In Kristine Bilkaus Debütroman Die Glücklichen müssen die Protagonisten erkennen, dass sie in ihrem Nobelviertel kein Wohnrecht auf Lebenszeit haben und dass der Kopf rund ist, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Von unserem Gastautor Daniel Kasselmann.
Die Cellistin Isabell und der Journalist Georg wohnen in Hamburg in einer Gegend, die wie ein städtebaulicher Manufactum-Katalog anmutet, mit schicken Altbauten, Hutmacherei, Feinkostladen, Bistro, Floristenwerk, Yogastudio, Fitness-Spa, Manufakturläden und Konditorei mit vom Chefbäcker handgekneteten Brötchen. Bevor das Fahrzeug der städtischen Entsorgungsbetriebe in die Straße einbiegt, haben die Müllwerker sich schätzungsweise die Schuhe geputzt, ihre Sonntagsuniform angelegt sowie das Fahrzeug mit Duftsäckchen bestückt und singen während der Arbeit zur Erbauung der Anwohner „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“. Das war nicht immer so: Früher waren hier die Häuser grau und beschmiert, vor dem Kiosk an der Kreuzung hatte eine Gruppe Punks seinen Stammplatz und in einer Wohnung hauste noch ein Rentner ohne Heizung und Dusche, der sich noch die Briketts aus dem Keller holte. Dann wurde das Viertel Opfer der Gentrifizierung und eines der schönsten Symbole des Romans ist die Bauplane vor der Wohnung von Isabell und Georg, deren Haus als eines der letzten herausgeputzt wird. Isabell ist vor langer Zeit mit ihrer Mutter dorthin gezogen, als diese vor dem Mief der kleinstädtischen Reihenhaussiedlung ihres Exmannes hier her in die große Stadt flüchtete. Als die Mutter zu ihrem neuen Liebhaber zog, überließ sie Isabell die Wohnung, die dort mit wechselnden WG-Partnerinnen wohnte, bis Georg dort einzog. Inzwischen haben sie einen kleinen Sohn, Matti, um den sie sich abwechselnd kümmern, sie tagsüber, wenn Georg in der Redaktion ist und er abends, wenn Isabell im Musical-Theater im Orchestergraben sitzt.
Die Bauplane filtert das Licht, lässt es nur weichgezeichnet in die Zimmer der Wohnung scheinen und verhindert den unverstellten Blick nach außen auf die Realität. Das ist so im ersten Teil des Romans, der mit „Bald ist Winter“ überschrieben ist. Wir lernen Isabell und Georg kennen und die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben: In Georgs Redaktion mehren sich die Gerüchte über einen Verkauf oder eine Abwicklung seiner Zeitung, während Isabell beim Cello spielen mit einem merkwürdigen Zittern ihrer Bogenhand zu kämpfen hat, das sie vor ihrer Schwangerschaft nicht kannte.
Zum Ende des ersten Teils wird die Bauplane abgenommen, das Licht der Realität scheint nun ungefiltert und gnadenlos in das kleine Paradies von Georg und Isabell: Zur neuen Fassade spendiert der Vermieter einen schillernden Kronleuchter im Eingangsbereich, goldene Klingelknöpfe und eine saftige Mieterhöhung, Georgs Tage bei der Zeitung sind gezählt und Isabells Arbeitsfähigkeit auf Dauer fraglich.
Bereits im nächsten Kapitel – fünf Monate später – ist es soweit; beide sind inzwischen arbeitslos und als sie in den Urlaub an die Ostsee fahren, ist das von ihnen angemietete Apartment das erste Symbol für ihren sozialen Abstieg, das Bad auf der Etage, der Sandstrand rauher, die Pasta in der Pizzeria billiger, als das vormals im Hotel genossene Essen. Während Isabell darüber depressiv wird, kümmert Georg sich um Matti und macht sich seine Gedanken:
„Der billige Urlaub ist ein Gradmesser dafür, wie gut oder schlecht es läuft. Alles wird zum Indiz. Der billige Urlaub ist ein Blick in den Spiegel oder eine tagelange Vergegenwärtigung der begrenzten Möglichkeiten. Ein Vormittag auf der Hotelterrasse, den zweiten Obstsalat oder den dritten Kaffee vor sich, während das Zimmermädchen die Betten macht, besiegelt das beruhigende Gefühl, das alles so ist, wie es sein soll. Er dachte, sie könnten sich über so was hinwegsetzen.“
Dafür müssten sie grundsätzlich umzudenken. Um zu verstehen, wie das funktionieren kann, hätte Georg das Buch seines realen Journalistenkollegen Alexander von Schönburg lesen können, der mit „Die Kunst des stilvollen Verarmens. Wie man ohne Geld reich wird“ bereits 2005 ein Plädoyer für den Verzicht auf Luxus vorgelegt hat. Darin beschreibt er mit „Urlaub macht dumm“ Argumente gegen Ferienreisen und nimmt „‘Schön essen gehen‘ und andere Unarten“ aufs Korn.
Georg, der bereits vor Monaten im Rahmen einer Reportage den Aussteiger Björn und seine Frau Maud auf ihrem Bauernhof besuchte, hätte Björn besser zuhören sollen, als der ihm sagte, was er am Landleben nicht vermisst: „Dass ich mir nichts mehr kaufen muss. Um dem Vergleich standzuhalten.“ Dem Vergleich nicht mehr standzuhalten, ist Georgs und Isabells größte Angst. Georg durchforstet zwar immer wieder das Internet nach alternativen Bauernhäusern, aber die Erschwinglichen finden nicht seinen Gefallen oder sind renovierungsbedürftig und diejenigen, die seinen Gefallen finden, sind nicht erschwinglich. Kurz, er hat zwar eine diffuse Idee vom alternativen Leben auf dem Land, hat aber „Die Kunst, frei zu sein. Handbuch für ein schönes Leben“ von Tom Hodgkinson nicht gelesen, eine hilfreiche Lektüre zum Umdenken und Loslassen von althergebrachten, falschen Wunschvorstellungen der modernen Konsumgesellschaft. Lieber bewirbt er sich auf eine unterbezahlte Stelle als Lokalreporter ohne Festanstellung, prüft für sich die Möglichkeit des Lebens in der Kleinstadt und entwickelt eine Moral von der Mittelmäßigkeit der Provinz als seiner persönlichen Form der Autonomie, seine Alternative in der Wirtschaftskrise. Er ist dermaßen versnobt, dass die Option einer gutdotierten Anstellung als Journalist bei einem Luxusimmobilienmakler für deren Hochglanz-Kundenmagazin bei ihm nur Ekel auslöst.
Währenddessen shoppt Isabell trotzig im Feinkostladen und ballert in einer Boutique eine Viertelmonatsmiete für ein Kleid raus. Sie fährt solange die Vogel-Strauß-Taktik, bis Georg der Geduldsfaden reißt:
„Wir zahlen diese Wohnung – auf Bewährung. Bald können wir es vielleicht nicht mehr. Bald müssen wir uns etwas Neues überlegen. Und wenn nicht bald, dann später. In zwei oder drei Jahren kommt die nächste Mieterhöhung. Und dann wieder und wieder. Immer weiter – bis zum Ende der Fahnenstange. – Bei dir ist das alles noch nicht angekommen, oder? Aber ich versichere dir: Da gehen jeden Tag Beträge von unserem Konto ab, immer weiter und weiter, während du hier sitzt und das nächste Sushi bestellst. Das hier wird nicht bleiben. Kann es nicht. Wer weiß – wir schaffen es vielleicht nicht.“
Isabells Problem ist, dass sie in einer Kleinstadt großgeworden ist und in ihrer Altbauwohnung ihr Heim gefunden hat, auf das sie ein Wohnrecht auf Lebenszeit zu haben glaubt: „Sie wird es anders machen, als ihre Mutter, sie wird erst gar nicht erst in diese kleinbürgerliche Falle tappen, sie hat in einem solchen Leben nichts verloren.“ Geradezu psychotisch schraubt sie sich kurz darauf während einer Wohnungsbesichtigung in einer Kleinstadt in eine melodramatische Endzeitvision hinein:
.„Nun will Georg sich mit ihr vorstellen, hier zu leben; wie es ist, die Wohnung an der sie hängt, aufzugeben, das sollten sie sich zuerst einmal vorstellen. Jeder Tag wäre kostbar, ein sonniger Nachmittag im Wohnzimmer, sie geht barfuß über das warme Parkett. Georg liegt auf dem Sofa, mit Matti auf dem Bauch, sie legt sich dazu, zusammen auf ihrem riesigen Schiff, sie leisten sich diese Frechheit, drei Euro fünfzig teure Kuchenstücke zu essen. Dann werden sie diese Nachmittage an zwei Händen, an einer Hand abzählen können, werden auf den letzten Tag zusteuern. Sie würde die Gegenwart dieser Wohnung einsaugen, doch es würde nie genug sein. Sie kann ihren Krimskrams in Kartons verstauen, aber nicht die Zeit, die sie in diesen Räumen gelebt hat, die Zeit bleibt dort, sie hat sich in die Wände eingeschrieben, und wenn sie die Räume verlassen, verblasst und verschwindet die dort gelebte Zeit und die Zukunft, die sie zusammen vor sich gesehen haben, gleich mit.“
Isabell ist die Drama-Queen unter den Opfern von Wirtschaftskrise und Gentrifizierung, als hätte nicht Gundula Englisch bereits 2001 mit „Jobnomaden. Wie wir arbeiten, leben und lieben werden“ die Existenz des hypermobilen Arbeitnehmers der Generation 2.0 beschrieben. Schlimmer noch wiegt, dass Isabell es in ihrer Eigenschaft als Musikerin am Theater besser wissen müsste, denn Theatermacher haben längst das jobnomadische Programm internalisiert, denken in Produktions- oder Intendanz-Zyklen und vermerken in Hinblick auf mögliche Gast- und Vertretungsengagements in der Vita gerne die Liste der Städte mit ihren Zweitwohnmöglichkeiten.
Erst als die Situation verfahren bis ausweglos erscheint, ist es der Tod eines Menschen, der die Verhältnismäßigkeiten wieder gerade rückt und posthum eine Wahrheit über das Leben und Selbstverständnis der Nachkriegsgeneration offenbart, die dasjenige ihrer Kindergeneration, zu der auch Georg und Isabell gehören, mitgeprägt hat. So gibt es am Ende eine vage Hoffnung für „Die Glücklichen“ und die brandneue Erkenntnis, dass die einzige Sicherheit darin besteht, dass es nicht nur keine Sicherheit gibt, sondern nicht mal ein Anrecht darauf.
Kristine Bilkau wechselt in Die Glücklichen von Kapitel zu Kapitel immer wieder die Perspektive zwischen Isabell und Georg, so dass es dem Leser gut gelingt, die Probleme Desjenigen, aus dessen Perspektive gerade geschrieben und beschrieben wird, nachzuvollziehen. Die Zweiteilung des Romans folgt der Gewitter-Dramaturgie; im ersten Teil kündigt sich das Unheil mit dunklen Wolken am Horizont und Donnergrollen aus der Ferne an, welches sich dann im zweiten Teil als eigentliches Unwetter über den beiden Protagonisten entlädt, bis sie am Ende durchnässt sind und froh, dass ihr Elfenbeinturm nicht vom Blitz getroffen wurde.
Ein lesenswerter Debütroman, sofern man sich auf das Thema einlässt, dass die Wirtschaftkrise inzwischen auch die akademische Elite erreicht und ins Bildungsprekariat führt. Das Thema – siehe die Literaturbeispiele – ist nicht neu. Zudem nicht die komplette Fallhöhe der auf ALG I befindlichen Protagonisten ausgespielt wird, ihre Probleme bleiben Gejammer auf hohem Niveau. Man sorgt sich, wie sie später auf ALG II klarkommen wollen, wenn zu den wirtschaftlichen Problemen die entwürdigende Drangsalierung durch den bürokratischen Faschismus hinzukommt. Ein interessantes Horrorszenario, das uns Kristine Bilkau leider vorenthält.
Kristine Bilkau: Die Glücklichen
Luchterhand Literaturverlag München 2015
304 Seiten Hardcover, € 19,99, Kindle Edition € 15,99
ISBN 978-3630874531
Im Grunde freue ich mich, dass mal über ein belletristisches Buch bei den Ruhrbaronen gesprochen wird, doch in welcher Weise? Der präsentierte Artikel könnte genauso gut einen Artikel oder eine Doku behandeln. Völlig wurscht.