Hier ist – ein literarischer Gruß

Ein literarischer Gruß an A. (sowieso), Lichte, Junge ,
an Apollinaire (vor allem), an Perec & @ all –
mit Dank an Andreas‘ Musiktipp hier (7.8.11):
http://www.ruhrbarone.de/guas-de-maro-wasser-des-maerz/

Hier ist

Hier ist ach was hier ist kein hier ist hier ist nicht einmal ein
     weißes Blatt oder jemand der es beschrieben hat
Hier ist auch kein Tanka Jorge Luis Borges’ darin die
     Zeile Etwas, ich weiß es, fehlt dir
Hier ist weniger als nötig zum Beispiel das ununterbrochene
     Stimmengewirr der Besserwisser
Hier ist nichts als dieser gerade mit Hilfe des Thesaurus
     frei erfundene Dachfirst im Dämmerzustand
Hier ist nur die Abwesenheit des Geruchs Deines Haares Deines
     Nackens dieses Aromas aus Parfum (Spellbound!) und Poren
Hier ist o Frauenlob o hohes verheiratetes Weib dieses
     ziemlich schiefe Bild von Deinem grazilen Gazellen-
     Oberkörper mit Birnenarsch
Hier bist Du das Haar hinter das rechte Ohr geschoben
     den Kopf zu mir gedreht den Kopf schüttelnd
Hier ist die Himmelfahrt Christi (sponsored by Benetton) in
     einem rotgelben Heißluftballon der dann plötzlich zu
     brennen beginnt
Hier ist Dein angetrunkenes Lachen nach zwei Gläsern
     Macon-Chaintré Vin de Bourgogne
Hier sind Deine Katzenaugen wenn Du maunzt Miau
     Miau nachts sind alle Katzen Frau
Hier ist die Angst keinen Markennamen zu führen
Hier ist ein Schiff das hat mein Liebstes davongetragen
Hier sind Deine schönen weißen Beine geädert
Hier ist die Suche nach der verlorenen Zeit
Hier ist die Sucht nach verlorener Zeit
Hier ist Sinn und hier ist Zen
Hier bist Du über mir da bist Du mir über
Hier ist Dein je länger je lieber bei dem mir die Sinne
     schwinden
Hier sind – na also es geht doch – alle Tassen im Schrank
Hier bist Du über ein Buch gebeugt lesend
Hier ist die gar nicht zufällige Begegnung lauwarmer
     Flaschen König-Pils mit Slipeinlagen in einem
     Beichtstuhl
Hier ist der häßliche Deutsche in seinem vollgepissten
     Jogginganzug dessen Tage nicht gezählt sind
Hier ist die hässlich gemachte Deutsche die die Tage bis zu ihren
     Tagen zählt
Hier bin ich der vom Zählen erzählt
Hier ist der Krieg nebenan in dem Söldner eifrig die
     Geschütze bedienen („Solange du schießt, lebst du!“)
Hier ist der Schrecken in Deinem Porzellan-Teint-Gesicht
     wenn Du zwischen diesen Zeilen bemerkst wie fremd
     ich Dir bin
Hier ist ein großes Papa j’ai envie de vomir
Hier ist Dein Hass darauf dass Du liebst
Hier ist ein Erkenne dich selbst an deinem Erbrochenen
Hier ist eine Trauer die will erst noch geboren werden
Hier ist eine Trommel die wirbelt den Staub auf
Hier ist eine dralle Grazie die herzt froh
Hier ist die Drohung wiedergeboren zu werden
Hier ist ein aufbrechen können aber nicht müssen
Hier ist Dein müdes rechtes Auge erledigt fertig kaputt
Hier ist Dein Dickschädel der hat sich mich in den Kopf
     gesetzt
Hier sind Deine Augen mal blau mal grün mal grau
Hier ist Deine Migräne hier ein paar Heuschnupfen-
     Taschentücher
Hier sind Deine Allergien zum Beispiel gegen Birkenpollen
     Hausstaub und Verlogenheit
Hier ist Dein warmes Herz
Hier Deine Pfirsichblüten-Haut
Hier sind Deine kleinen sanft geschwungenen Brüste
Hier ist das Lamm das Kreide frisst weil es auch einmal
     Wolf sein will
Hier ist die alte Meldung dass der Sowjet-Affe im Weltraum sich
     wieder beruhigt hat
Hier ist das grundsätzlich gleiche Zahnmuster von Mensch
     und Schimpanse
Hier ist der Leuchtfisch den der Mond liebt und da der
     Silbenfisch der schwimmt stumm durch die Luft
Hier sind Deine Chinesinnen-Füße von viel zu schmalen
     Schuhen in Form gepreßt
Hier sind die x-beinige Yvonne und die Zangengeburt Zukunft
Hier ist der im Akkord Zwangsneurosen montierende
     Psychologiestudent (Dürfen’s auch hundert Gramm Ich-Ideal
     mehr sein?)
Hier sind nachts um halb drei die leisen Töne einer jungen
     Frau über vierzig
Hier bist Du wenn ich in Dir bin
Hier ist zum Sendeschluss das Deutschlandlied
Hier das kleine Mädchen das stundenlang Kleider anprobiert
Hier ist nichts zu erkennen so nah bin ich Dir
Hier ist mein Haus das blaue dort mit den grünen Türen
Hier ist die auf dem Sand knirschende Gummiente im
     eingezäunten Freibad
Hier ist das Ende der Vergesslichkeit
Hier sind die Berge frisch gemähten Grases
Hier ist das Märchen das von den Großeltern beim
     Weitererzählen einfach vergessen wurde
Hier ist die leise Erregung wie ein Rascheln im Laub
Hier ist Dein Tee der auf dem Rechaud langsam verdampft
Hier ist das Futur II von hier ist: Hier wird gewesen sein
Hier ist der Sandmann der uns um den Schlaf bringt
Hier sind A.’s türkise Gesänge in alle
     Himmelsrichtungen
Hier sind die Härchen die Häkchen auf Deinem Rücken
Hier ist Deine offene Scham die ich schamlos küsse 
    (der Ursprung der Welt sagt Courbet)
Hier ist meine Wut auf Dich
Hier ist Apollinaires Brief nach dem ich mich sehne ein Brief den
     ich nie schreiben werde
Hier ist Dein Stolz von Deinem Mann zu sprechen
Hier sind Deine Zweifel ob Dein Mann Dein Mann ist ob
     Dein Mann ein Mann ist ein Mann ist ein Mann
Hier ist Deine wunderschöne aufrechte Haltung so als ob
     Du Ballettunterricht genommen hättest
Hier ist Deine Manier „wunderschön“ und „ich liebe…“ zu
     sagen
Hier ist Deine Köchinnen-Artistik Dein Formbewusstsein
     Meisterin in den Künsten des Knoblauchpressens
     Fleischeinsenfens und der Zubereitung bissfester Nudeln
Hier sind Deine Gier und Deine Angst zu streiten Dir Dein
     Recht herauszunehmen Zeitalter zu bauen und zu
     ertragen das Brot vom Tisch zu fangen
Hier sind die Rituale von Gong Geschrei und Gewalt von
     Kleiderordnung Klamauk und Korrektur
Hier sind die toten Kinder unterm Kreidestaub
Hier ist Dein Untergang hier Dein Auferstehen
Hier ist die Software Mensch diese Antiquität von
     Morgen
Hier (bitte!) sind all die Männer die Du nicht haben
     konntest (auf dem Papier)
Hier sind die Kerle denen Du die Köpfe verdrehst
    hier aber auch die Rechnungen ihrer Chiropraktiker
Hier ist Dein Wunsch eine Hardcore-Emanze zu sein
Hier ist Dein Schlaf in meinen Armen
Hier bist Du als Bauchtänzerin als Dramaturgin als
     Försterin als Hausbesetzerin als Hausbesitzerin als
     Kräuterhexe als Mutter einer Tochter als Punk als Rote Anne
Hier ist mein Versuch die Farben zu entziffern (Dank an
     V.v.G.)
Hier bist Du als Alte Beherzte Beseelte Böse Chimäre
     Duftende Errötende Feingliedrige Freie Gefangene
     Gespreizte Haltlose Irre Junge Königin Liebende
     Machthungrige Nonne Ohnmächtige Pädagogin
     Querulantin Resolute Schönhüftige Schwache
     Schweigende Starke Trockene Unersättliche
     Verschlossene Vollmundige Virtuosin Wache Xanthippe
     Yin Yang Zerbrechliche Zärtliche Zauberin
Hier ist die Welt in mir
Hier bin ich in der Welt
Hier bist du
und hier die Muslime die erstaunt unsere abendländischen
    
Gefühle betrachten
Sie denken schwermütig an alle die sie vielleicht nicht
     wiedersehen werden
Denn in
unserem Frieden hat man die Kunst des Wegsehens
     sehr weit entwickelt

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Mir
Mir
13 Jahre zuvor

Absurd. Surreal. Bravissimo.

Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

na, da hast du aber „einiges“ unter einen Hut gebracht … ein paar Nummern grösser, als dieser hier:

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