Raymond-Émile Waydelich (Jahrgang 1938) ist der jüngste Mann, den ich kenne. Wenn er nicht in der Nähe von Straßburg lebt und arbeitet, fährt er mit dem Motorrad gern durch Afrika. Als echter BaRocker liebt er die Frauen, die Küche (in der er selbst vorzüglich kocht) und den Wein. Ja, von dem Mann kann Mann was lernen.
Armeefotograf war er vor fünfzig Jahren auch schon, Dekorateur, Reisender, Archäologe aus Berufung. Studiert hat er an der École d’Arts Decoratifs in Straßburg und später in Paris.
Die gerettete Frau
Ich hatte zunächst gezögert, heute bei der Ausstellungseröffnung in der Kunsthandlung Kugel in Duisburg die Begrüßung zu machen, weil ich Raymond-Émile Waydelich und seine Arbeiten noch zu wenig kannte. Aber dann hat die unermüdliche Inhaberin Irmgard Kugel mir Waydelichs Buch zur „lydia jacob story“ in die Hand gedrückt und später neue Bilder Waydelichs gezeigt und, und ich musste über manches so lachen, dass ich spontan entflammt war für den Künstler.
Allein, dass er die Manuskripte der Schneidergesellin Lydia Jacob (geb. 1876 in Straßburg) auf einem Flohmarkt gerettet hatte und ihre Texte und Biografie immer wieder in seine Arbeiten montiert, macht ihn zu einem Helden und Lydia Jacob vorübergehend unsterblich.
Auf Youtube fand ich später ein Filmchen über einen Kurs, den Waydelich für die Baden-Badener Kinderkunstwerkstatt gemacht hat. In diesem Youtube-Schnipsel sieht man Waydelich mit Kindern malen und ihnen freundlich helfen, ihr Talent zu entwickeln. Einmal sagt er mit wunderbarem elsässischen Akzent, dass die Kinderbilder für einen guten Zweck verkauft werden, „Das bringt ein bissele Glück und das ist immer schön“. Angesichts eines der Kinderbilder aus seiner Werkstatt scherzt er: „Die Achterbahnen, die die Kinder gemalt haben, da habe ich gedacht, ob ich selbst je auf die Idee gekommen wäre, eine Achterbahn so einfach zu machen. Donc, das Bild kaufe ich. Und dann mache ich es ein bisschen nach.“
Alle Möglichkeiten der Farbe allen zugänglich zu machen
Da hatte ich also schon „ein bisschen“ von dem, was den Künstler Waydelich ausmacht:
– Humor, selbst angesichts der Achterbahn-Fahrten des Lebens;
– die Neugier, von Kindern zu lernen und sich selbst den unbefangenen Kinderblick zu bewahren – selbstverständlich ohne je kindisch zu werden;
– sein Mut zur Phantasie und die Beharrlichkeit, die künstlerischen Mittel zu verfeinern und zu variieren, um der Phantastik der Welt virtuos Ausdruck zu verleihen.
Damit ist Waydelich ganz nahe auch bei dem, was Literaturförderer beim Kreativen Schreiben mit Kindern versuchen:
Der italienische Kinderbuchautor Gianni Rodari schrieb dazu in seiner „Grammatik der Phantasie. Die Kunst, Geschichten zu erfinden“: „’Alle Gebrauchsmöglichkeiten des Wortes allen zugänglich zu machen’ – das erscheint mir als ein gutes Motto mit gutem demokratischen Klang. Nicht, damit alle Künstler werden, sondern damit niemand Sklave sei.“
Schön nicht? Man stelle sich bloß mal eine Welt vor, in der wir mehr Phantasten wie Waydelich und Rodari hätten, mehr Phantasten mit Pinsel und Feder statt all der Spekulanten von der Stange. Unvorstellbar!
Je me souviens
Waydelich lebt und arbeitet in der Nähe von Straßburg. Um 1990 hatte ich in Straßburg für anderthalb Jahre ein Zimmer bei einem Freund am Place de Bordeaux. Oft saß ich auch am Place de L’Université auf der Terrasse oder drinnen im Café Brant. Das Café benannt nach dem Humanisten Sebastian Brant, dem Autor des „Narrenschiff(s)“ von 1494.
Einmal höre ich, wie sich ein Liebespaar am Tisch hinter mir aus George Perecs Buch „Je me souviens“ vorliest und sich neckt. Und was hatte ich in der Tasche: Uli Beckers deutsche Fortschreibung des Perec-Textes mit dem Titel „Ich erinnere mich“.
Beide Texte sind so strukturiert, dass jeder einzelne Satz beginnen muss mit „Ich erinnere mich“, und der Autor damit unweigerlich tief eintaucht in die Welt von Kindheit und Jugend.
Durch die Methode des Wiederholens wird das Erinnern von Mal zu Mal détailgenauer, aber auch immer phantastischer. Erinnern als tastende Re-Konstruktion und schöpferische Konstruktion. So wird jene Phantasie freigesetzt, die nicht nur den eigenen Lebenslauf ins Ästhetische übersetzt, sondern die auch Wahrnehmung und Welten neu erfindet und sie als Kunst sowohl in die Wirklichkeit stellt, als auch gegen sie.
Raymond-Émile erinnert mich
An was erinnert mich Raymond-Émile Waydelich, was sehe und erfinde ich, wenn ich seine Werke anschaue, mich von ihm bewegen lasse, seine Phantasie auch die meine in Schwung bringt? Wenn ich mir wünsche, bitte einmal kurz in seinem Kopf wohnen zu dürfen, um zu schauen, was da noch so los ist? (Zwischenruf Waydelich bei der Begrüßung heute: Besser nicht, besser nicht!)
Ich sehe Perec, Duchamp und Waydelich als Ruderer am Rande einer – sagen wir mal – Konservendose in Waydelichs Prémiere boite realisée aus der Jahreswende ’73/’74.
Ich sehe Abgründe und schreckliche Monster, die vorübergehend freundlich bleiben.
Ich sehe viele scharf gezähnte Mäuler, zum Beispiel von Höllenhunden, die hoffentlich schon gefressen haben.
Ich sehe uns alle als Schrift, als lange Hieroglyphen-ähnliche Figuren, in einem Boot, das wider Erwarten nicht untergeht.
Ich sehe Waydelich aus der Zeit gefallen in unsere hinein, ein Hauch von temps libéré.
Ich sehe eines von Waydelichs Alter Egos als leibhaftige Frau in seiner „lydia jacob story“, wie sie unermüdlich eine vergessene Schneidergesellin wiederbelebt, bis diese wirklich zu atmen beginnt.
Ich sehe, dass der Mensch aus Afrika stammt, dies aber nicht wahrhaben will, selbst dann nicht, wenn er sich in den alten Masken und Fratzen sehr genau erkennt.
Ich sehe Waydelich, wie er die Welt übermalt, um es in ihr aushalten zu können, bis selbst Hirschkrokodile „O.k., Mama“ rufen oder „Hoppla“.
Ich sehe Aquarelle, Aquagravuren, Assemblagen, Collagen, Keramiken, Bronzen und auch objets trouvés, an denen ich selbst achtlos vorbeigegangen wäre.
Ich sehe traurige Messer mit Damaszenerklinge, die niemanden mehr töten werden, weil sie genug getötet haben.
Ich sehe, was Waydelich, der Archäologe, alles ausgegraben hat mit den Jahren, etwa Europa und den Stier, ich glaube sogar ein selbsterfundenes vollkommen authentisches Grab Christi.
Ich höre die Musik, die aus seinen Bildern klingt und wiederum selbst an Musiker erinnert, die Töne gemalt haben, blaue, rote, gelbe, wie er selbst, kein Ton zu gering.
Ich sehe Kunst, Köche, Kuchen und Teller, Platten, Flaschen, Fische, dazu auf einigen Bildern auch Schweine, die duschen oder mit Schrecken feststellen, dass die Welt eine Schinkenscheibe ist.
Ich sehe die Risse in seinen Memory Paintings, die mich an die Risse in uns erinnern, all die vielen Knackse und Angeknacksten, ich fühle mich schon ganz Craquelé.
Ich sehe Menschen, die Liebe machen wollen. Sehe sie alle auf den bemalten Eiern Waydelichs, seinen Œufs D’Autruche Gravés, seinen mächtig fragilen Straußeneiern.
Ich sehe die Mythen und Märchen, die Comics und Filme, die Raymond-Émile mir neu erzählt, so dassich noch einmal einschlafen kann, als wäre ich tatsächlich gut aufgehoben im Schlaf.
Das alles sehe ich – und dafür danke ich Raymond-Émile Waydelich, geboren in Straßburg-Neudorf, das von Duisburg-Neudorf so weit entfernt nicht liegt.
(Die Ausstellung in der Kunsthandlung Kugel kann kostenlos besucht werden noch bis zum 19. Mai 2012)