Foodwatch schlägt Daueralarm. Allerlei Gifte lauern angeblich in unserem Essen. Bei genauerem Hinsehen braucht niemandem der Appetit zu vergehen. Von unserem Gastautor Thilo Spahl.
Das fundamentale Problem von Foodwatch kommt in einem Zitat des Gründers Thilo Bode zum Ausdruck, das eine paranoide Grundeinstellung offenbart. Bei Lebensmitteln sei er genau so ein Opfer des Marktes wie andere Verbraucher. „Ich muss in bestimmten Situationen ein Essen zu mir nehmen, von dem ich nichts über die Herkunft und Qualität weiß und keine Informationen über die Inhaltsstoffe und deren etwaigen Einfluss auf die Gesundheit bekomme.“
Ein Essen ohne Beipackzettel! Ist denn das möglich? Solche Unerhörtheit scheint heute immer mehr Menschen den Schlaf zu rauben. Über 36.000 davon hat es offenbar schon ans Überweisungsformular getrieben, um die „Essensretter“ regelmäßig mit den nötigen finanziellen Mitteln für ihre Gegenwehr zu versorgen.
Jeder Schluck vom offenen Rotwein, jedes Möhrchen, jede Nudel, jede Scheibe Salami, jeder Löffel Tiramisu im Restaurant oder der Kantine bergen für Bode ein Risiko, das Falsche zu essen, sich womöglich einer Gefahr auszusetzen. Jeder Happen weckt in ihm das Gefühl, der Lebensmittelindustrie ausgeliefert zu sein. Irgendwie fehlen immer Informationen. Das Wagnis, einen Bratwurststand oder eine Dönerbude zu besuchen, geht er gewiss nur im Notfall ein. Nie kann er sicher sein, dass nur gute und sichere Inhaltsstoffe dem Verdauungsapparat überantwortet werden.
Nichtsdestotrotz hat Thilo Bode mittlerweile das siebzigste Lebensjahr vollendet und ist weiter voller Tatendrang, was hoffentlich darauf schließen lässt, dass er sich noch guter Gesundheit erfreut. Er hat viele Jahrzehnte unsicherer Ernährung gut überstanden. Und wie ihm geht es vielen Menschen auf diesem Planeten. Sie essen, was die Lebensmittelindustrie ihnen liefert – manche besorgt, andere mit Freude –, und werden immer älter. Also rufen wir Herrn Bode zu: Keep calm and eat on! Man muss nicht alles kontrollieren im Leben. Man braucht keine 100 Prozent Transparenz. Man kann es sich auch einfach schmecken lassen. Das Leben ist mehr als ein paar unbekannte Inhaltsstoffe.
Das Geschäft mit der Angst
Um die akute Bedrohungslage zu begründen, ist Foodwatch immer auf Suche nach Quellen der Unsicherheit. Hier muss man der Organisation zugutehalten, dass sie die „Gefahrenstoffe“ für ihre Kampagnen nicht auf dem grauen Markt der Verschwörungstheorien besorgt, sondern den Anspruch hat, auf seriöse Quellen verweisen zu können. Entsprechend gering ist allerdings die Ausbeute. Die Kampagnen fokussieren auf alte Bekannte, von denen prinzipiell bekannt ist, dass sie unerwünscht sind, die aber dennoch in geringem Umfang von uns allen über die Nahrung aufgenommen werden: Acrylamid, Dioxin, Glyphosat, Mineralöl, Quecksilber. Die Botschaft der Foodwatch-Kampagnen lautet immer, Lebensmittelindustrie, Gesetzgeber und Gesetzeshüter müssten uns besser vor diesen Gefahren schützen. Das Gegenargument lautet: Schadstoffminimierung geht grundsätzlich immer, hätte aber bei den genannten Substanzen keinen oder nur einen vernachlässigbaren gesundheitlichen Nutzen. Bei den Kampagnen überwiegt der Schaden. Denn einem kulinarischen Kulturpessimismus zu frönen, sich ständig um die optimale Ernährung zu sorgen und vor Giften zu fürchten, verursacht mehr Leid als ein paar mickrige, harmlose Kontaminationen.
Alles nicht weiter wild
Schauen wir uns die Missstände einmal genauer an: Acrylamid ist alles andere als eine Erfindung der Ernährungsindustrie. Es entsteht in stärkehaltigen Lebensmitteln durch den Erhitzungsprozess beim Backen, Braten oder Frittieren. Dabei gilt: Je dunkler, desto mehr. Möglicherweise könnte es das Krebsrisiko leicht erhöhen. Deshalb wird in Hinblick auf Braten, Toasten, Frittieren für die Regel „Vergolden statt Verkohlen“ geworben. Vorsichtshalber. Denn ob hier nur ein theoretisches oder immerhin ein geringfügiges, reales Risiko besteht, ist fraglich.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) kommt zum Schluss: „Während in einigen Studien ein erhöhtes Krebsrisiko beobachtet wurde, war dies in anderen Studien nicht der Fall. Somit kann ein Zusammenhang zwischen der Acrylamidaufnahme und einer Krebserkrankung beim Menschen weder angenommen noch ausgeschlossen werden. Möglicherweise ist das Risiko einer Krebserkrankung, sofern beim Menschen vorhanden, bei der gegebenen Aufnahmemenge (Exposition) praktisch kaum nachweisbar.“ Mit anderen Worten: Acrylamid ist eine von unzähligen Substanzen, die eventuell einen kleinen Einfluss auf das Krebsrisiko haben. Das ist alles andere als ungewöhnlich und daher auch alles andere als Besorgnis erregend.
Auch für Dioxine kann man die Lebensmittelindustrie nicht verantwortlich machen. Die giftigen Substanzen entstehen in Deutschland vor allem durch Abfallverbrennung im Kamin oder im Garten und sind in der Umwelt in geringen Konzentrationen weit verbreitet. Dioxin wird von Tieren vorwiegend über Bodenpartikel beim Fressen aufgenommen und gelangt so in Fleisch, Eier oder Milch. Begünstigt wird das durch Freilandhaltung. Deshalb ist Schafsleber besonders stark betroffen. Diese ist allerdings das einzige Produkt, von dessen regelmäßigem Verzehr abgeraten wird, und auch nicht gerade ein Verkaufsschlager an der Fleischtheke. Auch bei Eiern werden immer mal wieder erhöhte Werte festgestellt. Wer sich sorgt, könnte Eier aus Käfig- statt Freilandhaltung kaufen – wenn die nicht verboten wären. Insgesamt ist die Belastung heute deutlich geringer als früher. Laut Umweltbundesamt ist der Dioxin-Gehalt von Muttermilch in Deutschland seit Ende der 1980er-Jahre um 60 Prozent zurückgegangen.
Zu Glyphosat habe ich mich an anderer Stelle schon ausführlich geäußert und wiederhole hier nur noch einmal die Tatsache, dass ein Säugling bei den hierzulande herrschenden Belastungen täglich 1,6 Millionen Liter Muttermilch trinken müsste, um vielleicht seine Gesundheit zu gefährden. Biertrinker müssten immerhin 2000 Halbe pro Tag schlucken, um den Grenzwert zu erreichen.
Quecksilber ist ein giftiges Schwermetall. Wir nehmen es vor allem über Fisch auf. Auch hier hat die fischverarbeitende Industrie praktisch keinen Einfluss. Deshalb richtet Foodwatch seine Forderungen an die EU-Kommission. Die soll auf eine Lockerung der Grenzwerte verzichten. Foodwatch behauptet, dass bei dem niedrigen Grenzwert von einem Milligramm pro Kilogramm Fisch knapp 50 Prozent der Fisch-Waren nicht verkehrsfähig wären. Tatsächlich geht es aber offenbar nur um Haifisch und Schwertfisch, bei denen es laut Bundesinstitut für Risikobewertung in 20 bis 40 Prozent der Proben zu Grenzwertüberschreitungen kommt. Aber welche schwangere Mutter, auf deren Schutzbedürftigkeit besonders verwiesen wird, isst schon regelmäßig Hai? Bei beliebten Speisefischen wie Hering oder Seelachs liegt die Zahl der Überschreitungen dagegen bei null Prozent und bei über 99 Prozent der Proben liegt die Belastung unter 50 Prozent des Grenzwerts. Als Durchschnittsverzehrer nimmt man heute in Deutschland etwa 20 Prozent der Menge auf, die bei lebenslangem Verzehr als unbedenklich gilt. Wer sich trotzdem Sorgen macht, kann natürlich auf Fisch verzichten und zusätzlich vielleicht noch auf Gemüse und Getreide, die zusammen auch noch einmal für etwa ein Viertel der Gesamtbelastung verantwortlich sind. Ob man dadurch gesünder lebt? Ich will es bezweifeln.
Und dann ist da noch das Mineralöl. Hört sich ja auch ungesund an. Foodwatch warnt vor Cornflakes, Reis, Schoko-Adventskalendern und anderen Produkten, die in Verpackungen aus Recycling-Karton verpackt sind, in dem sich Rückstände von Druckfarben befinden, die in kleinen Mengen ins Produkt übergehen können. Kritisiert wird, dass es keine bindenden gesetzlichen Vorgaben gibt. Man will nämlich erst einmal herausfinden, ob es hier wirklich ein Problem gibt. Die Empfehlung aus Brüssel lautet, jeder europäische Mitgliedstaat solle „unter aktiver Beteiligung von Lebensmittelunternehmern“ Tests durchführen und die Ergebnisse bis Februar 2019 an die EU weiterreichen. Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) hatte im Dezember angekündigt, dass er einen gesetzlichen Grenzwert festlegen will. Offenbar ist man bereit, bei Bedarf Grenzwerte einzuführen, sieht aber keine übermäßige Dringlichkeit. Das liegt wohl weniger daran, dass Rücksicht auf die Interessen der Verpackungskartonindustrie genommen wird, die wahrscheinlich kein allzu großes Problem damit hätte, auf Frischfaserkartons umzustellen (was auch schon in großem Umfang erfolgt ist), sondern weil sich herausstellen wird, dass auch hier das Risiko in die Kategorie „vernachlässigbar“ fällt.
Da all diese, zwar in hohen Konzentrationen giftigen, aber in real vorkommenden allenfalls sehr mäßig bedrohlichen Substanzen den für die Lebensmittelsicherheit zuständigen Behörden vertraut sind und überwacht werden, ist ein Frontalangriff aufs System erforderlich, um zu begründen, weshalb hier angeblich dennoch Gefahren drohen. So entstehen Behauptungen wie „Das Versprechen des europäischen Lebensmittelrechts, uns effektiv vor unsicheren Lebensmitteln und Täuschung zu schützen, steht nur auf dem Papier.“ Es wird suggeriert, dass bewusst relevante Gesundheitsrisiken in Kauf genommen werden, weil Politik und Behörden vor den dunklen Mächten der Lebensmittelindustrie kapitulieren. Das klingt nun doch schon wieder arg verschwörerisch.
Trotz erheblichen Aufwands ist die Ausbeute an risikoreichen kampagnentauglichen Inhaltsstoffen in den Produkten der Lebensmittelindustrie offenbar überaus dürftig. Daher beackert Foodwatch noch andere Schauplätze, die mit dem Essenretten wenig zu tun haben.So gibt es etwa eine Kampagne, die sauberes Wasser für die Stadt Sangerhausen in der Nähe des Harzes fordert. Der Ort ist nicht an die Fernwasserversorgung angeschlossen, sondern nutzt aufbereitetes Grundwasser, das natürlich vorkommendes Uran enthält. Die Konzentrationen liegen unterhalb des gesundheitlichen Grenzwerts der strengen deutschen Trinkwasserverordnung, der weltweit einmalig niedrig und bspw. sechsmal geringer ist als der empfohlene Wert der Weltgesundheitsorganisation. Es gibt hier also kein Gesundheitsrisiko. (Ein Anschluss an das Fernwassernetz ist dennoch aus wirtschaftlichen Gründen vorgesehen und wird in absehbarer Zeit erfolgen.)
Wirklich kein Thema, aus dem man eine große Kampagne machen muss. Außer man möchte ein diffuses Gefühl von Bedrohung erzeugen oder die Umsätze der Mineralwasserindustrie in die Höhe treiben. Pikanterweise begründete Foodwatch die Behauptung, der Staat habe „seine gesundheitliche Fürsorgepflicht verletzt“, mit dem Hinweis auf einen fünfmal niedrigeren „Säuglingsgrenzwert“ für abgepackte Wässer. Dies ist jedoch kein gesundheitlich begründeter Wert, sondern laut Umweltbundesamt Teil einer Kombination von sieben Grenzwerten, die eingehalten werden müssen, damit die Industrie mit dem Aufdruck „geeignet für die Zubereitung von Säuglingsnahrung“ werben darf. Er dient also dem Marketing und nicht der gesundheitlichen Fürsorge. Oder härter gesagt: Er ist für die Anbieter dieser Wässer wie für Foodwatch ein Mittel, um Geld zu machen. Der Werbespruchvon Foodwatch lautet so schlicht wie falsch: „Uran belastet Trink- und Mineralwasser – teilweise so stark, dass gesundheitliche Risiken nicht ausgeschlossen sind. Gefährdet sind vor allem Säuglinge und Kleinkinder.“
Dabei ist es sicher kein Zufall, dass man sich ausgerechnet Uran für die Wasser-Kampagne ausgesucht hat. Als gäbe es nicht noch genug andere Stoffe im Trinkwasser, die da nicht unbedingt hingehören. In kleinen, irrelevanten Konzentrationen lässt sich fast alles finden. Aber Uran klingt eben so schön nach Atom. Und vorm Atom warnt es sich ja immer besonders gut. Deshalb hier noch ein Hinweis, dass sich der Grenzwert ausschließlich auf die Giftigkeit von Uran als Schwermetall bezieht und nicht auf die Radioaktivität. Die wäre erst in sehr viel größeren Konzentrationen von Belang.
Was haben die Essensretter sonst noch im Programm? Mehr und mehr widmen sie sich dem Kampf gegen die beiden Grundbestandteile unserer Ernährung, den Zucker und das Fett, von denen zumindest ersterer mittlerweile in den Rang eines Gifts erhoben wurde. Mehr dazu hier.
Neben den irrelevanten Spendensammelgiften gibt es übrigens durchaus reale Risiken beim Essen. Jedes Jahr erleiden mindestens eine Million Deutsche eine Lebensmittelvergiftung. Verursacher sind Viren, Bakterien, Parasiten und Bakterien. Wem an seiner Gesundheit gelegen ist, der sollte daher lieber auf Küchenhygiene als auf Foodwatch setzen.
Dieser Artikel ist zuerst auf Novo-Agrumente Zum Thema NGOs findet am 19. Juli 2017 eine Diskussionsveranstaltung von Novo an der BiTS Hochschule in Berlin statt.
Thilo Spahl ist Diplom-Psychologe und lebt in Berlin. Er ist freier Wissenschaftsautor, Mitgründer des Freiblickinstituts und Novo-Redakteur.
Bei der täglichen Sau, die bzgl. der Ernährung durchs Dorf getrieben wird, bietet es sich aus meiner Sicht nur an, sich möglichst vielseitig zu ernähren.
BTW: Ist es meine selektive Wahrnehmung oder vergammelt das Obst neuerdings immer früher?
[…] veröffentlichte unser Gastautor Thilo Spahl in diesem Blog den Beitrag Geschäftsmodell Angst: Foodwatch und die Gifte. Heute findet dazu passend die Veranstaltung NGOs – Die fünfte Gewalt? an der BiTS Berlin […]
@1: Das kommt davon, daß man die bösen Konservierungsstoffe weglassen muß.