Als am Freitag, den 22. Juli, die Bilder der Zerstörung des Regierungsviertels in Oslo im Fernsehen zu sehen waren, zu einem Zeitpunkt, als der Attentäter noch damit zu Gange war, auf Utøya norwegische Jungsozialisten der Reihe nach einzeln abzuknallen, spekulierten die Terrorismusexperten aller Sender unisono, auch hier sei wieder Al Qaida bzw. einer ihrer Ableger am Werk gewesen. Auch ich war mir dessen ziemlich sicher, wie auch Muslime anfangs durchweg von dieser Version ausgegangen sind. Kein Wunder; denn wer liest hierzulande schon den liberalen „Standard“ aus Österreich?
Dort – soweit ich sehe, allerdings auch nur dort – hätte man aus dem Europol-Jahresbericht für das Jahr 2010 erfahren können, dass Terroranschläge in Europa keineswegs in erster Linie auf das Konto islamistischer Attentäter gehen. Für 2010 weist der Bericht 249 Anschläge in der EU aus, im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang um mehr als zwanzig Prozent, drei davon hatten einen islamistischen Hintergrund. 3 von 249. „Während 160 Terroranschläge von nach Unabhängigkeit strebenden militanten Gruppen verübt worden seien, gingen lediglich drei auf islamistische Attentäter zurück.“
Die von militanten Islamisten ausgehende Gefahr ist zwar nicht gebannt, doch der Dschihad, also der Krieg des islamischen Fundamentalismus gegen die Zivilisationen, hat seine prägende Rolle als Hauptkonflikt auf dieser Welt verloren. Zwar morden al-Qaida und die mit ihr verbundenen Organisationen und Gruppen weiter, bei den Opfern handelt es sich jedoch in erster Linie um Muslime in der islamischen Welt. An dieser Stelle sind die Parallelen zwischen Anders Behring Breivik, dem norwegischen Massenmörder, und den al-Qaida-Terroristen besonders offensichtlich.
„Breivik attackierte keine Muslime, sondern jene, die dafür waren, dass Muslime hier leben“, schreibt der ehemalige norwegische Ministerpräsident Thorbjørn Jagland, jetzt Generalsekretär des Europarats und Leiter des Friedensnobelpreiskomitees in der Süddeutschen Zeitung. „Die Methoden sind die gleichen, die mitleidlose Gewalt, auch gegen diejenigen der eigenen Gemeinschaft, die man als Verräter sieht.“ Entscheidend sind die Tatmotive, deren Identität Jagland in beispielloser Klarheit benennt: „Breivik und al-Qaida treibt dieselbe Vision: die eigene Welt von Eindringlingen zu befreien.“
Das dem Massaker in Norwegen zugrundeliegende Nachahmungsmuster ist eben, so Stefan Weidner (ebenfalls in der Süddeutschen), „nicht das des islamischen Terroristen im (und gegen den) Westen, sondern das des Terrors von Muslimen gegen Muslime.“ „Warum die Tat eines Islamisten und die Tat eines Islamhassers andere und doch gleiche Reaktionen hervorrufen“ (taz), wird erklärlich; die gravierenden Irrtümer der sog. „Islamkritiker“ traten in Oslo und Utøya offen zutage. „Nicht etwa ein Muslim zog in den Krieg gegen den Westen – der Täter gehört vielmehr derselben Denkschule an wie sie selbst. Damit wird deutlich: Die wahren Gegner der Anti-Islam-Bewegung sind nicht die Muslime. Es sind die eigenen Mitbürger“ (Weidner).
Bei Breivik handele es sich, schreibt Volker Weiß bei Spiegel Online, um einen „rechten Bruder der Dschihadisten“. Das Weltbild des norwegischen Attentäters, das Weiß im anderthalbtausend Seiten langen „Manifest“ Breiviks ausgemacht hat, sei geprägt durch altbekannte, fortwährend existente Essentials europäischer Reaktionäre: „Die Welt ist krank, sie braucht eine radikale Kur: Mit dieser Logik richtete Anders Breivik ein Blutbad an. Sein Manifest des Grauens spiegelt Positionen europäischer Rechter, die für eine `Konservative Revolution´ trommeln. Ihre Argumente entsprechen denen von islamischen Dschihadisten.“
Deshalb ähneln sich auch Breiviks wie der Islamisten Semantik und Feindbestimmungen. Gefordert werden die Abstrafung der Verräter sowie Krieg gegen Marxisten, Liberale, Emanzipierte und „Invasoren“. Noch einmal Thorbjørn Jagland: in beiden Vorstellungswelten geht es darum, „die eigene Welt von Eindringlingen zu befreien.“ Man bezieht sich auf die Religion, in der – ebenfalls in beiden Fällen – tatsächlich die historischen Ursprünge dieses politischen Denkens liegen und die es dem Hinterwäldler erlaubt, soziale Gesetzmäßigkeiten – hier also: die Globalisierung – in Abrede zu stellen. Stattdessen muss einem – in den alten Schriften vermeintlich erkennbaren – Willen Gottes mit Gewalt zum Durchbruch verholfen werden.
Freilich stehen die Globalisierungsgegner mit diesem Anliegen auf verlorenem Posten. Niemand kann den angeblich so wunderschönen „Urzustand“ – ganz abgesehen davon, dass er sowieso nie existiert hatte – wiederherstellen. „Al-Qaida kann ebenso wenig wie wirre blonde Extremisten die historische Annäherung zwischen christlicher und muslimischer Welt beenden. Es gibt eben kein Ende der Geschichte“ (FTD). Doch der trügerische Traum von der vermeintlich guten, alten Zeit lässt sich ebenfalls nicht so ohne weiteres aus der Welt schaffen. Je schneller sich die realen Veränderungen in der sozialen Welt vollziehen, desto unerbittlicher wird vom verlorenen Paradies geträumt. Die Hinterwäldler aller Länder werden so schnell keine Ruhe geben.
Nur Langweiler bezeichnen Andersdenkende als „Hinterwäldler“