Gil Yaron: „Israel hat nicht eine Grenze, Israel ist die Grenze.“

Gil Yaron war am 24. Oktober Gast der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf; Foto: Peter Ansmann
Gil Yaron war am 24. Oktober Gast der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf; Foto: Peter Ansmann

Seit dem palästinensischen Terrorangriff am 7. Oktober 2023 ist in Israel nichts mehr wie vorher. Dem Land stehen schwierige Zeiten und ein langer Krieg gegen die Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad in Palästina bevor. Zu den Hintergründen der Terrorattacke und den Folgen für Israel fand vorgestern eine Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, in Kooperation mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Düsseldorf und der Deutsch-Israelische Gesellschaft Düsseldorf statt.

Referent am vorgestrigen Abend war Gil Yaron, aufgewachsen in Düsseldorf, in Tel Aviv lebend, Nahostkorrespondent der WELT und Leiter des Büros des Landes in NRW für Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Jugend und Kultur in Israel.

Die Veranstaltung war gut besucht: Etwa 150 Gäste fanden sich im Leo-Baeck-Saal am Paul-Spiegel-Platz in Düsseldorf ein. Terminlich habe ich es gestern nicht ganz geschafft und gut 15 Minuten des Vortrages verpasst, was ich in diesem Falle wirklich bereue: Einige Details zur Terrorattacke waren mir neu, andere Fakten hatte ich schonmal gehört. Was den Vortrag, zumindest für mich, extrem spannend machte, war der historische Rundumschlag durch Gil Yaron. Auf diesen gehe ich heute, im ersten Teil, ein.

„Israel hat nicht eine Grenze, Israel ist die Grenze.“

Mein verspäteter Einstieg erfolgt, als Gil Yaron die israelischen Militärdoktrin erläuterte: Die nach dem Angriff der fünf arabischer Armeen, mit dem Ziel Israel auszulöschen, aufgestellt wurden. Nach erheblichen Opfern im Krieg: Von der Bevölkerung des jungen Staates Israel stirbt 1% der Bevölkerung. Israel gewinnt diesen Krieg. Danach, aufgrund der Erfahrungen dieses Krieges, wird die israelische Militärdoktrin geformt. Aufgrund der Größe – oder genauer: der fehlenden Größe des Landes – gilt: Israel hat nicht eine Grenze. Israel ist die Grenze.

„Wenn ein Krieg stattfindet, dann muss der auf unsere Initiative stattfinden und wir müssen ihn so schnell wie möglich ins Territorium des Gegners tragen.“

Da Israel keine Tiefe im Landesinneren hat, wie beispielsweise Russland, ist klar: Ein Erstschlag darf nicht den arabischen, feindlich gesinnten, Nachbarn überlassen werden.

Diese Militärstrategie gipfelte im Juni 1967 zum Präventivschlag gegen Ägypten, Syrien und Jordanien – dem Sechs-Tage-Krieg. Mit dem bekannten Ausgang: Israel erobert innerhalb von sechs Tagen ein Territorium, das um ein mehrfaches größer ist, als das Territorium, mit dem Israel im Jahre 1948 startete: Der Beginn des Palästinenserproblems. In den besetzten Gebieten leben Menschen, die keine Israelis sind.

Gleichzeitig geriet Israel seit dieser Zeit in die diplomatische Defensive. Israel ist nicht mehr der kleine David, der gegen Goliath kämpft. Israel ist der Goliath. Das Resultat auf dieser Wahrnehmung in der internationalen Gemeinschaft ist ein vorsichtigeres Vorgehen – den Verzicht auf Präventivschlägen – gegenüber den Israel gegenüber feindlich eingestellten Staaten. Diese Haltung endet 1973 mit dem Yom-Kippur-Krieg: Die israelische Aufklärung hat das Zusammenziehen der feindlichen Kräfte in den Nachbarstaaten wahrgenommen. Auf die Einberufung von Reservisten wurde aber auf israelischer Seite verzichtet – um Ägypten nicht zu provozieren.

Auch andere Bodenoffensiven endeten für die Israelis nicht gut, wie der Einmarsch in den Libanon 1980. Gil Yaron: „Israel wird immer mehr als Aggressor wahrgenommen und möchte nicht als Aggressor dastehen.“

Gil Yaron: „Israel hat nicht eine Grenze, Israel ist die Grenze.“; Foto: Peter Ansmann
Gil Yaron: „Israel hat nicht eine Grenze, Israel ist die Grenze.“; Foto: Peter Ansmann

„Nicht die harten Kämpfer, sondern die harten Denker.“

Die Militärtechnologie ändert sich seit den 80er Jahren radikal. Die israelische Luftwaffe nimmt in der israelischen Verteidigungsstrategie eine wichtigere Rolle ein. 1968, im Sechs-Tage-Krieg, gelang es der israelischen Luftwaffe, innerhalb der ersten Stunden, die gesamte ägyptische Luftwaffe auszuschalten – was zum schnellen Sieg führte. Im Libanonkrieg verlor die israelische Luftwaffe kein einziges Flugzeug, zerstörte aber innerhalb von vier Stunden die Luftabwehr der Syrer und mehr als 100 Flugzeuge der syrischen Luftwaffe.

Mit der besten Luftwaffe im Nahen Osten und dem besten Auslandsgeheimdienst, der alles über den Gegner weiß, setzte sich der Gedanke durch, keine Soldaten mehr am Boden in Gefahr zu bringen und stattdessen Kriege auf Distanz zu führen.

Der frühere Traumjob in der israelischen Armee war Fallschirmjäger. Heute ist es Kampfpilot und Hacker in den Cyber-Units der israelischen Armee. Gil Yaron: „Nicht die harten Kämpfer, sondern die harten Denker“, sind gefragt.

Hightech am Grenzzaun zum Gazastreifen

Auch am Grenzzaun zum Gazastreifen, der Terroristen vor einer Infiltration Israels abhalten soll, setzt man auf Hightech. Und überwacht auf Distanz. Sensoren im Boden warnen vor Tunnelbauaktionen der Hamas, Kameras überwachen den Grenzzaun. In einer Kommandozentrale überwacht man auf Monitoren das Geschehen am Grenzzaun und kann eindringende Terroristen über ein ferngesteuertes Maschinengewehr abwehren, mittels Joystick.

Das dieses Konzept in der aktuellen Form als alleiniges Instrument nicht mehr funktioniert, ist seit dem 7. Oktober 2023 klar.

Spendenaufruf der Jüdischen Gemeinde; Foto: Peter Ansmann
Spendenaufruf der Jüdischen Gemeinde; Foto: Peter Ansmann

Der Friedensprozess

Gil Yaron ging in seinem Vortrag auf die Wichtigkeit von Territorien ein:

1960 werden die Gebirgskämme im Westjordanland erobert. Das Jordantal bietet einen natürlichen Wall gegen eine Invasion aus dem Osten. Die Sinai-Halbinsel gibt die israelische strategische Tiefe und Vorwarnzeit für eine Eroberung aus Ägypten und die Golanhöhen, die Schützen Israel vor allem Überraschungsangriff aus Syrien, vermeintlich. Mehr Gebiet bedeutet mehr Sicherheit.

Sowie auf die Wichtigkeit „strategischer Tiefe“:

Ich denke, die strategische Tiefe bedeutet, dass Tel Aviv nicht mehr mit Mörsergranaten beschossen werden kann, dass Jerusalem nicht mehr abgeschnitten werden kann. Das ist strategische Tiefe und das brauchen wir.

Auch hier beginnt ein Umdenken: Die besetzten Gebiete, die das zweifache der Größe des ursprünglichen israelischen Kernlandes bringt Probleme mit sich.

Das besetzte Land: „Das sind nicht leere Hügel, sondern das sind Gebiete, die bewohnt werden von einer Bevölkerung. Nämlich den Palästinensern, die nicht Teil von Israel sein wollen. Jeder Quadratkilometer bedeutet also mehr Palästinenser.“ Mehr Gebiete bedeuten mehr Unsicherheit.

Diese Sichtweise der Problematik findet ihren Höhepunkt im einseitigen Rückzug aus Gaza unter Ariel Scharon im Jahre 2005. „Im Gazastreifen sollen die Palästinenser machen was sie wollen.

Die Lage dort ändert sich dramatisch, als 2007 die Hamas gewaltsam die Macht an sich reißt.

Es erfolgt ein Umdenken. „Die Welt hat immer gesagt, der Hemmschuh für den Frieden, der den Friedensprozess im Nahen Osten verhindert, ist der Palästinenser-Konflikt. Und erst wenn dieser gelöst ist, kann es mit der arabischen Welt Frieden geben.

Unter Benjamin Netanjahu wird das andersherum aufgezogen. Der Friedensprozess im Nahen Osten geht voran, man sucht den Frieden mit den arabischen Nachbarn. Sogar ein Friedensvertrag mit Saudi-Arabien war nahe, bis zur Terrorattacke am 7. Oktober.

Die israelische Sicht zu dieser Zeit: Das Problem mit den Palästinensern lässt sich vorerst nicht lösen. Weil sie nicht zu den richtigen Kompromissen bereit sind. Es lässt sich nur verwalten, managen.

Gil Yaron:

Israelische Sicherheitsbeamte nennen es „Rasenmähen“. Terrororganisationen wachsen wie Gras. Wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben, wenn ein gewisses Level erreicht ist, dann gibt des wieder einen Schlagabtausch zwischen Hamas, palästinensischer islamischer Dschihad und Israel. Und dann Wied der Rasen gemäht. Und wenn sie zurechtgestutzt sind, dann dauert es wieder zwei Jahre bis zur nächsten Runde. Wir haben eine Raktenabwehr. Israel denkt nicht mehr offensiv. Und was diese Defensive möglich macht, ist israelische Technologie. Iron Dome. Weil die Angriffe der Hamas nicht mehr so viele Opfer fordern. Mit 100 Raketen kommt Israels Raketenabwehr zurecht. Und, so makaber das klingt, mit zehn Toten kommt Israel auch zurecht. So dachte man bis zum 7. Oktober.

Großes Interesse in Düsseldorf; Foto: Peter Ansmann
Großes Interesse in Düsseldorf; Foto: Peter Ansmann

Die Hamas pragmatischer machen

Gleichzeitig versucht man die Hamas „geschmeidiger“ zu machen. Indem man die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen nicht bedroht, sondern den Gazastreifen belohnt, wenn man sich benimmt. Das dieses Konzept nicht aufgegangen ist, ist seit dem 7. Oktober 2023 klar.

Gil Yaron:

Anstatt zu sagen, unter Abbas erreichen die Palästinenser viel, unter der Hamas gar nichts. Es ist genau andersrum. Die Hamas kann für sich verbuchen, bis zum 7. Oktober, mehr palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freigepresst zu haben als Abbas. Wenn Abbas sich vor einen eigenen Leuten rechtferigen muss, dass er mehr Palästinenser inhaftiert haben, weil die sich gegen Israel aufgelehnt haben, als die Hamas. Es gab keine nennenswerten Verhandlungen damals. Die Leute fragen sich, was der überhaupt noch da macht. Er schon seit vielen Jahren keine demokrastische Legitimation. Die Hamas hingegen kann auf so manchen Verhandlungserfolg mit Israel hinweisen. Weil Israel keine Bodenmanöver mehr durchfüren wollte. Bis zum 7. Oktober.

Teil 2 – Der Terrorangriff vom 7. Oktober und die Folgen – erscheint zeitnah im Blog der Ruhrbarone.

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