Günter Grass: „Aber natürlich bin ich dagegen. Himmel, Herrgott“

 

Günter Grass, Foto: Florian K, Quelle: WorldcupWiki (Eigene Aufnahme)

Günter Grass hat der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz ein Interview gegeben, das Peter Jahn, wie er in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung schreibt, für „erklärungsbedürftig“ hält. Grass, Schriftsteller, Jahrgang 1927, Träger des Literaturnobelpreises (1999), vom Nobelpreis-Komitee dafür geehrt, dass er „in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat.“ In seinen Werken behandelt Grass die Zeit und die „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus und thematisiert dabei deutsche Traumata wie Schuld, Verdrängen und Vergessen. Jahn, Historiker, Jahrgang 1941, leitete von 1995 bis 2006 das Deutsch-Russische Museum in Berlin. Jahns Forschungsschwerpunkt war (und ist) der deutsche Überfall auf die Sowjetunion und die Stellung des Krieges 1941–45 im kollektiven Gedächtnis der beteiligten Völker.

„Erklärungsbedürftig“
Peter Jahn hat seinen Beitrag über das Grass-Interview in der Haaretz überschrieben mit: „Relativierung von Kriegsgräueln: Wie Günter Grass den Weltkrieg verrechnet“. Ich möchte Ihnen Jahns Text in der Süddeutschen wärmstens ans Herz legen. Denn seine fachlichen Ergänzungen sind wichtiges „Rüstzeug“ für die ins Haus stehende Debatte über Günter Grass und sein unsägliches Interview. Hier geht es direkt zum Beitrag in der Süddeutschen. Mit Peter Jahns Einordnung dieser Fakten in das Gesamtbild, also mit seiner Kommentierung, stimme ich vollständig überein. Ich stolpere nur über ein einziges Wort, und das steht ganz am Anfang des Textes. „Erklärungsbedürftig“ heißt es. Ich räume ein: ich verstehe nicht so ganz, wie Jahn das meint, was er damit meint, … – „erklärungsbedürftig“, das kann eine ganze Menge bedeuten. Und ohne jede Frage erklärt das, was Jahn danach anführt, tatsächlich Vieles.

Sollte jedoch mit „erklärungsbedürftig“ gemeint sein, es bestehe noch irgendein Bedarf, von Grass noch irgendetwas – zu diesem Interview oder wozu auch immer – erklärt zu bekommen, kann ich dazu nur sagen: bei mir jedenfalls nicht. Mein Bedarf an Grass-Worten ist gedeckt. Und ja, mir liegt der Wortlaut dieses Interviews bislang noch nicht vor. Weder in deutscher noch in englischer Sprache. Was vorliegt: neben des Jahn-Statements diese Meldung auf RP Online. Mehr nicht; das reicht aber! Leicht gekürzt liest sie sich so:

Grass: „Holocaust war nicht das einzige Verbrechen“
In einem Interview mit der Zeitung „Haaretz“ rechnete er jetzt den Holocaust mit dem Leid deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion auf und erwähnte nicht das, was erst dazu führte. Grass: „Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu vermindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen. Wir tragen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, aber ihre Verbrechen fügten auch den Deutschen schlimme Katastrophen zu, und so wurden sie zu Opfern.“

Das musste einfach einmal gesagt werden! Und zwar vom Vergangenheitsbewältigungsoberdirektor und keinem anderen. Und zwar in Israel und nirgendwo anders. Hätte Grass nur in einer deutschen – oder von mir aus englischen oder französischen, polnischen oder russischen – Zeitung den Hinweis platziert, dass auch die Deutschen Opfer geworden sind, hätten die Juden einfach so tun können, als hätten sie es nicht gehört. So aber –  Haaretz, Tel Aviv, internationale Ausgabe – ist die ganze Message niet- und nagelfest untergebracht. Nazis, Verbrechen, schlimme Katastrophen – bis hierhin alles bestens bekannt; dann aber: den Deutschen zugefügt, Deutsche wurden Opfer. So, das sitzt. Da müssten sich gerade die Juden besonders gut einfühlen können.

Es geht nicht darum, die „Verbrechen gegen die Juden zu vermindern“
Es geht nicht darum, die „Verbrechen gegen die Juden zu vermindern“. Das hat Grass ausdrücklich gesagt. Und ließe sich allen Ernstes behaupten, dass der Holocaust, also die fabrikmäßige Vernichtung europäischer Juden, „das einzige Verbrechen der Nazis“ gewesen sei?! Na also. Die Anmerkung der „Rheinischen Post“, Grass habe „nicht das erwähnt, was erst dazu führte“, ist bösartig und im Grunde falsch. Günter Grass´ Absicht ist eben nicht, bestimmte Schuldanteile in die Richtung des einen oder anderen Volkes zu verschieben. Schuld sind „die Nazis“, Punkt. Grass interessiert sich – jedenfalls im aktuellen Interview – gar nicht für irgendwelche Schuldanteile; ihm geht es um die Opferverteilung. Um Täter ging es in der sog. Hohmann-Affäre, als am 3. Oktober 2003, also am deutschen Nationalfeiertag ein Rechtsaußen-Bundestagsabgeordneter der CDU seine Parteimitgliedschaft deshalb einbüßte, weil die (damalige und heutige) Vorsitzende – gegen einige Widerstände – darauf bestanden hatte. Hohmann hatte vor acht Jahren gesagt, wenn man die Deutschen als ein Tätervolk bezeichne, könne man die Juden mit gleichem Recht so bezeichnen.

Eine Wenn-Dann-Aussage. Wenn wir schuld sein sollen (was wir nicht sind, so Hohmann), dann sind die Juden aber auch schuld. Wenn schon, dann gleiches Recht bzw. Unrecht für Alle! Nun war bis dato der Terminus Tätervolk nicht allzu geläufig hierzulande, wo das Verbot der Kollektivschuldzuweisung in keinem Lehrplan fehlen darf. Wir merken uns: Hohmann kam mit seiner Trickserei nicht durch, Wenn-Dann und pipapo, nicht mit Merkel! Die Konnotation von Juden und Tätervolk steht – m.E. völlig zu Recht – unter Strafe. Juden sind unschuldig, Deutsche aber auch (Kollektivschuldverbot). Schuld waren und sind „die Nazis“. Und genau an diesem Punkt setzt Günter Grass an. Die Verhältnisse auf der Täterseite sind zweifelsfrei geklärt – „die Nazis“ eben. Grass, der Literaturnobelpreisträger, der Schöngeist, der menschlich Betroffene, richtet seinen differenzierenden Blick ausschließlich auf die Opferseite.

Täterseite, Opferseite
Lesart Günter Grass: „die Nazis“ haben unermessliches Leid über die Völker Europas gebracht. Vor allem freilich über die Juden Europas, ganz klar. Aber nicht nur über sie allein („Der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen“), sondern auch über die Tschechen und die Polen, die Franzosen und die Holländer, die Spanier und die Dänen, usw. usf., vor allem aber – und dies wird leider allzu leicht vergessen – über die Deutschen. Und was diese betrifft, bringt Grass die Sprache auf – bei Haaretz, versteht sich – die deutschen Soldaten im Auslandseinsatz. Also nicht auf die Flüchtlinge und Vertriebenen, nicht auf die in den deutschen Städten Ausgebombten, sondern auf die deutschen Landser. Besonders schlimm hatte es diese bekanntlich erwischt, wenn sie – die meisten! – in russische Kriegsgefangenschaft geraten sind. Hier rechnet Günter Grass folgendermaßen: acht Millionen deutsche Soldaten seien in sowjetische Gefangenschaft genommen worden, davon seien zwei Millionen später zurückgekehrt, Acht minus Zwei macht Sechs. Und schon hat Grass die Zahl, die er so dringend braucht: sechs Millionen.

Diesem Irrsinn ist nicht mit Leichenzählen beizukommen. Viel relevanter ist die hinter dieser Argumentation steckende Vorstellungswelt. Dennoch kann der Hinweis nicht unterbleiben, dass Grass´ Opferzahlen fernab jeder wissenschaftlichen Seriosität liegen. Peter Jahn schreibt im genannten SZ-Beitrag:
Nach unterschiedlichen Zählungen haben 700.000 bis 1,1 Millionen der Gefangenen nicht überlebt, wurden vor allem Opfer der Mangelernährung. Die zahlreichen Erinnerungen heimgekehrter Kriegsgefangener malen ein Bild vom alles beherrschenden Hunger der „Plennis“, das uns schmerzhaft berührt, wenn wir denn zu Mitgefühl fähig sind.
Auffällig ist allerdings in diesen Berichten die immer wiederkehrende Aussage, dass es der Bevölkerung ringsum auch nicht besser gegangen sei.
Hunger bis zur Dystrophie war in der Sowjetunion der Kriegs- und ersten beiden Nachkriegsjahre bestimmend für die große Mehrheit der Bevölkerung, und die deutschen Gefangenen hatten an diesem Leiden ihren schmerzlichen Anteil. Indem aus einer Million an Hungerfolgen Gestorbenen sechs Millionen von den Russen ermordete Deutsche phantasiert werden, stehen bei Grass der Völkermord an den Juden und das deutsche Leiden auf einer Stufe.

Und spätestens an dieser Stelle sind dann auch die tatsächlichen wie in Günter Grass Konstrukt ausgemachten Hauptschuldigen auf wundersame Weise fast verschwunden: „die Nazis“. Sie erscheinen noch in einer Randnotiz in ihrer Rolle als Judenmörder. Hier sechs Millionen, da sechs Millionen. „Die Gaskammern ein Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges“, wie der – bis letzten Januar amtierende – Front-National-Führer Jean-Marie Le Pen schon 1987 dargelegt hatte. In Deutschland tobte unterdessen der sog. „Historikerstreit“ durch die Feuilletons. Auch hier ging es um die Frage nach der „Singularität“ des Holocausts, den Ernst Nolte – zurückhaltend als Frage formuliert – „als Reaktion der Nationalsozialisten auf frühere Ausrottungsmaßnahmen und Gulags in der Sowjetunion“ (Wikipedia) dargestellt hatte. Jürgen Habermas’ machte daraufhin – m.E. zu Recht – einen „revisionistischen“ Historikertrend im Dienst eines nationalkonservativen Geschichtsbilds aus.

Historikerstreit
Ein weites Feld, schließlich zog sich der Historikerstreit etwa ein Jahr lang hin. Ich hatte ihn nicht intensiv verfolgt, aber auch mehr als nur am Rande. Irgendwie hatte ich stets den Eindruck, dass die Habermas-Seite „gewonnen“ hätte und der „Geschichtsrevisionismus“ auf seiner Außenseiterposition verharren müsse. Doch ein flüchtiger Blick liefert notwendigerweise nur ein recht unklares Bild. Wie stark Günter Grass in diese ganze Debatte involviert gewesen war, ist mir ehrlich gesagt völlig entgangen. Oder ich habe es verdrängt, kann auch sein. Wenn Sie mögen, können Sie in dieses oder jenes Buch reinschauen. Auf welcher Seite Grass in dieser Auseinandersetzung steht und stand, werden Sie sich jedoch, auch ohne Fachliteratur hinzuziehen, denken können. Ich zitiere ein letztes Mal aus Peter Jahns SZ-Artikel: „Déjà vu, déjà entendu!“ Wohlbemerkt, er schreibt über Günter Grass: „Es ist, als lauschten wir Heranwachsenden der fünfziger Jahre wieder am Kaffeetisch den Erwachsenen, noch gefangen in Respekt und Schuldgefühlen vor deren Leiden und Leistungen und schon empört über den Einheitstopf, in dem alle Leidensgeschichten zu einer großen Tragik verrührt wurden.“

Ein kurzer Blick ins Jahr 2006
09. Februar 2006. Günter Grass kritisierte wegen der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen die dänische Zeitung „Jyllands-Posten“ in sehr scharfer Form. Es handle sich um „eine gezielte Provokation“, das Blatt sei „rechtsradikal und fremdenfeindlich“. Aber auch von den anderen Medien, die sehr zurückhaltend berichtet und (anfangs) auf die Darstellung auch nur einer einzigen Karikatur verzichtet hatten, zeigte sich der Literaturnobelpreisträger enttäuscht: „Woher nimmt der Westen diese Arroganz?!“ fragte Grass vorwurfsvoll.
19. Juni 2006. Beim Spiegel diskutiert unter Moderation von Manfred Bissinger Günter Grass mit Springer-Chef Mathias Döpfner. Das iranische Atomprogramm kommt zur Sprache.
Grass Stichwort Iran: Ich bin weiß Gott kein Freund dieses iranischen Regimes. Im Gegenteil. Ich lehne es, wie Sie, ab – und ich sehe auch …
Döpfner: … dass der iranische Staatspräsident Atomwaffen will und gleichzeitig die Vernichtung Israels zum Regierungsziel erklärt.
Grass: Aber natürlich bin ich dagegen. Himmel, Herrgott – Sie bekennen sich zu Israel, ich bin auch für den Bestand Israels, aber ich nehme auch zur Kenntnis, dass Israel Atomwaffen hat. Und darüber spricht kein Mensch.
11. August 2006. Günter Grass bekennt sich zu seiner Vergangenheit in der Waffen-SS. „Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche.“ Mit den FAZ-Journalisten Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel spricht Günter Grass zum ersten Mal über sein Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“, seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS und seinen „Knobelkumpan“ im Krieg, Joseph Ratzinger.

Trotz seines fortgeschrittenen Alters – Günter Grass geht auf seinen 84. Geburtstag zu – mischt sich der Nobelpreisträger neben seiner schriftstellerischen und künstlerischen Arbeit unverdrossen in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein. Grass engagiert sich politisch für die SPD und gegen Atomkraft. Er fordert die vollständige Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften und dürfte der reformierten Rechtschreibung immer noch eher ablehnend gegenüberstehen. „Aber natürlich bin ich dagegen. Himmel, Herrgott.“ Günter Grass macht regelmäßig auch die internationale Presse mit seinen Standpunkten vertraut. Wie diese Woche in Israel.

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F
13 Jahre zuvor

Das Interview im Haaretz Magazine, geführt von Tom Segev: https://www.haaretz.com/weekend/magazine/the-german-who-needed-a-fig-leaf-1.380883
GG im Wortlaut: „But the madness and the crime were not expressed only in the Holocaust and did not stop at the end of the war. Of eight million German soldiers who were captured by the Russians, perhaps two million survived and all the rest were liquidated. There were about 14 million refugees in Germany; half the country went directly from Nazi tyranny to communist tyranny. I am not saying this to diminish the gravity of the crime against the Jews, but the Holocaust was not the only crime.“

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