägte. Obschon Raphael Lemkin, der Vater der UN-Völkermordkonvention und Erfinder des Wortes „Genozid“, sich bei der Begrifflichkeit explizit auf die Vernichtung der Armenier und Juden bezog, herrschte lange Zeit Schweigen in Deutschland.
Die Haltung der Bundesrepublik änderte sich, als am Vorabend des 24. April 2015, dem 100-jährigen Gedenktag des Genozids, Bundespräsident Gauck von „Völkermord an den Armeniern“ sprach und davon, dass „wir Deutsche insgesamt uns noch einmal der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen gar um eine Mitschuld, am Völkermord an den Armeniern geht.“
Bundesweite Drohungen gegen Armenier
Jahrelang wurden in Deutschland Gedenkveranstaltungen abgehalten, zum Teil auch unter Polizeischutz, aber 2019 stellt eine neue Qualität der Bedrohung der Armenier dar. In Stuttgart musste die Kirche wegen Hinweisen des BKA geräumt werden, so dass die Gedenkveranstaltung in der Lutherkirche nicht stattfinden konnte. Die ersten Gäste hatten schon in der evangelischen Kirche Platz genommen, als der Pfarrer der armenischen Gemeinde Baden-Württemberg von der Polizei gebeten wurde, die Kirche ohne Panik zu verlassen. Anscheinend hatte das BKA Hinweise erhalten, die so bedrohlich waren, dass die Presse von „Terroralarm“ sprach. Der Staatsschutz ermittelt aktuell in dieser Angelegenheit.
Gegendemonstranten in Köln halten Rücksprache mit türkischem Konsulat
Dies war jedoch nicht der einzige Vorfall. In Erlangen wurde einige Tage vor dem internationalen Genozid-Gedenktag ein geweihter Kreuzstein umgeworfen vorgefunden. In Köln versammelten sich am 24. April 200 Menschen zur Gedenkveranstaltung. Die Initiative „Völkermord erinnern“ hatte ein Mahnmal errichtet, dass an den Völkermord und zugleich an die deutsche Mitverantwortung erinnert. Unterstützt wurde die Gedenkveranstaltung neben armenischen Vereinen, von einer Vielzahl jüdischer und türkischer Organisationen sowie christlicher Kirchen. Als Initiatoren und Helfer das Genozid-Mahnmal wieder abtransportierten wurde ihnen von zwei „Gegendemonstranten“ nachgestellt, die sie auch mehrfach fotografierten. Weitere Gegendemonstranten, einer mit einer Bierflasche in der Hand, die auf die Initiatoren und Helfer bedrohlich zuliefen, konnten nur in letzter Sekunde durch die anrückende Polizei aufgehalten werden. Einigen türkischsprachigen Initiatoren der Kölner Gedenkveranstaltung blieb nicht verborgen, dass die Gegendemonstranten offenbar nach der Veranstaltung beim Abtransport des Genozid-Mahnmals mit einem Mitarbeiter des türkischen Konsulats telefonierten und Rücksprache hielten.
Armenische Kirche erstattet Anzeige wegen Schändung
Doch die Vorfälle gingen weiter. Auf YouTube wurde am 26. April ein Video von einem türkisch sprechenden jungen Mann hochgeladen, der sich selbst dabei filmte, wie er den armenischen Kreuzstein, der 2005 für die Opfer des Völkermordes in Braunschweig geweiht wurde, schändet und die Drohung ausspricht, eines Nachts nochmal vorbeischauen zu wollen. Bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig hat die Armenische Kirche Strafanzeige erstattet, der YouTube-Kanal ist mittlerweile gelöscht.
Auch die zentrale Gedenkveranstaltung, die die Armenische Kirche gemeinsam mit dem Zentralrat der Armenier seit Jahren in der Frankfurter Paulskirche abhält, wurde dieses Jahr von Drohungen überschattet.
Vorgesehen war eine Ansprache von Mourad Franck Papazian, Co-Präsident des Koordinierungsrates der armenischen Vereine in Frankreich. Papazian hatte sich dafür eingesetzt, dass der 24. April in Frankreich zum nationalen Gedenktag für die Opfer des Genozids an den Armeniern erklärt wurde. Zu seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche kam es jedoch nicht. Dringende Warnungen der französischen Sicherheitspolizei (dem BKA entsprechend), dass Papazian zur Zielscheibe türkischer Extremisten in Deutschland werden könnte, zwangen den Redner wegen der akuten Bedrohungslage zur Absage seiner Reise zur Gedenkveranstaltung.
Auch hieran zeigt sich, dass die Angriffe eine neue, sehr bedrohliche Dimension erreicht haben. So hat sich der Primas der Armenier in Deutschland an Bundesinnenminister Horst Seehofer und den BKA-Präsidenten gewandt. Der Primas schrieb unter anderem: „Die armenische Gemeinschaft ist über diese Vorkommnisse sehr besorgt. Wir fühlen uns in unserem Gedenken gestört und sehen unsere Gedenkorte und unser Gemeindeleben bedroht. Wir sind uns sicher, dass das BKA auf Bundes- und die LKAs auf Landesebene alles Mögliche unternehmen werden, die Verantwortlichen der geschilderten Vorfälle in Rechenschaft zu ziehen. Wir möchten uns in Deutschland nach wie vor in Sicherheit wissen und das sichere Gefühl haben, dass unser Gemeindeleben geschützt ist.“
Diese Angriffe auf das Gedenken erinnern an die akute Sicherheitslage kurz nach Verabschiedung der Armenien-Resolution im Bundestag, als alle türkeistämmigen Bundestagsabgeordneten unter besonderen Polizeischutz gestellt werden mussten. Einen Tag vorher, am 1. Juni 2016, vor der Verabschiedung der Resolution, hörte die Polizei ein Telefonat des türkischen Staatspräsidenten Erdogan ab. Der Polizei ging es dabei um die inzwischen verbotene türkisch-nationalistische Gruppierung „Osmanen Germania“, die im Zuge von Ermittlungen wegen organisierter Kriminalität abgehört wurden. In dem abgehörten Telefonat wurde Staatspräsident Erdogan, so der SPIEGEL, von dem AKP-Abgeordneten Metin Külünk über die Demonstration gegen die Armenien-Resolution des Bundestags informiert und um Anweisung gebeten. Viele türkische Verbände und Vereine lassen sich vor den Karren Ankaras spannen, übernehmen die Leugnungspolitik und versuchen sie in Deutschland umzusetzen.
Der Zentralrat der Armenier wendet sich an die Öffentlichkeit
Ein friedliches Gedenken an den Armenier-Genozid scheint in Deutschland schier unmöglich zu sein. So schreibt der Zentralrat der Armenier in einer Pressemitteilung: „Offenbar können die Armenier in Deutschland nicht einmal ungestört an die Vorfahren und die Opfer des Völkermords gedenken. Die türkische Leugnungspolitik hat damit in Europa neue Dimensionen erreicht. Gegen die systematisch verfolgte Leugnungspolitik der Türkei brauchen wir gerade deswegen eine Institutionalisierung der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern in Deutschland. Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern muss Teil des erinnerungspolitischen Diskurses in Deutschland und Europa werden.
Nach der Bundestagsresolution des Jahres 2016 sind aber keine weiteren Schritte in dieser Richtung unternommen worden. Die in der Resolution angesprochenen Ziele und Maßnahmen wurden nicht ansatzweise umgesetzt. Der Gedenktag selbst findet kaum Resonanz in Politik und Öffentlichkeit, er bleibt vielmehr weiterhin ausschließlich der armenischen Gemeinschaft selbst überlassen.“
Ebenso ruft die Armenische Kirche in Deutschland „alle Verantwortlichen aus der Politik dazu auf, dem kollektiven Gedenken der Opfer des Genozids an den Armeniern, welcher im Juni 2016 durch die fraktionsübergreifend verabschiedete Armenier-Resolution auch in Deutschland anerkannt worden ist, die notwendige Bedeutung und Achtung zu schenken.“
Die Armenien-Resolution des Bundestages klang vollmundig: „(…) innerhalb Deutschlands Initiativen und Projekte in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kultur zu fördern, die eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von 1915/1916 zum Thema haben.“
Hieß es noch 2016 in der Resolution, die alle Parteien im Bundestag unterstützten: „Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich in der Verantwortung, die Aufarbeitung dieses Verbrechens zu fördern und die Erinnerung daran wachzuhalten“, muss man heute festhalten, dass ein friedliches Gedenken an die Opfer des Völkermordes an den Armeniern akut bedroht ist und die armenische Gemeinde damit weitgehend alleine gelassen wird.
Die Armenische Gemeinde will sich den Drohungen jedoch nicht beugen. In Baden-Württemberg hat sie angekündigt die wegen Terroralarm abgesagte Gedenkveranstaltung in Stuttgart nachholen zu wollen. Die Einladungen an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, und die Landtagspräsidentin Muhterem Aras wurden bereits versendet.
Es bleibt zu hoffen, dass Politik, Gesellschaft und Kirchen adäquat auf diese neue Bedrohungssituation reagieren und sich solidarisch mit der armenischen Gemeinschaft in Deutschland zeigen. Ob die Bundesrepublik der selbst auferlegten Verantwortung gerecht wird und die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern und die Erinnerung daran gemäß Armenien-Resolution fördern und wachhalten wird, bleibt nicht nur in Stuttgart, Köln, Braunschweig, Erlangen und Frankfurt abzuwarten. Geschieht nicht mehr als bisher, wäre dies ein fatales Signal an die Leugner des Genozids und würde den Nährboden für weitere Angriffe auf das Gedenken schaffen.
"Es bleibt zu hoffen, dass Politik, Gesellschaft und Kirchen adäquat auf diese neue Bedrohungssituation reagieren und sich solidarisch mit der armenischen Gemeinschaft in Deutschland zeigen."
Frag mal Israel wie deutsche Solidarität in der Praxis aussieht. Einmal bei 21 Abstimmungen für Israel sein, 4 mal enthalten und 16 mal dagegen. Gleichzeitig eifrig Sanktionen gegen ein Land hintertreiben, dass gar nicht oft genug betonen kann, wie sehr es Israel vernichten möchte.