Gerd Müller, Stan Libuda und die Rote Armee Fraktion

Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Udo Lattek Foto: Nationaal Archief, Den Haag, Rijksfotoarchief: Fotocollectie Algemeen Nederlands Fotopersbureau (ANEFO) Lizenz: CC0

Mit seinem Buch „71/72 – Die Saison der Träumer“ zeichnet Bernd M. Beyer ein Porträt der Bundesrepublik zu Beginn der 70er Jahre und verbindet Sport, Politik und Popkultur. 

Am Samstag, dem letzten Spieltag der Bundesligasaison 2020/21, war es in der 90 Spielminute so weit: Robert Lewandowski schoss im Spiel Bayern München gegen den FC Augsburg sein 41 Saisontor und knackte damit einen Rekord, den Gerd Müller, ebenfalls als Spieler der Bayern, in der Saison 1971/72 aufgestellt hatte. Es ist die Saison, der Bernd M. Beyer ein ganzes Buch gewidmet hat. In „71/72 – Die Saison der Träumer“ geht es vor allem um Fußball: Bayern Münchens steigt zur bestimmenden Kraft im deutschen Fußball auf und lässt die damaligen Rivalen Borussia Mönchengladbach und Schalke 04 hinter sich, das am letzten Spieltag im Münchener Olympiastadion die Meisterschaft verliert. Als der Schalker Rolf Rüssman auf dem neuen Rasen aufläuft, sagt er zu seinen Mannschaftskameraden einen Satz von einer tiefen Weisheit: „Wenn wir hier nicht gewinnen, treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.“ 1971 und 1972 sind aber auch die Jahre, in dem Fußball zur Kunst wird:
Mönchengladbach besiegt 1971 Inter Mailand im Achtelfinale des Europapokals mit 7-1. Da die ARD nicht bereit war, mehr als 60.000 DM für die Übertragungsrechte zu zahlen, hat das wohl beste Match der Borussen und Günter Netzers Glanzvorstellung kaum jemand gesehen. Es wird zur Legende: Wegen des furiosen Spiels auf dem Rasen und der Sinnlosigkeit des Triumphes: Eine von einem Gladbacher Fan in der 28. Spielminute geworfene Limonadendose trifft den Stürmer Roberto Boninsegna am Kopf. Das Spiel muss wiederholt werden. Es wird zu einem Mythos. Die deutschen Nationalmannschaft gewinnt 72 die Europameisterschaft mit elegantem und schnellem Spiel. 1974 wird sie Weltmeister, allerdings ohne den Zauberfußball der Europameisterschaft.

Während München, Mönchengladbach und die Nationalmannschaft neue Maßstäbe im Fußball setzen, sorgt der Bundesligaskandal dafür, dass immer weniger Fans in die Stadien gehen. Warum Geld für geschobene Spiele ausgeben? Der Präsident von Kickers Offenbach hatte damals öffentlich gemacht, dass Spiele gekauft wurden. Unter anderem Bielefeld, Rot-Weiß Oberhausen, der 1. FC Köln und viele Schalker haben Spiele gekauft oder verkauft. Zahlreiche Schalker schworen zudem Meineide. Die wohl beste Schalker Mannschaft aller Zeiten zerbricht an diesem Skandal ebenso wie ihr größter Star: Stan Libuda. Genial, sensibel und unstet wird er sich von der Saison 71/72 nie mehr erholen.

Aber Beyer stellt einen Zusammenhang des Fußballs mit der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik zu Beginn der 70er Jahre her. Gehorsam hat an Bedeutung verloren. In der Nationalmannschaft wie überall im Land. Paul Breitner studiert neben seiner Profikarriere Sonderpädagogik. Der Jungstart der Bayern ist ein Linker, der weiß, was er als Spieler wert ist und hart über sein Gehalt verhandelt. Er besucht aus Neugier Ton Steine Scherben in ihrer Wohngemeinschaft am Tempelhofer Ufer in Berlin. Die Scherben sind begeistert. Nur Rio Reiser nicht. Der Sänger der Band interessiert sich nicht für Fußball. Neben Bundesliga, Nationalmannschaft und den Scherben bildet die RAF einen weiteren Erzählstrang. Die Terroristen morden sich durch das Land. Aber immer mehr von ihnen werden erschossen oder festgenommen. Und dann sind da auch noch die Olympischen Spiele 1972 in München: Fröhlich sollen sie werden und waren es am Anfang auch. Bis palästinensische Terroristen das israelische Team im Olympischen Dorf überfällt und die Sportler als Geiseln nimmt. Ein Befreiungsversuch der überforderten bayerischen Polizei auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck scheitert. Am Ende sind elf israelischen Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist tot.

Beyer gelingt es nicht immer, diese verschiedenen Erzählstränge überzeugend zu verknüpfen. Aber er hat trotzdem ein Buch geschrieben, das man, einmal mit dem Lesen begonnen, nicht aus der Hand legen kann.  Detailreich beschreibt er ein Land, in dem die nationalsozialistische Vergangenheit noch allgegenwärtig ist. So verhindern die einstigen SS- und NSDAP-Mitglieder in der DFB- Spitze die Einladung von Gottfried Fuchs zu einem Spiel der Nationalmannschaft gegen die Sowjetunion. Fuchs schoss 1912 in einem Spiel gegen Russland zehn Tore. Als Jude floh er aus Deutschland in die USA. Hätte es einen besseren Ehrengast geben können? Aber die Bundesrepublik jener Tag ist auch ein Land, das sich im Aufbruch befindet und sich neu erfinden möchte. Oder zumindest so tut, als ob dies sein Wille wäre.

Beyers ist ein kluges und so elegant wie ein Sturmlauf von Günter Netzer geschriebenes Geschichtsbuch gelungen.

 

 

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