„Gute Politik” wird nicht gegen die AfD helfen

Duisburg 2024: Demo gegen AFD Foto: Peter Ansmann

Derzeit fragen sich viele, was gegen die AfD zu tun sei. Hunderttausende gehen daher auf die Straße. Politiker betonen, die AfD “politisch stellen” zu wollen. Eine beliebte Zauberformel gegen die in Teilen gesichert Rechtsradikalen lautet: “Wir müssen nur gute Politik machen, dann kommen die Menschen wieder.” Die “guten Lösungen” sind natürlich zufällig genau die, die derjenige für richtig hält, der diese Meinung kundtut. Das klingt zu schön um wahr zu sein. Ist es auch. Im Umkehrschluss wird damit behauptet, die aktuelle Politik (oder wahlweise die der vergangenen Legislatur) wäre so schlimm, dass sie die Wähler in die Arme der Radikalen treibt.

Oft handelt es sich bei diesem Argument um eine Dämonisierung des politischen Gegners, als ob z. B. die Grünen etwas dafür könnten, dass ehemalige CDU-Wähler jetzt AfD wählen (es gibt natürlich auch Wählerwanderungen von anderen Parteien und Nichtwählern, aber das Argument kommt besonders von konservativer Seite). Wie mächtig sollen die Grünen eigentlich sein, dass sie Frau Merkel in einer Koalition mit der SPD zu grüner Politik gezwungen haben? Und wenn grünliche Politik in jeder Farbschattierung so unbeliebt ist, wieso hat die Ampel dann eine Mehrheit bekommen und regiert?

Naivität und Dämonisierung

In anderen Fällen geht es bloß um die naive Vorstellung, die Wähler hätten die politischen Fragen noch nicht gut genug verstanden, als ob sich der Durchnittswähler wirklich für die Feinheiten und Unbillen der politischen Gestaltungswege interessieren würde. Als ob 1,5 % bei der Grunderwerbsteuer ausschlaggebend wären für das Gefühl, dass sich im Lande etwas bewegt. Manche Menschen, die gerade zufällig jetzt ein Haus kaufen, werden vielleicht einen Kredit über 200.000 statt 203.000 Euro aufnehmen und sich freuen. Die allermeisten kaufen gerade eh kein Haus. Ob die gemeinsame Abstimmung mit der AfD in Thüringen ein Dammbruch epischen Ausmaßes war, kann man diskutieren. Aber die Vorstellung, so gefundene Lösungen würden grundlegend etwas an der politischen Einstellung von AfD-Wählern ändern, ist absurd.
Menschen, die sich über Monate mit der Frage der Grunderwerbsteuer beschäftigt haben – und das betrifft Politiker wie Journalisten – sehen darin eine große Sache. Ihr Blick darauf, wie wenig solche Details die breite Bevölkerung interessieren, ist versperrt. Leute wollen, dass sofort alles toll wird. Sie wollen sich nicht mit der Frage beschäftigen, ob in Paragraph 3 der Verordnung Z jetzt “müssen” statt “sollen” steht. Das ist aber das Material, aus dem sich Lösungen zusammensetzen.

Und es gibt gar keine “guten” Lösungen, es gibt nur “nicht ganz so katastrophale Lösungen”. Es ist der Kern repräsentativer parlamentarischer Politik, dass sie zu Kompromissen führen soll. Ein rein durch Volksabstimmungen funktionierendes System würde sofort zu Chaos führen, denn dann müsste jeder Bürger zu jedem Gesetz eine Meinung haben. Und dafür müsste er das gesamte Für und Wieder abwägen, müsste alle Argumente der verschiedenen Lobbygruppen kennen und die juristischen Implikationen abschätzen können, die wirtschaftlichen Folgen, die bürokratischen Hindernisse. Nicht umsonst gibt es Ausschüsse im Bundestag, weil nicht mal alle Abgeordneten diese Expertise zu jedem Sachgebiet haben können. Geschweige denn jeder Bürger.
Für den ist es unmöglich, sofern er sich nicht sehr für ein bestimmtes Thema interessiert und sehr viel Zeit darin investiert, einen so umfassenden Überblick über ein politisches Sachgebiet zu haben, dass er darüber entscheiden könnte. Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Gesetze würden zukünftig von einem einzelnen, per Losverfahren bestimmten Wahlberechtigten entworfen und verabschiedet. Die Novellierung des Gebäudeenergiegesetzes wird geschrieben und umgesetzt von: Horst Baiermann (64) aus Bottropp! Diese Verantwortung könnte niemand tragen. Die trägt auch kein Politiker alleine.
Was der einzelne Bürger tun kann, ist nicht viel. Er ist bloß Teil einer Summe und diese Summe (das Wahlvolk) legt noch nicht mal genau fest, wie der Kompromiss aussehen wird, sondern verteilt nur Präferenzen in Gestalt der gewählten Parteien. Soll bei dem Kompromiss der soziale Aspekt im Vordergrund stehen, der Umweltschutz, die Bewahrung der Tradition, der Reichtum der Besitzenden? Bloß ein grober Trend wird ins Parlament gewählt. Die Details überlässt man Profis.

Kompromisse und Kontrolle

Dieser parlamentarische Prozess garantiert also, dass am Ende jedes Gesetz ein Kompromiss ist. Bevor die Öffentlichkeit auch nur den ersten Gesetzesvorschlag zu Gesicht bekommt, sind schon unzählige Ideen diskutiert und verworfen worden. 100% aller Gesetze, die je verabschiedet wurden, haben Menschen zurückgelassen, die sich davon eingeschränkt fühlten und solche, denen es nicht weit genug ging. Ein “gutes” Gesetz, das alle Menschen zufrieden macht, so dass sie sagen, jetzt wäre der Zustand der Glückseligkeit erreicht, kann es nicht geben. Erst recht nicht in Zeiten von Krieg, Klimawandel, Inflation, Flucht und technischem Umbruch.

Das klingt sehr frustrierend. Soll man also brav sein Kreuzchen machen und sich ansonsten nicht einmischen? Soll man darauf vertrauen, dass sowieso alles richtig gemacht wird? Nein. Erstens gibt es mehr als nur Wahlen. Jedem steht es frei, sich zu engagieren, in Parteien, in NGOs, in der Lokalpolitik, bei Demonstrationen, durch Nachfragen beim Abgeordneten, im Netz. Zweitens reicht es nicht, nur irgendwas zu wählen. Der Wähler ist die Kontrollinstanz, die am Ende der Wahlperiode die beschriebene Arbeit der Profis bewertet. Diese Verantwortung ist groß und sie wird auf Millionen von Menschen aufgeteilt. Wenn ich die Verantwortung ernst nehme, muss ich mich sehr gut informieren. Ich soll die Arbeit von Profis bewerten, ohne selbst einer zu sein. Obwohl obiges Gedankenexperiment beweist, dass es sehr dumm wäre, mich alleine über ein Gesetz entscheiden zu lassen, muss ich ohne Hilfe entscheiden, ob die, die es erlassen haben, meines Erachtens vertrauenswürdig waren.
Das Kreuz mache ich in der Wahlkabine alleine, aber die Entscheidung treffe ich mit vielen Millionen Menschen gemeinsam. So vielen, dass es sich anfühlen kann, als wäre ich unbedeutend und ohne Einfluss. Ja, es ist frustrierend. Egal, wie gut ich mich informiere, ich werde nie den Einblick in die Regierungsarbeit haben, den die Regierenden selbst hatten, werde nie alle Umstände verstehen, die zu einer Entscheidung geführt haben. Und egal, wie überzeugt ich bin, mein Kreuz wird nie mehr als ein Millionstel ausmachen. Es mag aus Sicht des Einzelnen frustrierend sein, aber aus Sicht der Gesellschaft ist es ein ziemlich gutes System.

Verführung

Das war schon immer so. Was neu ist, ist eine Partei, die ein verführerisches Angebot macht. Es lautet: Du kannst dir deine Wahrheit jetzt aussuchen. Die AfD, als Verkörperung eines Trends, der sich auch anderswo zeigt, braucht keine Kompromisse. Im Gegenteil. Sie behauptet, es gäbe eine einfache Lösung und wo sie das nicht kann, behauptet sie sogar, es gäbe das Problem nicht. Wer erstmal den Boden sachlichen Denkens verlassen hat, ist frei, alles zu fordern und alles zu leugnen. Es muss erhebend sein. Alles kann man lächerlich finden, über jede Initiative sich empören, man muss gar nicht versuchen, die Hintergründe zu verstehen, die andere Meinung nachzuvollziehen, sich zu informieren. Ich kann einfach mein Gefühl (etwa bezüglich Fremden oder zum Klima) zum Maßstab erheben und jeden zum Idioten erklären, der Lösungen vorschlägt, die meinem Gefühl nicht entsprechen.
Dabei geht es nicht nur darum, das Blaue vom Himmel zu versprechen (die AfD macht ja oft nicht mal Vorschläge), sondern den Kompromiss an sich zu verunglimpfen. Man sieht dies auch deutlich bei den Republikanern in den USA, die den Mehrheitsführer McCarthy dafür geschasst haben, dass er nach langem Ringen überhaupt für irgendeinen Kompromiss stand.

Die AfD nutzt dabei nur einen Trend. Sie haben das nicht erfunden und sie müssen es auch nicht aktiv aufrechterhalten. Wahrscheinlich wären die derzeitigen Protagonisten nach dem Abgang des gewissenlosen, aber intelligenten Jörg Meuthen auch nicht gerissen genug, so einen Trend zu erfinden. Aber um die etablierten Muster zu bedienen reicht auch das intellektuelle Format eines Chrupalla.

Das “Gute-Politik”-Argument ist eine Wiederholung der AfD-Propaganda, denn es unterstellt, die bestehende Politik wäre so unterirdisch schlecht, dass das Wählen von Rechtsradikalen eine nachvollziehbare Reaktion wäre. Zwar stimmt man deren Ideen nicht zu, aber die Mär, nach der die derzeit gesuchten Kompromisse völlig abwegig sind, wird bestätigt. Damit unterstützt man die Radikalisierung der Unzufriedenen, denn der nächste Kompromiss, den die eigene Partei eingeht, wird natürlich ebenso wenig zufriedenstellend sein. Dieses Dilemma erlebt ja derzeit die FDP, die, auf anti-grünem Stimmenfang und quasi schon die nächste, erwartbare APO-Phase vorwegnehmend, die eigenen Kompromisse auf BILD-Niveau torpediert.
Friedrich Merz bläst ins gleiche Horn und sägt damit am eigenen Ast, um mal zwei Metaphern in einem Satz zu verwursten (ok, drei). Wer Ausländer so hasst, dass ihre Entfernung aus Deutschland sein Hauptwahlargument darstellt, der hat keinen Grund, wieder CDU zu wählen, nur weil die jetzt auch AfD-Sprüche bringt.

Grenzen

Das heißt nicht, dass man keine schärferen Regeln in der Migrationspolitik befürworten darf, weil man sonst ein Nazi wäre. Aber wenn man zuvorderst ein Demokrat ist und zuvorderst akzeptiert, dass Politik ein kleinteiliger und langwieriger Prozess ist, der am Ende zu Kompromissen führt, dann kann eben eine schärfere Migrationspolitik nur ein Ziel unter vielen sein, auf das ich mit meinen begrenzten Möglichkeiten hinarbeiten kann. Begrenzt durch internationale Politik, begrenzt durch geopolitische Begebenheiten, begrenzt durch Budgets, begrenzt durch das Grundgesetz, begrenzt durch kommunale, föderale, ressortbezogene Zuständigkeiten. Begrenzt durch politischen Widerstand.
Die Vorstellung, es sei irgendwie legitim – oder auch nur nachvollziehbar – zur Durchsetzung meiner Wünsche eine antidemokratische Partei zu wählen, ist im besten Fall naiv, wie das Kind, das sich im Supermarkt auf dem Boden wirft, oder eben im Kern selbst antidemokratisch. Protestwahl bedeutet, man versucht die demokratisch gewählte Regierung zu zwingen, so zu handeln, wie man selbst es für richtig hält, indem man droht, sonst die Demokratie selbst zu opfern. Dadurch hat man sie aber schon geopfert. Die Bezeichnung Protestwähler ist daher eine Verniedlichung.

Demokratie verteidigen statt verunglimpfen

 

Die Hemmungen sind gefallen und Menschen mit rechtsextremen Haltungen haben jetzt eine politische Heimat, die sie früher nicht hatten. Sie werden durch etwas anders gelagerte Kompromisse diese Heimat nicht aufgeben.
Stattdessen muss man den Zusammenhalt der Demokraten fördern. Muss den Rechtsradikalen Einhalt gebieten, wie es jetzt hunderttausendfach auf den Straßen geschieht. Es sind erschreckend viele, aber es werden nicht weniger dadurch, dass man ihrer Lüge zustimmt, die Demokratie funktioniere nicht. Sie sind trotz allem in der Minderheit und die Mehrheit muss sich gegen sie behaupten.
Man muss den demokratischen Prozess betonen, mit dessen Kompromissbereitschaft prahlen, die Unlösbarkeit von Problemen einräumen, statt die Lüge zu verbreiten, man hätte eine perfekte Lösung parat. "
Zu glauben, man könnte eine Politik machen, die so “gut” ist, dass die Rechtsradikalen ihre Xenophobie vergessen, ist nicht nur naiv. Es ist auch gefährlich für die Demokratie, weil es den Grundgedanken untergräbt, dass wir alle uns irgendwie zusammenraufen müssen und akzeptieren müssen, dass die Lösungsvorschläge unseres politischen Gegners immer noch besser sind als die faschistischen Träume unseres politischen Feindes.

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Arnold Voss
10 Monate zuvor

Dieser interessante Artikel hat einige stille Annahmen zur Voraussetzung. 1. Das eine politische Haltung nicht durch Argumente und/oder Erfahrungen änderbar ist 2. Das Politik aus sich heraus so komplex ist, dass sie den Durchschnittswähler per se überfordert und erst recht den, der sowieso zu einfachen Weltbildern neigt 3. Das tiefsitzende Ressentiments sich unausweichlich in Wahlentscheidungen umsetzen. Nichts davon stimmt. Zu 1: Niemand wird mit einer bestimmten politischen Haltung geboren. Er erwirbt sie durch Erziehung, Erfahrung, Wissen und natürlich auch durch politische Beeinflussung, Propaganda und Gehirnwäsche eingeschlossen. Deswegen ist ein politische Haltung von Erwachsenen schwer änderbar, aber nicht unveränderlich. Zu 2: Politik wird außer von Experten immer vereinfacht wahrgenommen. Auch das Programm der AFD. Aber Vereinfachung bedeutet nicht in jedem Fall Verblödung und/oder völlige Manipulierbarkeit. Eine verringerte Urteilskraft ist auch eine Urteilskraft. die sehr wohl in der Tendenz rational sein kann. Zu 3: Ressentiments werden dann nicht in Wahlentscheidungen umgesetzt, wenn der Wähler sich ansonsten mit seinen ihm wichtiger erscheinenden Themen in der herrschenden Politik vertreten fühlt. Ressentiments werde jedoch, zumindest auf Zeit, jenseits anderer Themen in Wahlentscheidungen umgesetzt, wenn beim Wähler besondere, ihm bedrohlich erscheinende Ereignisse, sie zu mobilisieren in der Lage sind. Sie gehen dann psychologische von der Latenz in die Manifestation über. Aber auch das ist prinzipiell durch andere, entgegengesetzte Ereignisse umkehrbar.

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