Ein Kommentar zur gestrigen Veranstaltung „Essen vor dem Kulturknall? – Die Kulturstadt zwischen Aufbruch und Rückbau“ im Rahmen von „Essen Kontrovers“, der NRZ-Diskussionsreihe in der Essener Volkshochschule.
Im Grunde sind die parteipolitischen Probleme zweitrangig, aber aufgrund der Podiumsbesetzung müssen sie erwähnt werden: Der Regierungspräsident von Düsseldorf redet aus seinem Amt, in das er durch die CDU gekommen ist, heraus: Jürgen Büssow. Elisabeth Mews ist kulturpolitische Sprecherin von Bündnis90/Die Grünen. Hanns-Jürgen Spieß ist für die SPD Kulturausschussvorsitzender der Stadt Essen. Conni Sandmann spricht für das Theater Freudenhaus, also die „freie Szene“, Adil Laraki als Betriebsratsvorsitzender der Theater/Philharmonie GmbH spricht im Grunde gewerkschaftlich orientiert für mehrere Dutzend Angestellte im öffentlichen Kulturdienst. (Und genau so von rechts nach links ist auch die Reihenfolge auf dem Podium.) Also abschließend zur Parteipolitik: Die Stadt Essen müsste eigentlich schon längst insolvent gegangen sein, darf sich nicht weiter verschulden, und um die Art der Kürzungen und Ausnahmen streiten sich seit einiger Zeit die Lobbys und Lobbyisten. Und das durchaus Partei übergreifend, denn Geld für die Gewerkschaftskumpel bei der Philharmonie bedeutet ja weniger Geld für zum Beispiel Kindertagesstätten und Problemviertel. Aber der Kulturausschuss darf ja nur über Kultur reden. Und der Regierungspräsident darf nur auf „Lernen von anderen Städten“ verweisen. Und die freie Szene erkennt, dass die Zeit von Tariflöhnen auch auf der bösen Sonnenseite der ehemals so genannten E-Kultur vorbei ist. Aber das sind im Grunde Luxusprobleme. Warum?
Als sich gegen Ende der Diskussion eine ältere Dame erhebt, wird plötzlich wie von selbst eine historische Einordnung geschaffen. Es entstehen Bilder von der „Kultur als zweiten Natur des Menschen“ und wie die Nachkriegsgeneration versucht hat, zuerst gegen die hartnäckige Barbarei des Postfaschismus, dann gegen den verstärkten Kulturimperialismus anglo-amerikanischer Popkultur etwas Eigenes zu setzen. Etwas, das sich also zwischen Volkstheater, Klassikern und Kulturpädagogik bewegte und noch bewegt. Und die geistigen Kinder dieser Arbeit sitzen nun auf dem Podium und in den Bänken und fragen sich, warum ihre schöne Kulturblase zu platzen droht. Dabei sollten sie es doch ein Leben lang einmal besser haben.
Und damit in den Gedankenbildern zur nächsten Generation, die zum Teil in ganz anderen Kulturblasen lebt als denen, die sich die Großmutter für sie vorgestellt hatte. Das muss nicht das Knöpfchen im Ohr oder der Chip im Arm sein, das kann auch ganz einfach die ganz große Inszenierung Kulturhauptstadt sein, wie sie jetzt in Glas und Stahl gehauen wird. Der erfüllte Traum der einen ist der gelebte der nächsten und ein Hohn für die anderen, die eben die neuen Treppen vor der Volkshochschule nicht essen können. Und das tut weh – aber diesen Schmerz spüren die Funktionäre in den Kulturblasen eben nur gedämpft. Dass Kulturhauptstadt eigentlich sein müsste, dass eben aus dem Geiste von Solidarität und Kooperationsbereitschaft zunächst das friedliche Miteinander gesichert wird, damit diese „zweite Natur“ überhaupt funktioniert: Das einzusehen, das würde auch ein Stück politische Kultur verlangen. Und damit wäre Essen dann würdig diesen Titel auch zu tragen. Dann wäre Kultur nämlich nicht nur die Inszenierung (oder der Konsum) von Kultur (bis hin zur Inszenierung von Solidarität), sondern aus der Einsicht in die Gegebenheiten der eigenen sozialen Existenz geboren. Diese „zweite Natur“ kommt nämlich auch nicht von oben, sie muss in dieser Welt täglich neu verhandelt werden. Und – das gilt nicht nur für Essen – besser spät als nie.
(Foto der Volkshochschule: Olaf Mahlstedt)
@Jens Kobler
Jürgen Büssow, SPD-Politiker und ist seit 1995 Regierungspräsident des Regierungsbezirks Düsseldorf ist nicht durch die CDU ins Amt gekommen. Er wurde nur durch die CDU weiterhin im Amt bestätigt, warum auch immer.
Vermutlich hat dieses mit der Planung zu tun, das die CDU den Regierungsbezirks Düsseldorf auflösen möchte.
Jens, mal abgesehen davon, dass Wörter wie ?Blase? oder ?platzen? seit längerem nur noch in Mottoshows (oder beim Bullshit-Bingo) verwendet werden dürfen: Was ist es denn nun Ihre Kritik an der Kulturhauptstadt? Zuviel „Inszenierung“? Zuwenig „friedliches Miteinander??
Der Beitrag ist ein einziger riesiger (und schwer abschüssiger) Allgemeinplatz ? dass es gegen Ende dann auch noch ganz arg kirchentagslyrisch wird, will ich dem spirituellen Einfluss des Doms zuschreiben (liegt vis-á-vis der Volkshochschule).
Also diesmal kein ?Yea?, sondern:
@ Nobby:
Okay, „in dem er bestätigt wurde…“. Aber es geht eben nicht um Verschwörungstheorien zum an SPDCDUetc-Abarbeiten, sondern…
@ DEH: … darum, dass ich es nicht schätze, wenn plötzlich quer durch alle sich auf den Kulturkuchen stürzenden Interessengruppen aufgrund des Kulturhauptstadt-Hypes jedweder snobistische Quatsch eben nicht hinterfragt wird, während es unterhalb der E- und Popkulturebene brennt. Und deshalb guck ich jetzt auch mal nicht das tolle Video. Die Realität der Verteilungskämpfe in Essen lässt sich in dem ersten Absatz noch einmal nachlesen, und ich bin da nicht auf Seiten des real existierenden Kulturetats. Punkt.
@ Jens:
Die diffuse Kritik an der Kulturhauptstadt, die ja allenthalben (und nicht nur hier) zu spüren ist, leidet daran, dass sie das zumeist auch bleibt: diffus. Wenn Sie also snobistischen Quatsch entdeckt haben, der es nicht verdient hat, gehypt zu werden, ist es nur konsequent, diesen snobistischen Quatsch auch klar zu benennen.
Und was die ?Verteilungskämpfe? anbetrifft: Wer jetzt die kommunalen Kulturetats gegen die Bildungs- oder Sozialetats in Stellung bringt, hat sich auf das falsche Spiel eingelassen.
@ DEH: Meine Einstellung zu bestimmten Projekten für 2010 (Der ganze Autobahnkram: Nein. Atolle: Ja. Mehr Repräsentation bereits existierender regionaler Projekte und Kulturinstitutionen statt der Arbeitsweise von Gorny. Mehr und eine andere Jugendarbeit. Wie Zollverein im Umfeld Katernberg eben nicht funktioniert. …) lässt sich hier zum Glück seit geraumer Zeit verfolgen. Und wenn die Fragestellung einer Veranstaltung ist, ob Essen einen relativ zu hohen bzw. in die falschen Kanäle fließenden Kulturetat hat, dann wird die Meinung dazu auch in einem Kommentar (!) zu einer (!) Veranstaltung einfließen. Und es pumpt ja nicht nur die Kommune Geld dahin, wo dieses äußerst fragwürdig (hier auch mal „snobistisch“ genannt) in gesellschaftlich gesehen sehr unsoziale Projekte gesteckt wird.
Was ist denn das „richtige Spiel“? Eskalationsstrategie samt Verelendungspraxis? Bei gleichzeitigem Mund geschlossen und die Hände auf halten?
(btw: Dieses „Spiel“ wird ja in dem Artikel hier vor allem kurz dargestellt, um dann den Solidaritätsmythos des Ruhrgebiets gleich mit zu hinterfragen. Und damit dann den aktuellen im Ruhrgebiet den Diskurs dominieren(wollen)den Kulturbegriff. Und all das beißt sich dann ein wenig, womit man in der Realität zurück ist: Bei den Lebensumständen der Menschen hier.) Etwas „Essen ist super“-Ideologie für ein paar Milliarden in die Schädel, dann klappt es schon zwischen Establishment und Currywurstverkäufer-Bürgern? Und alle kommen wegen Scheich XY und Investor MG ganz toll in Lohn und Brot? Während die hiesige Sozial- und Kulturinfrastruktur zerbröselt? Dieses „Spiel“? Den Mittelstand zerschießen zugunsten einer schönen neuen Arbeiterklassenwelt? Das „Spiel“, in dem man aber auch alles auf die letzte und vielleicht auch aktuelle Bundesregierung schieben darf? Und die USA? So dass hier aber auch jedeR einfach nur Vogel Strauss spielt und guckt dass mensch bloss nicht als nächsteR dran ist? Ist das gewünscht? Noch mehr Festung? Dabei dachte ich bislang, Sie sind eher ein Salon-Linksliberaler…
@ Jens:
Die Kulturhauptstadt wird die Klassenlage im Ruhrgebiet nicht verändern (genauso wenig wie dies ein Verzicht auf die Kulturhauptstadt tun würde). Sie, die Kulturhauptstadt, wird sie, die Klassenlage, so wie es aussieht, aber auch nur am Rande thematisieren. Das ist, da dürften wir uns einig sein, ein großes Versäumnis, wenn soziale und Demokratie-Fragen weitgehend ausgeklammert bleiben bzw. nur eingebettet in künstlerischen Produktionen vorkommen (wie etwa in Polleschs Ruhrtrilogie). Deshalb ist jede diesbezügliche inhaltliche Kritik am Programmdesign von RUHR.2010 notwendig und richtig (nebenbei: der eine oder andere, der seinerzeit das Ruhrgebiet per Jury-Votum zur Kulturhauptstadt gemacht hat, sieht das auch so).
Ergo: Das Ruhrgebiet als role model für urbane Demokratie (á la Porto Alegre)? Fehlanzeige.
Die Frage, wie Städte ihre Aufgaben finanzieren ? oder wie sie ihre Aufgaben künftig überhaupt definieren ? passt dazu. Da gibt es keine echte Lösung im bisherigen Betriebsmodus, und deshalb ist auch der Versuch, defizitäre Bildungsetats durch Kürzungen im Kulturetat ausgleichen zu wollen, noch nicht mal eine Scheinlösung. Es ist die Art ?realistischen Denkens?, wie man sie seit Jahrzehnten von allen Kämmerern aller Kommunen kennt. Krämerdenken. Geholfen hat dieses Denken nicht.
Und deshalb abschließend ein Wort zur Politik: Ja, Eskalation ist richtig (?Verelendung? findet auch ohne Eskalation statt). ? ?Raise less corn and more hell?, wie Mike Davis jüngst die Notwendigkeit produktiver Unruhe(n) beschrieb:
https://www.thenation.com/doc/20090330/davis
@ DEH: Na, dann wünsche ich doch einfach noch einen guten Abend! (Zusatz unter uns Hobbypolitikern: Mit den letzten beiden Absätzen ging es doch gerade darum, ein Breiten kompatibles, regional-spezifisches, historisch plausibles und vor allem solidarisches Selbstverständnis, meinetwegen „von unten“, gegen die Spaltungsmechanismen „von oben“ zu platzieren. Denn da hilft nunmal kein Pogo! Zu salbungsvoll formuliert? Vielleicht hatte mich die Rhetorik von Die Linke am Samstag arg schwer abgeschreckt. Aber: psst, bitte!)
Leute Leute, Kulturhauptstadt ist immer von oben. Selbst bei den Sachen, die von unten sein sollen. Mehr Demokratie hätte zwar sein können, wurde aber durch das absolute Missverhältnis von Projektvorschlags- und Geldmenge schwer torpediert und wegen anfänglicher Intendantenauswahlquerellen unter heftigem Zeitdruck gesetzt.
Hinzu kam die übliche Bevorzugung des jeweils eigenen Netzwerks plus der Erfüllung von Versprechen, die vorweg gegeben werden mussten um genügend Unterstützer für das Ganze zu bekommen. Nicht zu vergessen die unvermeidlichen internen Konflikte zwischen 4 Intendanten, einer Unzahl von Kommunen, dem Regionalverband und der Landesregierung als Hauptbeteiligte. Da blieb alles in allem nicht viel Verhandlungsmasse als Voraussetzung fairer Entscheidungsverfahren.
Ansonsten ist es jetzt für Kritik, die noch was ändern könnte, schlicht zu spät. Wir können all froh sein, wenn dass, was jetzt in der Pipeline ist, auch unversehrt und einigermaßen professionell in 2010 über die Bühne geht. Bei genauerer Betrachtung wäre das unter den bestehenden Verhältnissen sogar schon als Erfolg zu verbuchen.
2011 kann dann wieder ernsthaft darüber geredet werden, wass das Ganze für die Region gebracht hat. Hoffentlich geschieht das nicht mit den gleichen Scheuklappen wie bei der IBA Emscherpark.
@ A.V.: Ab und an macht es viel Sinn, innezuhalten und zu erinnern, damit klar wird warum etwas (die Haushaltslage, die Situation der Kulturarbeit im Ruhrgebiet, die Diskrepanzen zwischen Inszenierung und sozialer Realität) ist wie es ist. Und dass es damit potentiell wieder veränderbar ist. Vor allem wenn die Kommune muss. Auch das thematisiert der Kommentar schon in seiner Herangehensweise, denn es geht ja beileibe nicht nur um die KuHauSt, eher darum wie die Art ihrer Umsetzung und manch andere Akzente in der Kulturpolitik in weiten Teilen schwer fremdeln gegenüber der Gegenwart und Geschichte der Region. Und das zeigt(e) sich auch in den übersteigerten Erwartungen vieler Kulturschaffender, die immer noch mit mehr statt weniger Geld rechnen – auf Kosten anderer. Just fiel mir ein, dass der 31. März dafür ein guter Termin war; Anlass, zumindest für meinen Beitrag, war aber nicht der scheidende Kulturdezernent, um das bei dieser Gelegenheit klar zu sagen.
Nicht das wir uns missverstehen, Jens. Du weist ja auch auf ein grunsätzliches Verteilungsproblem hin, und das kann man letztlich zu jedem Zeitpunkt tun. Es ist auch keine Frage, dass das, was zur Zeit in der regionalen Kultur oben an Geld drauf gesattelt wird unten wieder wegbricht.
Aber wer sich auf die Kulturhauptstadt-Nummer eingelassen respektive sie befürwortet hat, der musste bei den aktuellen politischen Proporz-Verhältnissen, dem begrenzten Geld und dem gegebenem Personal genau mit diesem (bisherigen) Ergebnis, wenn nicht mit Weniger rechnen.
Mit öffentlicher und zugleich produktiver Streitkultur hatte diese Region nämlich noch nie sonderlich viel am Hut, und die vielgespriesene regionale Solidarität ist schon lange genauso (nur noch) ein Mythos wie die dazugehörige Industriekultur.
Vielleicht entsteht sie in der jetzigen und offensichtlich tiefgreifenden Krise ja wieder und mit ihr ein neues Verhältnis zu Kunst und Kultur. Dazu könnte 2010 im Positiven wie im Negativen ein Beschleuniger sein. Aber auch das kann man nur (noch) hoffen. Wahrscheinlich ist es eher nicht.
In diesem Sinne sind statt Kritik ab jetzt eher (noch) ein paar gute und kostengünstige Ideen 5 Minuten vor Eingabeschluss gefragt.
@ A.V.: Einige von diesen Ideen präsentiere (beileibe nicht nur, siehe Artikel über diesem hier u.a.) ich doch im Schnitt drei Mal die Woche hier – und das extrem kostengünstig. 😉
@ Arnold: Nein, Kritik hat keinen Eingabeschluss; sie ist Teil dessen, was eine über den Tag wirksame Kulturhauptstadt braucht, und zwar gerade im Veranstaltungsjahr selbst. Die Kulturhauptstadt kann dadurch nur besser werden (Deshalb hat mich an Jens? Beitrag ja nicht gestört, dass er Kritik übte, sondern wie er es tat ? und dass sie einherging mit der impliziten Aufforderung an die immateriellen Arbeiter aus der Kulturindustrie, sich angesichts der sozialen Lage von Currywurstverkäuferkindern in neuer Bescheidenheit zu üben. Das ist genau die Art von ?Solidarität?, die dem von Ihnen, Jens, angeführten ?Establishment? besonders gut gefallen dürfte).
Sie, die Kritik, dient letztlich auch dazu, Prozesse in Gang zu bringen, zu der die ?offizielle? Kulturhauptstadt womöglich gar nicht willens oder in der Lage ist. Da hätten Oliver Scheytt und Co. eine positive katalytische Wirkung wider Absicht. Das ist auch okay so.
Ach ja, und Jens: Wenn Ihnen Ihr Anliegen Ernst ist, machen Sie sich nicht zum ?Hobbypolitiker?, egal wie viel halbironisches Augenzwinkern da wieder dabei ist. Es ist vollkommen in Ordnung, ein politischer Mensch zu sein. So von Salon zu Salon (-: