Schauspielhaus Dortmund Party from eisenmann on Vimeo.
Vom 6. – 9. Juni 2013 veranstaltet das Schauspiel Dortmund ein Sommerfestival mit Theater, Partys, Konzerten und Diskussionen. Der Titel: „Cyberleiber – Letzte Dramen zwischen Mensch und Maschine“. Für Ruhrbarone skizziert Dramaturg Alexander Kerlin die Fragestellung des Festivals und gewährt einen Einblick in das umfangreiche Programm.
Ein neues Zeitalter dämmert herauf: Die Menschen verschmelzen weiter mit ihrer digitalen Umgebung. Computer-Brillen blenden Informationen aus dem Netz in unser Gesichtsfeld ein, und mit Hilfe von in der Brille verarbeiteten Kameras sammeln wir selbst wiederum Daten, die wir „on time“ im Netz teilen. Mini-Roboter von der Größe eines Stecknadelkopfes bewegen sich durch unsere Körper und sammeln Daten über unseren Gesundheitszustand. Und Bio-3D-Drucker drucken unsere Organe nach. Es gibt keinen Lebensbereich, der sich nicht radikal ändert: Die Art, wie wir wissen und arbeiten, wie wir lernen, wahrnehmen, kommunizieren, lieben, wie wir Kunst machen, wie wir uns orientieren und optimieren. Der Weg von der Brille zum implantierten Internet-Gehirn-Chip scheint nicht weit.
Der selbe Konzern, der gerade die Computer-Brillen auf den Markt bringt, hat in den letzten Jahren den weltweiten Bestand an Büchern gescannt und angeblich Geld an die französische Telekom für die Privilegierung des eigenen Datenverkehrs gezahlt. Der Anfang vom Ende der Netzneutralität? Wer versorgt uns in Zukunft mit welchem Wissen? Wer herrscht über die Daten? Sitzt die neue Weltregierung im „Silicon Valley“ und greift über die Brillen quasi direkt auf unsere Körper zu? Was kommt wirklich: Die neue digitale Demokratie oder Kontrolle durch Konzerne? Eine sehr alte Frage wird wieder wichtig: Wie nutzen wir den technischen Fortschritt zur wirklichen Verbesserung unserer Lage? Und nicht nur dazu, die Macht von Menschen über Menschen zu vergrößern, wie es Dietmar Dath einmal formuliert hat? Und was kann das Schauspielhaus Dortmund zu diesen Fragen beitragen? Zumindest soviel: 4 Sommertage Theater, Diskurs und Party …
Das Cyberleiber Festival zeichnet Entwicklungen vom Ende der Industrialisierung bis heute nach und fragt sich, wie wir leben werden und wie wir leben wollen. 4 Tage volles Programm: Der Theaterabend Metalloid – Extra hart arbeitendes Material ist ein Abgesang auf die alte Industriegesellschaft, ihre Relikte und ihre Romantik. Er erinnert sich an den „Industrial“ – eine der letzten Kunstformen vor der Dienstleistungs- und Digitalgesellschaft und greift u.a. auf Gedichte aus der Romantik zurück (6. Juni, 20.30 Uhr im Studio). Die Romantik formulierte selbst schon ihre eigenen Vorstellungen zum künstlichen Menschen, den damals so getauften „Automaten“: zu hören und zu sehen in der szenischen Lesung Der Sandmann nach E.T.A. Hoffmann (6. Juni, 22 Uhr im Löwengang). Programmierte Wesen, die sich für Menschen mit freiem Willen halten und Simulationen, die ökonomisch verwertbare Daten über die Zukunft produzieren sollen: Das sind die Themen in Rainer Werner Fassbinders visionärem Fernsehspektakel Welt am Draht, als Deutschsprachige Erstaufführung erstmals auf einer Theaterbühne zu sehen (8. Juni, 19.30 Uhr). Gibt es eine Realität hinter der uns zugänglichen Realität? Was steuert uns? Wie frei sind wir wirklich?
Fragen dieser Art stellt auch der australische Animations-Kurzfilm Sleight of Hand von Michael Cusack, in dem eine animierte Figur sich selbst in einem Akt der Schöpfung abermals verdoppelt. Der preisgekrönte Film wird zur Festivaleröffnung im Schauspielhaus gezeigt (6. Juni, 19.00 Uhr). Existentielle Fragen über dem Sinn des Lebens berühren sich auch in Wolfram Lotz’ fantastischem Stück Einige Nachrichten an das All mit Fragen nach Wahrnehmung, Darstellung und Politik in der Medienlandschaft der Gegenwart (8. Juni, 18.30 Uhr, Schauspielhaus). Wer verfügt über unsere Geschichten?
Die Geschichte der Digitalisierung und des gegenwärtigen Epochenwechsels muss erst noch geschrieben werden. Die möglichen Perspektiven sind zahlreich. Eine nimmt das Theaterstück Die Agonie und Ekstase des Steve Jobs von Mike Daisey ein, die aus der Geschichte des berühmten Apple-Gründers und seines Konzerns die Schattenseiten des digitalen Fortschritts herausliest (9. Juni, 20.15 Uhr, Studio). Was ist das eigentlich für eine Bewegung, die aus dem „Silicon Valley“ seit Jahrzehnten mächtige Impulse in die Welt schickt? Welche Ideologien verbinden sich in den Fortschrittsdiskursen des „Cyber“? Darüber erzählt auch der Medienwissenschaftler Nils Menzler in seinem Vortrag mit Diskussion Kybernetik und Revolte, der im Hackerspace im Rangfoyer stattfinden wird (8. Juni, 2013) – ein eigens für das Festival eingerichteter Raum, den der Dortmunder Chaostreff für die Dauer von Cyberleiber zu seiner Zentrale macht.
Welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Kunstproduktion und -verwertung hat, und wie sich unsere Sicht auf Fragen nach Urheber- und Verwertungsrechten verändern muss, davon erzählen die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann in ihrem Vortrag Die digitale Gesellschaft – Ein
Ausblick (7. Juni, 17.30 Uhr, Hackerspace) und das prominent besetzte Podium Überholt? Theater und Film im digitalen Zeitalter mit Claudia Bauer, Lars Henrik Gass, Daniel Hengst und Kay Voges (9. Juni, 15.30 Uhr, Hackerspace). Muss sich das Theater und das Kino neu entwerfen und neue Arbeits- und Darstellungsformen entwickeln, um in der digitalisierten Gesellschaft weiterhin Relevanz behaupten zu können?
Oder kann das Theater selbst sogar als technische Optimierung des menschlichen Körpers gedacht werden, wie es einst Marshall McLuhan über die Technik überhaupt ausgesagt hat? Zu dieser Frage trägt der Medien- und Theaterkünstler Daniel Hengst mit einem Seminar und einer Performance bei: Appendix A: Das Theater als Bio-Adapter (9. Juni, 17 Uhr, Hackerspace) – und natürlich mit seinem Stück Der Live – Krieg und Frieden im globalen Dorf (7. Juni, 22 Uhr, Studio).
Der Dortmunder Sprechchor fragt sich in seiner Kollektivsimulation Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete, was eigentlich eine Simulation ist – und welche Geschichte sie erzählen kann (8. Juni, 17 Uhr, Studio). In dem Dogma 20_13 Manifest zur Inszenierung Das Fest (7. Juni, 19.30 Uhr, Schauspielhaus) nach Mogens Rukov und Thomas Vinterberg wird das Verhältnis von Film und Theater im digitalen Zeitalter befragt. Und das Stück Simulation Ende untersucht die Schnittstelle von Altern und Internet (7. Juni, 20 Uhr, Institut). Darüber hinaus gibt es ein Rahmenprogramm mit Partys und Konzerten, u.a. mit All The Time, Science Fiction Children, Globa Libre, Parasitäre Kapazitäten und dem DJ-Kollektiv Physic Garden, das sich aus Schauspieler*innen aus dem Dortmunder Ensemble zusammensetzt.
Zu guter Letzt: Über die Dauer des Festivals verfassen Publikum, Künstler, Experten und alle Interessierten kollektiv „Das Cyberleiber Manifesto – Ein Forderungskatalog an die digitale Gesellschaft“. Über ein Etherpad (ein „Open Source“ Text-Dokument, das von jedem Computer der Welt zugänglich ist) kann sich jede*r an der Gedankensammlung beteiligen – während des Festivals vor Ort oder von irgendwo sonst im World Wide Web. Das Manifest wird zum Abschluss des Festivals der Öffentlichkeit bei einer Pressekonferenz präsentiert: Sonntag, 9. Juni um 17.00 Uhr, Hackerspace im Rangfoyer. Wir werden alles fordern: Her mit dem schönen Leben!
Mehr Informationen unter www.cyberleiber-festival.de