Gezi-Park: Demokratischer Durchbruch in der Türkei?

Der Gezi-Park ist nicht nur ein schöner Fleck im Herzen von Istanbul. Er ist auch einer der wenigen Grünflächen im Stadtinneren. Als den Istanbuler Bürgerinnen und Bürgern bewusst wurde, dass der Gezi-Park einem Einkaufszentrum weichen sollte, haben sie den Park am 28. Mai besetzt und den direkt daneben liegenden Taksim-Platz gleich mit. Zunächst hat die Polizei mit unverhältnismäßiger Gewalt auf die Proteste reagiert. Am letzen Wochenende  (8./9. Juni) hatte sich die Polizei völlig zurückgezogen gehabt. Am Montag hat sie dann mit Tränengas und Wasserwerfern den Taksim-Platz geräumt. Allerdings hat die Polizei den Gezi-Park bisher nicht geräumt. Von unserem Gastautor Jürgen Klute.

Der türkische Premierminister Erdogan verhält sich ähnlich schwankend. Zunächst hat er versucht, die Ausschreitungen der Polizei einzudämmen. Dann hat er die protestierenden Bürgerinnen und Bürger als Gesindel bezeichnet, mit dem er nicht zu verhandeln gedenkt. Mittlerweile hat sich in Ankara mit Künstlern, Wissenschaftlern und Publizisten gesprochen. In diesem Gespräch hat er sogar ein Referendum über die Zukunft des Gezi-Parks ins Gespräch gebracht.

Der Funke, der in Istanbul entflammt ist, ist zudem in kürzester Zeit auf andere Städte wie Ankara und Izmir übergesprungen.

Offensichtlich ist die Türkei mitten in einem tiefgreifenden Umbruch.

Als die Türkei 1999 Beitrittskandidat zu EU wurde, hat sie die so genannten Kopenhagener Kriterien unterzeichnen müssen. Damit hat sich die Türkei zu einer umfassenden Demokratisierung verpflichtet als Bedingung für die endgültige Aufnahme in die EU. Sei 2005 haben die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei offiziell begonnen. Begleitet werden die Verhandlungen durch einen jährlichen Fortschrittsbericht der EU-Kommission. Das Europäische Parlament begleitet den Prozess mit regelmäßigen Debatten über den Fortschrittsbericht und in der gemeinsamen parlamentarischen Versammlung EU-Türkei, in dem Mitglieder des EP und des türkischen Parlaments sich drei Mal jährlich treffen und austauschen. So hat das EP aufgrund der Ermordung von drei kurdischen Aktivistinnen im Januar d.J. in Paris eine außerordentliche Debatte zur Lage in der Türkei durchgeführt.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die gegenwärtigen Protest in der Türkei als Ausdruck einer seit langem eingeforderten Demokratisierung der gesamten türkischen Gesellschaft verstehen. In den großen Städten der Türkei ist offensichtlich eine starke und selbstbewusste Zivilgesellschaft entstanden, die nun ihre Beteiligung an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen offensiv einfordert und sich gegen den autoritären Politikstil von Erdogan und seiner AKP zur Wehr setzt. Neben dem Rücktritt der für die brutalen Polizeieinsätze Verantwortlichen fordern die Demonstranten zum Teil auch den Rücktritt von Erdogan.

Das macht die Situation aber auch sehr gefährlich. Die Kritik an Erdogans Politikstil ist ohne Zweifel berechtigt. Andererseits hat Erdogan aber die türkische Gesellschaft für Veränderungen geöffnet, in dem er die Vorherrschaft des Militärs gebrochen und das Militär der Politik untergeordnet hat. Das ist ein wesentlicher demokratischer Fortschritt. Hierzu gehört auch die von Erdogan auf den Weg gebrachte Verfassungsreform. Sie soll die Anfang der 1980 Jahre durch die Militärregierung eingesetzte Verfassung nach demokratischen Prinzipen umbauen oder gar ganz ersetzen.

Und auch das andere zentrale Problem der Türkei hat Erdogan aufgegriffen: Den Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den in der Türkei lebenden Kurden. Seit über dreißig Jahren dauert der bewaffnete Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Militär nun schon an, der auf beiden Seiten insgesamt etliche Tausend Tote gekostet hat.

Nun scheint eine friedliche Lösung dieses Konfliktes in greifbare Nähe gerückt zu sein. Zum diesjährigen Newrosfest am 21. März hat der seit 1999 von der Türkei inhaftierte Führer der PKK, Abdullah Öcalan, angekündigt, dass sich die PKK von türkischem Gebiet zurück ziehen und der bewaffnete Kampf eingestellt wird. Die strittigen Fragen sollen auf politischem Verhandlungswege gelöst werden.

Der Abzug der PKK hat mittlerweile begonnen und soll in wenigen Wochen abgeschlossen sein. Das türkische Militär hat sich bisher im wesentlichen ruhig verhalten und seine Aktionen gegen die PKK eingestellt, was eine Folge der von Erdogan durchgesetzten Kontrolle des Militärs durch die Regierung sein dürfte.

Der Weg bis hierher war voller Widersprüche. Einerseits ist die kurdische Sprache seit einigen Jahren nicht mehr verboten. Andererseits sind mehrere Tausend kurdische Politiker nach wie vor in Haft. Allerdings durfte der seit Jahren mit einer Ausreisesperre belegte Bürgermeister der kurdischen Metropole Diyarbakir (Amed), Osman Baydemir, in dieser Woche erstmals wieder die Türkei verlassen und nach Brüssel reisen.

Diese positiven Entwicklungen, die in der Türkei als Imrali-Prozess bezeichnet werden (Imrali eine trükische Insel im Marmarameer, auf der das Gefängnis liegt, in  dem Abdullah Öcalan inhaftiert ist), nahmen Ende letzten Jahres an Fahrt auf. Sie haben einen handfesten politischen Hintergrund. Erdogan will im Rahmen der Verfassungsreform in der Türkei ein Präsidialsystem einführen, dass dem der USA entspricht. Auch heute schon hat die Türkei einen Präsidenten. Er hat aber nur eine repräsentative Funktion. Die politische Macht liegt derzeit beim Premierminister. Nach Erdgoans Vorstellungen soll sich die politische Macht zukünftig aber auf den Präsidenten konzentrieren. Zunächst hat die kemalistische sozialdemokratische CHP Erdogan bei der Verfassungsreform unterstützt. Da die Partei Erdogans, die AKP, keine absolute Mehrheit im türkischen Parlament hat, ist sie auf Koalitionen angewiesen. Die CHP unterstützt Erdogans Vorstellungen eines starken Präsidenten nicht mit. Sie kritisiert die damit verbundene Machtkonzentration in einer Hand. Eine Kritik, die auch seitens der EU formuliert wird. Zugleich kritisiert die CHP das intransparente Verfahren der Verfassungsreform.

Um seine Verfassungsreform fortsetzen zu können, hat Erdogan sich Ende letzten Jahres auf die kurdische Partei BPD, die mit 36 Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten ist, zubewegt. Die BDP hat sich bereit erklärt, die Verfassungsreform mit zutragen, wenn Erdogan sich im Gegenzug auf eine föderale Verwaltungsstruktur der Türkei mit regionaler und lokaler Selbstverwaltung einlassen kann und wenn es zügig zu einer friedlichen Lösung des Konflikts mit den Kurden kommt.

Vor diesem Hintergrund hat die türkische Regierung erlaubt, dass seit Januar 2013 mehrere Delegationen Abdullah Öcalan auf Imrali besuchen durften und mit ihm den Abzug der PKK vorbereitet haben.

Der Schwachpunkt dieser politischen Entwicklung ist, dass dieser Prozess nicht parlamentarisch verankert ist, sondern an die Person Erdogan geknüpft ist. Wie mir Osman Baydemir heute in einem Gespräch in Brüssel bestätigte, wird die Politik Erdogans gegenüber den Kurden nur von einer Minderheit in der AKP getragen. Allein der Autorität und der Macht Erdogans innerhalb der AKP ist es geschuldet, dass die AKP seinen Kurs duldet. Auch die CHP steht dem Prozess skeptisch gegenüber.

Mit anderen Worten: Erdogan ist im Positiven wie im Negativen die Schlüsselfigur in den gegenwärtigen Entwicklungen in der Türkei. Würden die Proteste tatsächlich weiter zunehmen und würde Erdogan tatsächlich zum Rücktritt gezwungen, dann wäre mit ihm auch der Garant des Imrali-Prozesses verschwunden. Die Hauptverlierer eines Rücktritts von Erdogan zum gegenwärtigen Zeitpunkt wären also die Kurden. Sowohl AKP als auch CHP würden den Imrali-Prozess nach einem Rücktritt Erdogans zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht fortsetzen. Die Konsequenzen wären wohl eher dramatisch.

Einige Beobachter sagen, die Proteste in Istanbul und den anderen Städten werden hauptsächlich von Gruppen getragen, die der CHP nahe stehen.

Vor diesem Hintergrund ist dringen erforderlich, dass der Imrali-Prozess schnellstens eine parlamentarische Verankerung bekommt – etwas, was die Kurden immer wieder gefordert haben. Um das zu erreichen, muss Erdogan alles versuchen, die CHP sowohl wieder in den Prozess der Verfassungsreform einzubinden und sich ihrer Kritik daran zu öffnen als auch sie in den Imrali-Prozess einzubinden. Und er muss sich dazu durchringen, die Interessen einer selbstbewusst gewordenen Zivilgesellschaft nicht mehr mit Polizei zu bekämpfen, sondern er muss mit den Bürgerinnen und Bürgern einen offenen und transparenten Dialog suchen.

Gelingt das nicht, dann ist die Gefahr groß, dass die Türkei sich destabilisiert.

Am 12. Juni hat das Europäische Parlament über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei debattiert. Unter dem folgenden Link kann man sich die Debatte anschauen (mit Übersetzung aller Redebeiträge ins Deutsche): http://www.europarl.europa.eu/ep-live/de/plenary/video?debate=1371042117900&streamingLanguage=de

Die vom EP am 13. Juni beschlossene Resolution zur Lage in der Türkei findet sich hier.

Jürgen Klute (Die Linke) ist Mitglied des Europaparlaments und wohnt im Herne.

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Lee O
Lee O
11 Jahre zuvor

Nur, warum möchte Erdogan eine Bewegung der Macht hin zum Präsidenten? Weil er in seiner letzten Amtszeit als Premier steckt und eine Weiterführung seiner Herrschaft als Präsident plant. Wirft auf die Minizugeständnisse an die Kurden und das Brechen der Macht des Militärs unter dem Mantel der EU-Beitrittsverhandlungen ein entsprechendes Licht…

Mustafa Güner
Mustafa Güner
11 Jahre zuvor

Chapeau.
Der Beitrag ist klasse

Arnold Voss
Arnold Voss
11 Jahre zuvor

Edogan steht kulturell in der Tradition eines autoritären und patriachalischen Islam während er zugleich ein ökonomischer Mordernisierer ist. Die ökonomische Modernisierung konnte jedoch nicht ohne eine weitere kulturelle Liberalisierung von statten gehen und das musste irgendwann für den Traditionalisten Erdogan zum Problem werden. Ja für die gesamte türkische Gesellschaft überhaupt.

Die ökonomische Modernisierung der Türkei war und ist aber die Voraussetzung für Erdogans Ziel, die Türkei zur führenden Regionalmacht im Nahen Osten zu machen, womit er gleichzeitig auch den von ihm politisch entmachteten Militärs eine neue Aufgabe zuweist, die deren politischen Machtverlust auszugleichen in der Lage wäre.

Diese regionale Führungsrolle und die damit verbundene „Reosmanisierung“ der Türkei verlangt zugleich, dass der Konflikt mit den Kurden dauerhaft gelöst wird. Eine innere Front kann sich die Türkei aus dieser Perspektive einfach nicht länger erlauben, und das weiß keiner besser als Erdogan.

Er ist aber gerade als bekennender Nationalist und islamischer Traditionalist in der Lage die Versöhnung mit den Kurden durchzusetzen, ohne sein politische Macht zu verlieren. Genauer gesagt erdulden seine Anhänger diesen Teil seiner Politik weil sie in ihm zugeich eine Garant für ihre religiös-kulturelle Tradition sehen.

Erdogan befindet sich also in einer von ihm selbst geschaffenen Zwickmühle und hat obendrein die Stärke der neuen zivilgesellschaftlichen Kräfte unterschätzt. Hoffentlich wird ihm klar, dass er diese Kräfte nicht mehr mit Gewalt zurück halten kann.

mir
mir
11 Jahre zuvor

Es ist hauptsächlich die kurdische Landbevölkerung, die die AKP Partei von Erdogan zur Mehrheit im Parlament geführt hat. Um einen gesellschaftspolitischen Wandel herbeizuführen muss jetzt wohl vor allem diese Bevölkerung in der Oppositionspolitik Thema sein.

Gute Bilder auch hier von Kollegen auf FB
https://www.facebook.com/knuraydin/media_set?set=a.10151534056509263.1073741824.639619262&type=1

https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10151659907965479&set=a.10151659907690479.1073741829.731930478&type=1&theater

Helmut Junge
Helmut Junge
11 Jahre zuvor

@MIR, „Es ist hauptsächlich die kurdische Landbevölkerung, die die AKP Partei von Erdogan zur Mehrheit im Parlament geführt hat. “
Das überrascht mich, weil ich bisher glaubte, es sei genau umgekehrt.

@Arnold, „Mordernisierer“ wird wohl ein Schreibfehler sein.
Wegen des obigen Satzes von @Mir traue ich mich kaum noch die Lage in der Türkei zu diskutieren. Ob Erdogan „obendrein die Stärke der neuen zivilgesellschaftlichen Kräfte unterschätzt hat“, halte ich jetzt nicht mehr für sicher. Vielleicht sind die gar nicht so groß, wie sie erscheinen, und Erdogan weiß das?
Vielleicht ist die Idee mit dem Referendum gar kein Spiel, sondern Kalkül?

Arnold Voss
Arnold Voss
11 Jahre zuvor

Ein interessanter Schreibfehler, nicht wahr? Aber doch ein Schreibfehler. Das Referendum ist laut türkischer Verfassung gar nicht möglich, wenn das Gericht erst einmal Ja zum Bauprojekt gesagt hat. So schreibt zumindest die türkische Zeitung Hürriyet.Ich denke, dass Erdogan die Protestbewegung hinhalten und zugleich spalten will. Der Mann ist mit allen politischen Wassern gewaschen.

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