Es stimmt doch beides: wir brauchen ein freies Internet – brauchen freie Rede und wir brauchen den Schutz von Opfern vor Tätern – auch online. Nun ist es Kennzeichen unseres Diskurses, vielleicht war das auch schon immer so, dass man so tat, als müsste man sich für eines entscheiden, für eine Position, für ein Pro, oder für ein Contra. Vielleicht ist es wirklich so. Für mich ist es manchmal nicht so. Für mich ist es manchmal, und so hier, dass ich das eine Absolutum theoretisch richtig finde, und es dann gegen ein anderes Absolutum abwäge, und am Ende zu verschiedenen Positionen gleichzeitig gelange, die ich nicht aufgelöst bekomme. Es ist ein wenig wie bei der Heisenbergschen Unschärferelation: je genauer ich versuche, die Lösung dingfest zu machen, desto mehr verliert die Theorie dahinter an Substanz.
Ich bin für ein freies Internet, ich bin dafür, dass Taten verfolgt gehören, nicht Worte. Aber ich sehe auch, dass ersteres mitunter von zweiterem nicht zu trennen ist. Ich möchte nicht, dass sich ein Mob oder auch nur zwei Personen öffentlich zu einem Mord, Lynchmord oder was auch immer verabreden können. Ich möchte auch keine Kindermissbrauchsfotos oder -videos einfach so im Netz haben, ebenso wenig wie am Kiosk um die Ecke, und das nicht einmal primär, weil ich weiß, dass die Idee, dass Pädophile dadurch „Druck abbauen“ und dann keinen eigenen Missbrauch begehen, eben auch nicht so stimmt (es ist komplizierter: manche Pädophile können so „Druck abbauen“, andere steigern so, was sie brauchen, um ihren „Druck abzubauen“). Und nein, das ist nichts anderes, es gibt keine klare, keine trennscharfe Linie, was politische Inhalte sind, und was nicht. Denn Politik ist, was Menschen darunter verstehen, und unter Pädophilen gibt es einen Teil, der sich als Opfer politischer Verfolgung wähnt, weil sie ihre sexuellen Präferenzen nicht ausleben können. Also: wieso dann nicht im Internet das strafbar machen, was offline auch strafbar ist, und gut ist? Weil bereits offline zuviel strafbar ist. Weil wir im „Reallife“ eine weitgehende und spezifisch deutsche Verbotstradition haben, die wir die Chancen hätten, hatten, haben, was auch immer, zu überwinden, oder zumindest zu relativieren.
Aber: es ist nicht nur das Kindermißbrauchsmaterial, das mir Kopfschmerzen bereitet. Will ich wirklich Hetzjagden auf Menschen, unter Angabe ihrer Adressen und persönlichen Verhältnisse im Netz haben? Nein, das will ich nicht. Und ich meine wirklich echte Hetzen, wie sie bei linksunten und auch in rechtsextremen (jaja, ich benutze den Begriff „extrem“, nur um einen Teil unserer Leser zu triggern, weil ich das darf) Foren geschehen, und nicht, was die Mimimisten vom BILDblog dazu machen. Natürlich sehe auch ich, dass dieselben Personen, die sonst Staatseingriffe für „safe spaces“ und gegen „hate speech“ fordern, nun heulen, weil es mit linksunten ihr Sujet getroffen hat. Einige von ihnen sind wenigstens so ehrlich einzuräumen, dass sie im Gegenzug das Verbot rechtsextremer Seiten wollen, damit das aktuelle Verbot ok geht; wenigstens schreit letztere Gruppe nicht so heuchlerisch nach Meinungsfreiheit.
Doch was folgt daraus nun für mich? Gilt es vielleicht Verletzungen und Verleumdungen auch in einer Art und Weise zu akzeptieren, die „offline“ strafrechtlich relevant wäre, weil dadurch höherwertige Rechtsgüter geschützt werden? So gerne würde ich das so sehen – und dann merke ich, dass ich wieder dazu komme, dass ich es eben doch nicht so sehe. Dazu kommt: Gesetze spiegeln zum einen die Haltungen einer Bevölkerung wieder, wie sie ebenso normativ auf diese zurückwirken. Die Position eines völlig freien Internets ist eine Randgruppenmeinung. Die Mehrheit der Menschen in diesem, und in vielen anderen Ländern, ist der Meinung, dass Freiheit eben auch online Grenzen braucht. Diese Menschen sind weder alle Faschisten noch regressive Linke, noch die Schnittmenge davon, sie haben sich in klarer Abwägung dafür entschieden, die Dinge so zu sehen. Und nein, sie sind eben nicht alle minderbemittelte Volltrottel, als die sie die rechten und linken Eliten so gerne sehen, als bedauernswerte Schafe, deren Wollen (bestenfalls) bei den regelmäßigen Wahlen war genommen (und manchmal mal gar umgesetzt) wird. Meine Mitbürger sind nicht weniger wert als ich es bin.
Somit komme ich dann zum Schluss und stelle fest, dass mir der Schluss fehlt, die sinnvolle Synapse. Ich stehe eben ratlos vor dem beschriebenen Abwägungsproblem. Andere vielleicht auch. Vielleicht auch nicht. Schluss.
To the point! And the Werner goes to Ruhrbarone (frischerfundenes Oscar-Pendant für Artikel). Echt wertvolle Debattenzusammenfassung.
Das Internet macht Phantasien sichtbar und gleichzeitig erzeugt es Wünsche. Das Pornoangebot im Internet richtet sich hauptsächlich an ein männliches Zielpublikum. Die Renner sind Bilder und Filme, die einem traditionellen Geschlechtsrollenskript folgen. D.h. es ist so von Gewalt und Entwürdigung durchsetzt, dass die Darstellungen oft genug symbolischen Hinrichtungen ähneln. Mit Erwachsenen nachinszenierte Missbrauchsdarstellungen gibt es auf den beliebten Plattformen, die der Kundschaft suggerieren, es seien Laien am Werk. Abbildungen tatsächlichen Kindesmissbrauchs sind fast genauso leicht zu beschaffen.
Dass die Nachfrage so groß ist, muss nicht verwundern. Trotz aller Aufklärung und Emanzipation folgt die sexuelle Rollenverteilung immer noch archaischen Mustern, die in der Frühzeit unserer Kultur angelegt sind. Nach denen "Sex" für einen Mann bedeutet, sich genital an einer anderen Person abzureagieren. Die eine Frau, ein anderer (jüngerer und rangniederer!) Mann oder ein Kind sein kann.
"20 Prozent aller Männer, daran erinnerte Thomas Knecht, sind ansprechbar auf Kindersex": ein Zitat aus einem Artikel, der im März diesen Jahres im Schweizer Tagesanzeiger erschien. Dr. Thomas Knecht ist forensischer Psychiater, beschäftigt sich also mit psychisch kranken Straftätern.
Selbstverständlich setzt nicht jeder dieser von Kindesmissbrauch phantasierende Mann seine Wunschvorstellungen in die Tat um. Aber Ecpat, eine Organisation, die sich gegen Kinderhandel engagiert, erinnerte jüngst daran, dass die wenigsten als "Kindersextouristen" bezeichneten Männer ihre Verbrechen planen. Der überwiegende Teil der Täter ergreift lediglich Gelegenheiten, der sich ihm auf seinen Reisen bietet. Und reist mit diesen neuen „Erfahrungen“ wieder nach Hause. Wie viele dieser Männer wird zuhause wohl wieder missbrauchen, sobald sich wieder die Gelegenheit ergibt? Da lediglich ein Prozent der männlichen Bevölkerung im klinischen Sinne an Pädophilie erkrankt ist, spiegelt sich in dem, worauf Ecpat hinwies wider, was Fachleute und ErfahrungsexpertInnen seit langem anführen: bei den Menschen, die Kinder missbrauchen, handelt es sich zum großen Teil um Personen, die in dem Sinne normal sind, als dass ihre Psyche und ihr Verhalten nicht grundsätzlich von der Norm abweichen.
Sexualität kann etwas Wunderbares sein, Menschen zueinander führen, vorüber gehend oder dauerhaft tief verbinden und beglücken. Aber wie alles Menschliche, hat auch unsere Sexualität böse, abstoßende und manchmal geradezu teuflische Seiten. Die Auseinandersetzung damit, nimmt uns keine Gesetzgebung ab. Und es nützt daher nichts, vor dieser Tatsache die Augen zu verschließen oder die Beschäftigung damit an Behörden bzw. ExpertInnen zu delegieren. Kinder sind so gut vor Missbrauch geschützt, wie wir Erwachsenen, die für ihren Schutz verantwortlich sind, uns dieser Herausforderung jeden Tag stellen. Wenn wir gut sind, haben Täterinnen und Täter viel weniger Chancen, geeignte Tatorte zu finden.
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen erwachsenen Menschen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden
Liebe Angelika,
ich danke Dir für deinen ausführlichen Kommentar.
Liebe Nina,
Dir danke ich für das Lob!