Und die „kleinen Ladenmädchen“?
Es war einmal im Ruhrgebiet. Ein junger Mann hatte den Traum, einen Film zu machen. Da erbte er etwas Geld, das gerade für einige Dosen Orwo-Film reichte, und er bestellte das 16mm-Material in Wulfen / DDR. Obwohl es viele Ideen aber noch kein Drehbuch gab, konnten er und seine Freunde es kaum erwarten, die Beaulieu-Kamera in die Hand zu nehmen und loszulegen. Maßlos war die Faszination fürs Kino, so viele Stunden verbrachten sie im Kino, dass sie glaubten, es den Vorbildern des Autorenfilms einfach nachmachen zu können.
Ende der 1970er Jahre hatte sich an der 1965 gegründeten Ruhruniversität Bochum (RUB) die Germanistik der Filmanalyse geöffnet. In den Seminaren von Eva J.M. Schmidt versammelten sich Filmverrückte, die ihre Neigung lebten und weitertrugen. Im Studienkreis Film (SkF) der RUB fanden sich Studierende der Germanistik und der Mathematik, der Ingenieur- wie der Rechtswissenschaft, der Philosophie wie der Psychologie, die ihre Leidenschaft für die Kinematografie vereinte. Gemeinsam machten sie in HZO 20 des Hörsaalzentrums Ost Kino, jede und jeder konnte für zwei Mark pro Semester Mitglied werden und für einen kleinen Eintritt Filmklassiker aller Genres „auf der größten Projektionsfläche“ Bochums sehen. Die Verleihe erhoben nämlich für Filmclubs niedrige Filmmieten. Die kleine Schar aktiver Mitglieder teilten sich diverse Aufgaben. Übers Filmprogramm wurde ausführlich diskutiert und gemeinsam abgestimmt.
In der Auseinandersetzung mit den Regisseuren und Filmen der Nouvelle Vague und der US-amerikanischen Bewegung New Hollywood gab es viel zu lernen. Die Rückbesinnung auf den Ursprung des Mediums im Stummfilm und die Beschäftigung mit dem avantgardistischen Experimentalfilm rundeten das Arbeitsfeld ab. Dazu gehörte auch, Flugblätter zu schreiben und dafür zu sorgen, dass sie in der Mensa und den Cafeterien der G-Gebäude verteilt wurden. In der kleinen aber feinen Bibliothek fand sich hilfreiche Literatur. Das Filmemachen war allgegenwärtig und bestimmten das Leben vieler jungen Leute, denen das gemeinsame Arbeiten und Improvisieren mehr bedeutete, als Profit.
Ähnlich arbeiteten zahlreiche Filmclubs im Ruhrgebiet, die zumeist in Jugendzentren oder Volkshochschulen angesiedelt waren. Insgesamt eine breite Bewegung, zählt man auch die Super-8-Szene hinzu.
Film- und Kinogeschichte sollte als Geschichte von unten erzählt werden, weil Filme immer für breite Bevölkerungsschichten produziert wurden, und Kinosäle Traumorte für alle waren. Schreibt doch Siegfried Kracauer in seinem Essay „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ (1928 für die Frankfurter Zeitung): „Ja, die Filme für die niedere Bevölkerung sind noch bürgerlicher als die für das bessere Publikum, gerade weil es bei ihnen gilt, gefährliche Perspektiven anzudeuten, ohne sie zu eröffnen, und die achtbare Gesinnung auf den Zehenspitzen einzuschmuggeln“.
Beim Gang durch die jüngst im Ruhrmuseum eröffnete Ausstellung „Glück auf – Film ab“ vermisse ich die Emotionalität, die zum Kino gehört wie die papierenen Eintrittskarten, die als Erinnerungssplitter Jahre überdauern. Stattdessen überwältigt Materialfülle den Besucher.
Schon die Architektur der Kino-Gebäude mit ihren historisierenden Anleihen bei der Fassadengestaltung und ihren goldfarben spiegelnden Interieurs möchte die Kinoliebhaber aus der grauen Wirklichkeit entführen in imaginierte Welten. In der Ausstellung leuchtet die Lichtburg Essen stellvertretend für zahllose abgerissene oder umgenutzte Kinogebäude des Ruhrgebiets, die in einer Bilderparade noch einmal auftreten dürfen. Doch die konventionelle Präsentation offenbart, das das Ruhrmuseum, zum Weltkulturerbe gekrönt, ein Heimatmuseum bleibt. Zur 100jährigen Geschichte des Mediums Film und seiner Spielstätten im Ruhrgebiet haben die Verantwortlichen sich in ein chronologisch geordnetes geschichtliches Geschirr eingespannt, dem die größte Materialfülle letztendlich nicht gerecht werden kann. Anstatt Themenschwerpunkte zu setzen und assoziativ zu betrachten, wird dem Besucher staubtrockene „Flachware“ angeboten.
Die Ticket-Verkäuferinnen, Einlasskontrolleure, die Eis-Frauen mit ihren Bauchläden und die Filmvorführer kommen nicht vor. Selbst die Kinogänger sucht man vergebens auf Ebene 12 der ehemaligen Kohlenwäsche, wo doch das gesamte vielteilige Kino- und Filmsystem nur von den Machern lebt. Stattdessen vertreten 900 Plakate, Autogrammkarten, Drehbücher und Requisiten sowie Filmwerbung und Fotografien das Leben. Dazu Maschinen und Utensilien der Filmproduktion, Projektionen und Screens.
Zwei Veröffentlichungen der Film- und Medienstiftung NRW (Filmgeschichte NRW, 2014, Kinogeschichte NRW, 2021) verdeutlichten bereits, dass der große Bogen bei diesem schon früh globalisierten Themenkomplex nicht gelingen kann, und nun, heruntergebrochen auf die regionale Ebene des „Rußlands“, wäre es umso mehr auf zündende Ideen der Kuratoren angekommen, um daraus Glamour zu schlagen. Das Spektrum ist vielfältig. Ein „Ruhrgebiets-Film“ kann in der Region entstanden sein, ohne Bezug auf sie zu nehmen, oder er dokumentiert, wie ihre Menschen lieben und leben, setzt sich mit dem Bergbau und der Montanindustrie auseinander, mit Arbeits- und Lebensbedingungen und typischen Hobbys wie Taubenzucht. Er kann aber auch fiktiv in den spezifischen sozialen Gegebenheiten der Zechensiedlungen oder in der Arbeitswelt der Kumpel und Metallarbeiter spielen. Oder er benutzt die pittoresken Landschaften zwischen Kohlehalden und Kühltürmen als Kulisse für fiktive Geschichten.
„Theo gegen den Rest der Welt“ (1980) von Peter F. Bringmann ist einer der populärsten Spielfilme aus dem Pott, der Klischees bedient und authentisch ist und so zur Ikone wurde. Auch Horst Schimanski, der Tatort-Regisseur in Duisburg, ist eine Identitätsfigur und Ikone.
Robert Frank war fasziniert vom Ruhrgebiet und drehte hier seinen Film „Hunter“ (1989) den heute die wenigsten noch kennen. Dore O. experimentierte und eroberte mit „Kaskara“ (1974) als erste Filmemacherin das Avantgardefilm-Festival Knogge.
Kleine Glanzlichter an den Wänden und in Vitrinen setzen Erinnerungen an Film-Menschen frei, an Filmemacher und Regisseure, Kinobetreiber und Schauspieler aus dem Pott. Unterhaltung durch spielerisch-kreative Angebote, wie sie mittlerweile selbst in Kunstmuseen Einzug gehalten haben, sucht der Besucher vergebens. Eine Ausnahme bildet die Projektion einiger Szenen aus dem Schwarzweißfilm „Die Frühreifen“ von Josef von Báky (1957) auf einen Vorhang. Vom Pulsschlag des Malteserkreuzes bewegte Bilder: die imaginäre Bewegung auf der Leinwand, die der Trägheit des menschlichen Auges geschuldet ist, das 24 Bilder pro Sekunde für eine Bewegung hält.
Als wirkliche Bewegung des Kinos im Ruhrgebiet erfasst uns das Grubenlicht, das über die Stollenwände flackert, die Verdunkelung des Glückauf-Kinosaals, der einem Schacht gleich unter der Erde liegt, und das Ruckeln des Förderkorbs, der aus der Dunkelheit unter Tage hinauf zum Tageslicht ruckelt.
Solcher „Bewegungen“ hätte diese Ausstellung bedurft zur Wiedersehensfreude der Älteren, die den Wandel vom analogen zum digitalen Film erlebt haben, und im weit verbreiteten Home-Streaming unserer Tage das Gemeinschaftserlebnis im besonderen Raum Kino vermissen, und zur Inspiration der unbedarften aber neugierigen jungen Besucher.
Alles zeigen zu wollen, hat individuelle Spielräume der Kuratoren blockiert. Nicht die hundertste Kinokarte, fesselt den Blick des Besuchers, nicht das Programmblatt, das von Verleihen für alle Lichtspielhäuser bundesweit produziert wurde, auch nicht das Kinohäuschen oder die Kameratypen, die technische Entwicklungen veranschaulichen, ohne typisch fürs Ruhrgebiet zu sein. Glamour entsteht an der Schnittstelle künstlerischen und sozialen Engagements,
Zu den Kino-Premieren reisten Stars des deutschen Nachkriegskinos an: Romy Schneider nach Essen, Götz George nach Meiderich, ihr Glanz verschwand rasch mit ihnen. Bleibende Spuren aber hinterließ Wilhelm Wiedau, der als Kohlenhändler und Wirt in Witten lebte und sich aus Leidenschaft zum Film einen Apparat entwickelte, der so gut Szenen aufnehmen wie projizieren konnte.
Mittendrin in der Schau steht ein Steenbeck-Schneidetisch wie Man Rays „Enigma des Isidore Ducasse“: ein rätselhaftes Objekt, solange seine Funktionsweise nicht demonstriert wird. Dieser Aspekt gilt auch für andere Felder der Ausstellung wie etwa die Transformation des Mediums Film vom analogen Handwerk hin zur aktuellen digitalen Filmwiedergabe.
Doch das Kino ist der einzige Ort, an dem immer alles gut ausgeht, heißt es einmal in Claude Lelouchs Kurzfilm „C’était un rendezvous“.