Internetfundstück – Im Internet soll es alles zu kaufen geben. Und all das, was man nicht im sichtbaren Teil des Internet erhält, soll man im sog. „Darknet“ bekommen. Drogen, Waffen, Kinderpornos, illegal gehandelte Kunst. Das ist hier anders. Es geht hier auch nicht um Neonazis, die aus antisemitischen Motiven versuchen den Holocaust zu relativieren oder seine Opfer zu verhöhnen. Es geht vielleicht irgendwie um Anstand und Moral. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es nur eine bizarre Randgeschichte der Gegenwart, vielleicht Ausdruck einer Geschichtsvergessenheit, wie ich sie nicht erwartet hätte. Vielleicht geht es um die Fragen nach Illegalität oder Illegitimität. Vielleicht ist diese Geschichte aber auch völlig irrelevant.
Ich weiss schlicht nicht, wie ich euch diese Geschichte erzählen soll. Denn ich weiss selbst nicht so genau, was ich von ihr halte. Im Detail. Sie wühlt mich irgendwie auf – und dann wiederum nicht so, dass ich es klar greifbar machen könnte. Es fing damit an, dass einer unserer Leser mich auf eine Ebay-Kleinanzeige aufmerksam machte mit dem Titel: „KZ Koffer 1930er 1940er Jahre Juden Koffer WW2 WK2“ Ich klickte auf den Link, sah Fotos, einen gewünschten Preis (850€) und folgenden Anzeigentext:
Biete hier meinen alten KZ Koffer zum Verkauf an.
Ich habe ihn Mitte der Neunziger in Berlin auf dem Sperrmüll gefunden.
Der Stern etc sind mal etwas Dilettantisch von jemanden versucht worden wieder schwarz zu machen, ich selbst habe damals vorsichtig etwas schwarz wegbekommen aber nicht viel und wollte auch nicht weiter dran rumscheuern…
Die Authentizität das es ein jüdischer Koffer ist, ergibt sich denke ich von selbst.Der Preis ist fest und zzgl 10,- Versand
Ich musste das alles zunächst einmal sacken lassen, und klickte auf die eingebundenen Fotos.
Und jetzt? Ich wußte es nicht.
Meine Gedanken überschlugen sich. „Mein alter KZ Koffer zum Verkauf“. MEIN? Wohl kaum. Wenn überhaupt der Koffer echt ist. Und wenn er echt ist, wie landete er auf dem Sperrmüll in Berlin? Und Sperrmüll darf man nicht einfach mitnehmen. Und man darf KZ-Koffer – wenn es diesen Begriff überhaupt gibt – doch nicht einfach so verkaufen. Für 850 €. Oder? Aus dem Holocaust Gewinn schlagen. ist das legal? Aber sicher doch nicht legitim. Und was soll ein „jüdischer Koffer“ sein? Beschnitten nach den Regeln Mose? Es gibt keine jüdischen Koffer. Wie soll ein Koffer eine Religion haben. Ist es nicht bescheuert, sich darüber überhaupt Gedanken zu machen? Und wieso ergibt sich die „Authentizität“ von „selbst“? Ist das nicht noch perverser als mit der Kunst zu handeln, die man Juden geraubt hatte? Gibt es etwas Morbideres? Ist es nicht nur ein Koffer? Ein lebloser Gegenstand? Ist der überhaupt echt? Was müssen seine Besitzer gedacht, gehofft, gefürchtet haben, als sie ihn bepackten? Was war in ihm drin? Wie kann man das – verdammt noch mal – bei ebay-Kleinanzeigen anbieten? Für 850 €. Mir wird übel.
Wer verkauft sowas? Ein Nazi? Ein Profiteur? Ein gedankenloser Mensch? Ein gutgelaunter Hipster, der nichts daran finden kann, dass die Vergangenheit nun auch endlich einmal vorbei sein muss? Ich schaute auf seine anderen Verkäufe, es brachte mich nicht weiter.
Ein einfacher Trödler. Irgendwie. Irgendwie wollte ich mehr wissen. Ich schrieb ihn an, fragte nach. Er antwortete nach nur wenigen Minuten:
Ich würde mich freuen, wenn dieses Stück Zeitgeschichte in einer angemessenen Sammlung einen ehrenvolleren Platz bekommt als bei mir…
Ich muss zur Herkunft sagen, das ich stark davon ausgehe, das dieser ursprünglich einem Jüdischen Geschäftsmann ( evtl ) gehört haben könnte aufgrund der vielen bereisten Länder, die für damalige Zeiten schon nicht einfach zu erreichen waren.
Ebenso durch die Aufschrift, die optisch stark an Koffer aus den KZ Anlagen stammen erinnert.
100% kann ich es natürlich nicht garantieren, da ich diesen, wie in der Beschreibung erwähnt, in den 90ern in Berlin auf dem Sperrmüll fand…Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.
Einem Bericht darüber möchte ich nicht zustimmen, da ich keinen großen Wirbel um einen Koffer machen möchte.
Soll seine Geschichte oder die des ehem. Besitzers ein ruhiges Zeugnis bleiben.Was der nächste Besitzer damit anfängt ist dann nicht mehr in meiner Hand.
Ein „ruhiges Zeugnis“? Ein Koffer aus einem KZ für 850€. Ich weiss immer noch nicht, was ich eigentlich dazu denke. Mein Kopf ist wie im Gewitter der Gedanken. Ich habe zumindest grob recherchiert. Die beiden Hotels in Tel Aviv und Jerusalem gab es bereits 1936, vor, naja, vor Auschwitz. Bevor vielleicht der Davidstern auf den Koffer gepinselt wurde, und seine Besitzer zusammen mit so vielen Anderen brutal ermordet wurden. Oder sind sie irgendwie entkommen. Ist deswegen der Koffer auf dem Sperrmüll – und nicht auf einem Stapel mit den anderen Koffern?
Ich wollte, dass der Koffer eine Fälschung ist. Dass es nicht möglich ist, ein Stück Holocaust für 850€ über eine triviale Kleinanzeige zu kaufen. Ich rief in Italien im Hotel „Excelsior“ an – leider sprach niemand Deutsch oder Englisch – suchte nach anderen Hotel. Sie alle waren entweder nicht findbar, oder alt genug. Der Koffer kann echt sein.
Ein Koffer ist ein Koffer ist ein Koffer.
Und diese Geschichte endet hier. Sie läßt mich ratlos zurück.
Der Koffer schein ein Fake zu sein. Freunde aus den USA, darunter Nachfahren von Holocaust-Opfern oder Mitarbeiter des Leo-Baeck-Institutes in New York glauben nicht an die Authentizität des Koffers. Insbesondere der groß auf den Koffer gepinselte Judenstern erweckt Zweifel. Vielleicht war es der Koffer eines Handlungsreisenden, der viel in der Welt herumkam? Oder ein alter Koffer, der für eine Theateraufführung mit dem Judenstern "authentisch" gemacht wurde?
Ich persönlich denke nicht, dass es sich dabei um ein Original handelt. Der Hotelaufkleber des King David-Hotels war in diesem Design nach Auskunft der Pressestelle der Dan-Hotels seit frühestens 1935 in Gebrauch. Darüber hinaus befindet sich auf dem Koffer auch ein Aufkleber des Hotel Beit Teltsch (erkennbar an den hebräischen Buchstaben L-T-SCH). Auf dem Aufkleber ist auch das von Leopold Krakauer entworfene Hotel-Gebäude zu sehen; dieses Gebäude wurde 1935 fertig gestellt. Allerdings ist hinter dem Hotel auch die hebräische Abkürzung für die Unternehmensform zu sehen (be'ayin mem; ausgesprochen Ba'am = GmbH) zu sehen. Diese Unternehmensform wurde erst 1938 durch die Vaad Leumi (Nationalkommittee) eingeführt. Zur Erläuterung: Bereits seit 1920 gab es im britischen Mandatsgebiet Palästina eine Art Parlament, "Asfat ha Nevcharim", das von den Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft im Mandatsgebiet ("Yishuv") gewählt wurde, und einmal im Jahr zusammen kam, um die Vaad Leumi, eine Art Regierung, zu wählen, die mit den Jahren ihre Zuständigkeiten ausweitete. Der Bereich Wirtschaft kam 1937 dazu.
Oder anders gesagt: Der Inhaber des Koffers kann zumindest eine der Reisen in diese Region frühestens sehr kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges unternommen haben. Von diesem Punkt an ist dann vieles Mutmaßung: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Jude in dieser Zeit in das Mandatsgebiet Palästina reist, sich den Koffer mit Aufklebern mit hebröischer Schrift bekleben lässt, und dann wieder zurück reist?
Dabei muss man die Lage für Juden in jenen Gebieten unter deutscher Kontrolle in jenen Jahren ebenso berücksichtigen, wie die die Situation für Juden im Mandatsgebiet: Ab 1936 wurde die Einreise von Juden durch die Briten streng reglementiert; ab 1938 gab es für nicht-militärisches Personal und für Nicht-Briten auch insgesamt nur begrenzte, und immer auch sehr teure Möglichkeiten, in die Region zu reisen. Es hat Fälle gegeben, in denen Juden auf der Flucht in Palästina abgefangen und nach Europa zurück gebracht wurden, wo sie dann im Konzentrationslager landeten. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass der Inhaber des Koffers in einer solchen Situation wenigstens versucht hätte, die entsprechenden Aufkleber zu entfernen.
Dagegen spricht allerdings, dass die entsprechenden Hotels, und allen voran das King David Hotel, in diesen Jahren überwiegend von Vertretern der britischen Mandatsmacht frequentiert wurden; ein jüdischer Flüchtling, der sich illegal im Lande aufhält, hätte dort schon deshalb kein Zimmer erhalten, weil in diesen Hotels die Visa geprüft wurden.
Auffällig ist aber auch der Aufkleber der Cunard White Star Line, die zwischen 1934 und 1949 existierte – und damit einen weiteren Hinweis liefert, dass der Koffer-Inhaber über für die Zeit ungewöhnliche Reisemöglichkeiten (und Finanzen) verfügte.