Herner Sozialdemokraten schreiben dem Kanzler und den SPD-Parteivorsitzenden einen offenen Brief

Herner SPD-Chef Hendrik Bollmann Foto: Privat


Sozialdemokraten aus Ortsvereinen des Herner Stadtteils Wanne haben einen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben. Sachlich im Ton sprechen sie viele Themen an, die auch andere SPD-Mitglieder beschäftigen. Und schließen Neuwahlen nicht aus.

Sie vertreten die SPD-Ortsvereine Baukau-West, Bickern, Unser Fritz und Wanne – Namen, die Bundeskanzler Olaf Scholz und viele in der SPD-Spitze in ihrem Leben noch nie gehört haben. Dennoch handelt es sich um Sozialdemokraten aus Herne, einer der letzten verbliebenen SPD-Hochburgen. Bei der Europawahl lag die Partei hier vor der CDU, wenn auch nur noch mit fünf Stimmen.

In dem Schreiben an den Bundeskanzler und die SPD-Spitze, über das zuerst die WAZ berichtete, geht es um die Streitkultur innerhalb der Ampel, Migration, Sicherheit und eine Politik für Menschen mit geringen und durchschnittlichen Einkommen – von denen es in Herne sehr viele gibt.“

Offener Brief an den Bundeskanzler Olaf Scholz, die Vorsitzenden der Bundes-SPD Saskia Esken und Lars Klingbeil, an den Bundesvorstand der SPD, an die SPD-Bundestagsfraktion.

Lieber Olaf, liebe Saskia, lieber Lars, liebe Genossinnen und Genossen,

die Genossinnen und Genossen der vier Ortsvereine aus dem Stadtbezirk Wanne in der Stadt Herne, Ortsverein Baukau-West, Bickern, Unser Fritz und Wanne, sind bestürzt über das Ergebnis der Europawahl.  

In Herne hat die SPD ganz knapp als einzige Stadt in Nordrhein-Westfalen die meisten Stimmen erreicht. Im Vergleich zu den sehr guten Ergebnissen bei der letzten Kommunalwahlen und auch dem guten Abschneiden bei der Bundestagswahl sind die Erfolge der AfD und vieler kleinerer Protestparteien erschreckend.

Wir haben in Herne trotz schlechten Voraussetzungen als Haushaltssicherungsgemeinde mit äußerst geringem finanziellen Spielraum, immer noch hoher Arbeitslosigkeit, unterdurchschnittlichem Einkommen und den Herausforderungen des Strukturwandels einiges erreichen können, in der Gesamtstadt Herne und auch im Stadtbezirk Wanne.

Aber seit längerer Zeit bekommen wir kaum Unterstützung durch die Politik der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung. Im Gegenteil – im jetzigen Wahlkampf wurde uns von den BürgerInnen ganz deutlich gesagt, dass für ihre Wahlentscheidung für die AfD, andere Protestparteien oder Wahlenthaltung die Politik der Ampelkoalition und besonders auch Deine Politik als Bundeskanzler und die Bundes-SPD der Grund sind.  

Lars Klingbeil und Saskia Esken haben in einem Brief erklärt, den Alltag der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt unserer Politik rücken. Die Menschen, die jeden Tag aufstehen, zur Arbeit gehen, sich um ihre Kinder oder Eltern kümmern und sich für das Gemeinwohl einsetzen, müssen zu jeder Zeit und an jedem Ort wissen, dass die SPD ihre Interessen vertritt.

Die Botschaft ist im Grundsatz richtig, aber wir sind sehr skeptisch, was die Umsetzung angeht, denn dieses Versprechen war schon wesentlicher Teil unseres Wahlprogramms und des Koalitionsvertrages. Es ist jedoch gegenüber unserem Koalitionspartner FDP nie durchgesetzt worden.

Auf zahlreichen Infoständen, Hausbesuchen und Veranstaltungen wurde uns vorgeworfen, dass die SPD im Bund die Interessen der BürgerInnen eben nicht vertritt, die falschen Themen setzt und sich insbesondere nicht um die Belange der ärmeren Bevölkerungsschichten kümmert. Gerade ehemalige Wähler der SPD werfen der Bundes-SPD Verrat vor.

Die Mitglieder der vier Wanner Ortsvereine sind der Meinung, dass die Politik der Ampelkoalition sich grundlegend ändern muss. Wenn das gegenüber FDP und Grüne nicht durchsetzbar ist, muss eine Minderheitsregierung gebildet werden oder Neuwahlen stattfinden. Besonders sind aus unserer Sicht folgende Änderungen absolut notwendig – Streitkultur und Kommunikation: Der offene Streit innerhalb der Koalition muss enden.

Die ewigen Streitereien werden inzwischen nicht nur als nervend, sondern als Verhalten von Kleinkindern im Sandkasten empfunden. Niemand traut der Bundesregierung noch vernünftige Lösungen zu. Hinzu kommt noch eine mangelnde und schlechte Kommunikation. Besserung wurde fast jede Woche versprochen, jedoch nie eingehalten.

 

– Migration /Integration: Im Stadtteil Wanne leben viele Menschen mit Migrationshintergrund. Der anhaltende Zuzug von Flüchtlingen, Asylsuchenden führt zu Ängsten bei zahlreichen BürgerInnen. Insbesondere Menschen mit geringerem Einkommen fühlen sich bedroht. Dies nutzen die rechten Populisten aus. Auch wenn wir in den letzten Jahren zahlreiche gesetzliche Verbesserungen auf den Weg gebracht haben, leidet unsere Politik daran, dass die SPD keinen „erkennbaren“ Leitfaden in der Migrationspolitik hat. Wir dürfen nicht auf jedes Einzelereignis mit neuen Änderungen reagieren und vor allem nicht den rechten und linken Populisten hinterherlaufen. Wir benötigen eine Migrationsagenda 2030, die wir den Menschen vor Ort erklären können. Weiterhin benötigen die Kommunen und die Behörden eine gute Personalausstattung, um ihre Aufgaben zügig durchführen zu können. Es kann nicht sein, dass bei der Ausländerbehörde Herne aufgrund des Personalmangels allein die Terminvergabe zwischen 6 Monaten und 2 Jahren liegt. Dies gilt auch für Maßnahmen der Integration, für Sprachkurse, Migrationsberatung und andere Maßnahmen. Hierfür wird zu wenig Geld zur Verfügung gestellt. Die SPD kämpft für eine Gesellschaft des Respektes. In Teilen der Bevölkerung glaubt man den Rechtsradikalen, dass Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund der Respekt gegenüber unseren Gesetzen und Werten fehlen. Das ist übertrieben, aber wir müssen klarstellen, dass wir die Einhaltung des Grundgesetzes, der Gesetze und Verordnungen, unsere Werte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, Gewaltfreiheit auch von Einwanderern und MitbürgerInnen mit Migrationshintergrund erwarten und dies auch durchgesetzt wird.

 

– Sicherheit und Ordnung: Dieses Thema ist vielen Menschen in Wanne sehr wichtig. Wir dürfen dieses Themenfeld nicht den Rechten überlassen. Die Wanner BürgerInnen erwarten, dass wir die Sicherheit in der Öffentlichkeit, auf Straßen, Plätzen und im ÖPNV durchsetzen.

 

– Politik für Menschen mit geringen und durchschnittlichen Einkommen: Wir müssen wieder mehr Politik für Menschen mit geringen und durchschnittlichen Einkommen machen. ArbeitnehmerInnen mit geringerem Einkommen und RentnerInnen fühlen sich abgehängt, die hohe Inflation steigende Mieten, fressen die Lohn und Rentensteigerungen auf. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Millionäre zu, hohe Einkommen erhalten überproportionale Lohnsteigerungen und Inflationsausgleich. Viele Wanner BürgerInnen haben Angst vor einem sozialen Abstieg, Altersarmut und dass ihre Kinder schlechter leben. Die meisten dieser Menschen stammen aus unserer ehemaligen Wählerklientel, sie fühlen sich aber von der SPD nicht mehr vertreten. Sichere Renten, höhere Löhne, sichere Arbeitsplätze werden von uns zwar versprochen, kommen aber in Wanne nicht an. Verweise auf einen höheren Mindestlohn, Mindestrente helfen nicht, die Menschen wollen oberhalb dieses Einkommens leben.

 

 – Infrastruktur/Schulen/Finanzausstattung: Marode Schulen, zu große Klassen, unzureichende Digitalisierung, zu wenig Kitas, kaputte Straßen, Schrottimmobilien – wir könnten die Liste der Probleme verlängern, trotz Ansiedlungserfolge in Herne fühlen sich die Wanner abgehängt. Notwendige Sanierungen, Neubauten müssen verschoben oder können erst gar nicht begonnen werden. Insbesondere in den Schulen ist die Situation prekär. Und ohne gute Kitas und Schulen können wir unser sozialdemokratisches Versprechen des Aufstiegs durch Bildung eben so wenig wie eine gelungene Integration erreichen. Zusätzlich bekommen wir weitere Aufgaben wie Offener Ganztag, Flüchtlingsaufnahme, Anpassung an den Klimawandel, ohne das eine ausreichende Finanzierung sichergestellt ist. Der Frust ist inzwischen so hoch, dass viele BürgerInnen gar nicht mehr mit uns sprechen. Wir benötigen dringend eine auskömmliche Finanzierung der Kommunen, eine Altschuldenregelung, um unsere Schulen und Infrastruktur zu sanieren. Lieber Olaf, wenn dies in der Ampelkoalition nicht umgesetzt werden kann, dann muss es Neuwahlen geben. Gerne kannst du dir vor Ort unsere Probleme, die zu den hohen AfD-Ergebnissen führen, anschauen.

 

Du bist herzlich eingeladen.

Mit solidarischen Grüßen die Ortsvereinsvorsitzenden Frank-Uwe Klemczak, Andreas Hentschel-Leroy, Markus Hille, Winfried Marx

Die Herner Sozialdemokraten sind weder Krawallmacher noch Hafermilchtrinker. Sie sind typisch für die eher konservative Ruhrgebiets-SPD, die dort, wo sie noch erfolgreich ist, aus den berühmten Kümmerern besteht – Menschen, die in engem Kontakt mit den Bürgern stehen. Doch auch hier wählen immer weniger Menschen die SPD. Die Sozialdemokraten sorgen sich um ihre Stadt, das Land und ihre Partei.

Hendrik Bollmann ist der Vorsitzende der Herner SPD. Im kommenden Jahr möchte er als Herner Direktkandidat in den Bundestag einziehen. Im September entscheidet seine Partei darüber. Obwohl er eine Gegenkandidatin hat, sind seine Aussichten im Wahlkreis für die SPD anzutreten gut. Sein Vater, Gerd Bollmann, holte hier vor gut 20 Jahren noch über 60 Prozent der Stimmen. Bei der Europawahl reichte es nur noch für 23,7 Prozent – die CDU lag gerade einmal fünf Stimmen hinter den Sozialdemokraten. Herne war damit die einzige Stadt in ganz Nordrhein-Westfalen, in der die SPD noch stärkste Partei war. „Würden wir bei einer Kommunalwahl das Ergebnis der Europawahl erzielen, hätten wir drei von vier Bezirken verloren. Zwölf von 27 Kandidaten wären nicht direkt in den Rat gewählt worden, und wir hätten einen Wahlkreis sogar deutlich an die AfD verloren“, sagt Hendrik Bollmann im Gespräch mit den Ruhrbaronen.

Bollmann hat den Brief nicht unterzeichnet und würde ihn anders formulieren. Dennoch versteht er seine Genossen: „Der Punkt wurde richtig gesetzt, und es ist an der Zeit, dass nach oben durchgereicht wird.“

Vieles, was in dem Brief angesprochen wird, hat nicht nur etwas mit der Bundespolitik zu tun. „Aber eine Stadt wie Herne, die in der Haushaltssicherung steckt, leidet sehr darunter, dass sich Bund und Land bei der Frage der Kommunalfinanzen bislang nicht einigen können.“ Es fehlt zum Beispiel an Geld, um Schulen zu renovieren, und die Infrastruktur leidet. „Die Eltern gehen zu Recht auf die Barrikaden.“ Für viele Menschen in Herne bedeutet das, dass der Staat nicht funktioniert. „Und wenn der Staat nicht funktioniert“, sagt Bollmann, „besteht die Gefahr, dass einige Bürger mehr Parteien wie die AfD wählen.“

Wenn seine Genossen die Migrationspolitik kritisieren, sei das kein Zeichen von Ausländerfeindlichkeit. Dennoch ist Armutsmigration in Herne ein Problem. „Sie wollen wissen, wie der Bund sich die Migrationspolitik vorstellt.“

Auch die Kommunikation innerhalb der Ampel-Koalition sieht Hendrik Bollmann als Problem: „Die Streitkultur innerhalb der Koalition kann man keinem Menschen mehr vermitteln.“

Es ist möglich, dass Scholz, Esken und Klingbeil den Brief beiseitelegen. Vielleicht werden sie ihn auch nie lesen. Doch klug wäre es, nach Herne zu kommen und mit ihren Genossen zu reden. Denn diese erinnern sich noch gut daran, wie es war, als die SPD erfolgreich war, und welche Politik man machen musste, um die Menschen zu überzeugen, Sozialdemokraten zu wählen.

Mehr zu dem Thema:

Erfolgreiche Sozialdemokraten: Die Roten aus Röhlinghausen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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