Mein Opa Paul, der im Jahre 1921 geboren wurde, war ein recht schlichter Mensch. Er war, wie für viele Menschen seiner Generation typisch, im Vergleich zu Menschen der Gegenwart, ziemlich ungebildet. Trotzdem hat er sich im Laufe seines 94-jährigen Lebens eine Menge Durchblick verschafft.
Opa hat viel erlebt. Er kämpfte als Soldat im zweiten Weltkrieg, erlebte den Wirtschaftsaufschwung der 1950er- und 1960er-Jahre im plötzlich geteilten Deutschland, zitterte in der Kuba-Krise, durchlebte den Kalten Krieg als Zeitzeuge, durfte sich über die Wiedervereinigung freuen. Ich habe vielen seiner Geschichten und Erkenntnisse aus seinen gut 90 Jahren Lebenszeit bis zu seinem Tode im Jahre 2015 immer gerne zugehört. Seine gesammelten Erfahrungen haben mich als Enkel sehr geprägt, wenn ich natürlich auch nicht alle seine Meinungen teilen konnte.
In einem hatte Opa Paul aber Unrecht: Er sah schon Ende der 1980er-Jahre den stetig steigenden Wohlstand in diesem Lande am Scheitelpunkt angekommen. Er prognostizierte uns allen damals schon einen steilen Absturz, da er in vielen Bereichen der Gesellschaft Krisen und Probleme auf uns alle zukommen sah.
Und dieser prognostizierte Absturz, er kam bis heute nicht. Klar, die gesellschaftliche Schere zwischen Arm und Reich ging auseinander. Die Zeiten sind insgesamt wesentlich komplizierter geworden. Wirklich abgestürzt sind ‚wir‘ bisher aber nicht. Und das, obwohl Opa diesen steilen Niedergang schon vor über 30 Jahren unmittelbar vor der Tür stehen sah.
Warum ich das heute hier ‚erzähle‘? Weil ich in diesen Tagen vermehrt an meinen Opa denken muss und mich frage, ob dieser Zeitpunkt vielleicht jetzt gekommen ist.
In Anbetracht von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg, verbunden mit aufkommenden Unsicherheiten und Ängsten quer durch die Bevölkerung, könnte man ja tatsächlich die Meinung vertreten, dass es nun gesamtgesellschaftlich bald rapide abwärts gehen könnte bei uns. Und viele Zeitgenossen tun das ja auch. Auch hier im Blog habe ich zuletzt viel Skepsis wahrgenommen.
Zunehmende Staatsverschuldung, finanzielle Probleme bei immer mehr Bürgern, drohender Gas- und Strommangel, einer gefühlten zunehmenden gesellschaftlichen Kälte usw.. All das lässt einen ja in der Tat auch sorgenvoll in die kommenden Monate und Jahre blicken.
Viele Leute mit denen man im Alltag spricht, lassen diese Sorgen inzwischen sehr deutlich erkennen. Das habe ich in dieser Ausprägung schon seit vielen Jahren nicht mehr erlebt. Und dennoch konnte ich persönlich mir einen relativen Grundoptimismus bisher zum Glück noch erhalten. Das hat auch damit zu tun, dass mein Opa mit seiner Skepsis damals daneben lag.
Auch er glaubte einst viele gute Gründe dafür zu haben, warum er mit einem nahenden großen Absturz unseres Wohlstandes und der Gesellschaft insgesamt glaubte. Ich erinnere noch an die Diskussionen, die wir damals innerhalb der Familie darüber führten. Es war schier unmöglich meinem Großvater diese Grundskepsis auszutreiben. Er war einst ebenso fest davon überzeugt, dass seine Skepsis berechtigt war, wie es viele Zeitgenossen heute sind.
Seine Prognosen bewahrheiteten sich dann jedoch nur zu einem vergleichsweise geringen Teil. Auch wenn es heute Probleme in vielen Bereichen der Gesellschaft gibt, hat sich der Wohlstand in diesem Lande seit den 1980er-Jahren doch nicht so dramatisch reduziert, wie mein Opa glaubte. Im Gegenteil! Vielen Menschen, auch hier im Ruhrgebiet, geht es im Vergleich zum Leben in den 1980er-Jahren heute noch einmal deutlich besser.
Die Erwartungen an den Alltag und das Leben insgesamt, sind bei vielen jungen Menschen dann auch deutlich größer, als das vor gut 30 Jahren der Fall war. Als Stichworte seien hier nur Urlaub und Kommunikation genannt. Was alleine diesbezüglich heute für fast alle Standard ist, davon hätten ‚wir‘ als Jugendliche nicht einmal zu träumen gewagt.
Auch wenn es die Menschen insgesamt vielleicht nicht glücklicher gemacht hat (aber das ist ein anderes Thema), ist der Lebensstandard vieler heute deutlich höher als vor wenigen Jahrzehnten. Mein Opa hatte diesbezüglich also Unrecht. Der Absturz, den er unmittelbar vor der Tür stehen sah, er blieb aus. Und daher behalte ich mir auch in der aktuellen Situation mal meinen Optimismus, dass das auch weiterhin der Fall sein möge…. Es wäre schön, wenn das so käme. In unser aller Sinne!