PEN Berlin will im Wort stehen. Daher laden Eva Menasse und Deniz Yücel als primae inter pares bei ganz flachen Hierarchien ein. In vornehmer Zurückhaltung der repräsentativen Altbauten zwischen Charlottenburg und Wilmersdorf genießt das Haus der Berliner Festspiele seinen Standort für das trendige Großbürgertum der Hauptstadt. Zum 24. Mal findet das Internationale Literaturfestival Berlin statt. Da kommt es inmitten gepflegter Grünflächen und dem historischen Charme der City West schon mal vor, dass neben Schauspielern und Galeristen auch der Sauerländer Franz Müntefering auf dem Morgenspaziergang zum Manzini höflich grüßt. Vom 5. bis 14. September gibt es unter der Schirmherrschaft des Berliner Kultursenators Joe Chialo ein großzügig gefördertes Programm von Buchpremieren, Lesungen und Paneldiskussionen. Dieses Jahr kooperiert PEN Berlin mit dem ilb’24 und veranstaltet gleich drei Panels. Ich habe mir zwei davon angeschaut. [Teil 2 verlinke ich in den nächsten Tagen hier, weil hey Per Leo, wir Ruhrbarone schreiben wirklich nur neben unserem Hauptberuf.]
What if we were wrong – Was hilft gegen die AfD?
In der Ankündigung zur Veranstaltung steht: „Wie sieht ehrliche Analyse aus, abseits von Parteipolitik und Wahlkampfmodus?“ In der Tat ist man das ewige Taktieren um die Brandmauer leid. Kann das Panel mit Katarina Barley, Petra Pau, Thomas de Maizière, Boris Palmer und Linda Teuteberg aber die Lösungsorientierung halten, die das Publikum nach den letzten Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen zurecht erwartet? Eine große Bühne verleitet zu großen Worten.
„Habt ihr schon den neuen Petra Kelly-Film gesehen? Mit mir ist dann immerhin eine Feministin drin.“ Im Publikum herrscht reges Interesse an den Themen der Zeit. Schon vor, während und nach der Veranstaltung wird fleißig ungefragt kommentiert. Noble Distinktion gehört hier frei nach Goffmann weder zur Vorder- noch zur Hinterbühne. Als die Festivalleiterin, Lavinia Frey, die Panelisten auf die Bühne bittet, folgt umgehend aus dem Zuschauersaal: „Keine Grüne dabei!“ Dabei ist doch extra ihr ehemaliges Enfant terrible aus Tübingen angereist, samt Entourage mit zwei Medienassis für Kamera und Mikrofonkatze. Boris Palmer liebt den Auftritt allen anderen voran. Im rosa Anzug – das können eigentlich nur Italiener tragen – bringt er das Internationale aufs Parkett und stiehlt Katharina Barley ein klein wenig die Show, die uns als MdEP nur allzu gern wissen lässt, dass sie den Politzirkus von Skandinavien bis Portugal blickt. Später erhält Boris Palmer als einziger Kommunaler in der Runde trotzdem den ersten Applaus.
Das Panel wird vom rheinländischen Urjewächs, Bettina Böttinger, moderiert. Sie eröffnet die Fragerunde mit dem politischen Erdbeben bei den Ostwahlen, um Ursache und Folge zugleich der AfD zu markieren. „Was hat sie überrascht, Herr de Maizière?“ „Ich war überrascht, dass so viele überrascht waren“, antwortet der ehemalige Bundesinnenminister. Nicht nur habe die AfD in beiden Ländern ein zweistelliges Wahlergebnis erzielt, auch wurden ihr zum ersten Mal Kompetenzwerte zugeschrieben, u.a. für Soziales, eröffnet de Maizière sein Statement.
Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und MdB der verkümmerten Linke, soll die Frage beantworten, was Demokratie ist bzw. ob Ost-Deutsche ein anderes Verständnis demokratischer Verhältnisse haben. Sie ringt langatmig nach einer diplomatischen Formulierung. Demokratie sei Einmischen und Mitgestalten, nicht nur wählen zu gehen, lautet ihr Erklärungsversuch. Seit 1990 waren Ost-Deutsche nun mal in existenziellen Notlagen und heute würden dieselben Fehler wie damals gemacht, indem man den Menschen sage, was sie wählen sollen, skizziert Pau. Sie zeigt sich erschrocken darüber, dass mehr als 50% aus Überzeugung die AfD wählen, und dies sei nicht nur ein Problem des Ostens.
Mit Verweis auf den Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der bei den Ergebnissen der letzten Landtagswahlen von einer Laborstudie im Gesamten spricht, weitet Böttinger den Titel der Veranstaltung mit Blick auf das Bündnis Sahra Wagenknecht zur anstehenden Bundestagswahl. Sei im Grunde, so die Moderatorin, ein Rechtsbruch in ganz Europa zu erwarten? Endlich kann Katharina Barley uns ihre internationale Expertise auf dem internationalen Festival beweisen. Dass sie als Spitzenkandidatin bei der Europawahl im Juni trotz Wahlflanke des Kanzlers einen deutlichen Stimmenverlust von 1,9 Prozent zu verantworten hat, und damit sogar unter das Ergebnis der AfD gerutscht ist, wird mit keiner Silbe erwähnt. Schon 2019 sackte die SPD mit Barley um mehr als elf Prozentpunkte ab. An diesem sommerlichen Sonntagmorgen in Berlin strotzt sie als eine der 14 Vizepräsidenten des Europaparlaments vor einer weltgewandten Attitüde. Die große Bühne verleitet halt auch zur großen Pathosformel, als käme man direkt aus einem Ernst Busch Seminar.
Barley kritisiert das bisherige Gespräch, da die Perspektive von ihren Kollegen nur „deutsch“ diskutiert werde. Kein Zweifel, eben wegen der Spezifika in Deutschland sei eine weltweite Analyse nötig. Und die Welt scheint Barley nicht genug. Als Global Player ist zu höheren demokratietheoretischen Metareflexionen in der Lage. So führt sie aus: Skandinavien ist eigentlich ein Land, in dem soziale Akzeptanz herrsche, wo aber bereits Rechte im Parlament säßen. Portugal habe auch ein Demokratieproblem im Umgang mit Flüchtlingen. Weiter reicht Barley ihre Kurzanalyse über Frankreich bis zu den Niederlanden durch. Von dort stammt auch ihr Ehemann, beschreibt sie ihre Sichtweise. Es sei kein Argument, mahnt die SPD-Politikerin, auf der Deutschen Bahn als Ursache für eine breite Unzufriedenheit herumzuhacken, weil trotz intaktem Bahnverkehr im kleinen Nachbarland Geert Wilders auch erfolgreich geworden sei. Ihre Quintessenz nach der dozierenden Kurzeinführung in integrationstheoretische Grundlagen zur EU lautet: Die AfD ist kein Problem der Politik, sondern der Gesellschaft. Wen wundern da noch die traurigen Wahlergebnisse der Genossen in Thüringen und Sachsen?
Außer Phrasen sonst nix los fasst Böttinger glücklicherweise mal nach, was denn nun der Kern des Problems sei. Barley setzt auf das Gefühl. Ihr Argument erschöpft sich im Hinweis auf eine diffuse Verunsicherung. Dann versucht sie mit Hyperindividualisierung durch die Sozialen Medien an des Pudels Kern zu gelangen. Kurz: Solidarität, oh Wunder bemerkt Barley selbst als Sozialdemokratin, sei die alte neue Beschwörung sozialdemokratischer DNA. Ein Glück, dass meine Ruhrbarone-Kollegen Sebastian Bartoschek und Stefan Laurin nicht im Saal sitzen. Denn fehlende Solidarität, würden sie Barley entgegenhalten, kann man allein schon des werten Soli-Beitrags wegen nicht beklagen. Aber das Mantra muss ja tönen!
Als es um Transformationsüberforderungen ganz allgemein geht, kommt Linda Teuteberg zu Wort, um für die Anwesenden zu erklären, wieso es insbesondere eine Verweigerungshaltung gegenüber „unserer“ Demokratie im Osten gebe? Die Bundestagsabgeordnete der FDP berichtet aus dem Jahr 2014, als sie noch Landtagsabgeordnete in Potsdam war. Der damalige Präsident des Landtags forderte weniger Streit. Teuteberg aber sieht es genau anders: Mehr Streit bringt ein Wettbewerbsverfahren in die Demokratie. Das Ringen um die besten Argumente steigere die Qualität demokratischer Entscheidungen. Doch genauso wenig wurde aus Teutebergs Perspektive im Westen der Streit als Funktionsmechanismus für eine lebendige Demokratie erkannt. Es ließe sich über vieles wie Infrastruktur, Renten, Lohnhöhe diskutieren, doch neben Materiellem sei das Kulturelle in der Gesellschaft wichtig. Wer für die hohen Akzeptanzwerte der AfD allein die Wahlen in Ostdeutschland als Ursache sehe, verkenne die mindestens genauso zweistelligen Ergebnisse in Hessen und Baden-Württemberg. Der Blick nach vorn bedeute auch, stellt die Brandenburgerin fest, ein Blick nach hinten, d.h. zehn Jahre wurde die AfD als ein ostdeutsches Problem einfach outgesourct. Dann sei eine binäre Kategorisierung von den Erleuchteten gegenüber den Leugnern ein recht schnelles, aber zu kurz gegriffenes Erklärungsmuster.
Je länger Teuteberg argumentiert und neue Aspekte zur Weitung der Perspektive beiträgt, umso genervter reagiert Barley. Und Teutebergs Ausführungen dazu, wie allzu leicht ihre Aussagen zu Corona-Demonstrationen anders als tatsächlich vorgenommen geframed wurden, werden dankend von Boris Palmer gespiegelt.
Der streitbare, aber wiederholt erfolgreich gewählte Bürgermeister von Tübingen, hatte während der Coronazeit keine Unruhen in seiner Stadt, weil er ein Modellprojekt mit hohen Zustimmungswerten in der Stadtbevölkerung durchführte. Ähnlich wie Teuteberg wurde er jedoch dafür abgekanzelt und als Sozialdarwinist gebrandmarkt. Gleiches passierte ihm auch bei Fragen zur Flüchtlingspolitik, als er unbequeme Wahrheiten ansprach, dass 10.000 Flüchtlinge täglich neu im Land schlicht ein paar zu viel auf Dauer würden. Das Publikum im Saal dankt ihm seine Klarheit mit hörbarer Zustimmung. Und Palmer führt strukturiert drei Analyseaspekte aus, warum die AfD an Zulauf gewinnt:
- Es wird permanent eine falsche Lageanalyse vorgenommen. Das heißt: Wenn sofort alles und jeder als Nazis betitelt wird, dann gibt es bald keine mehr.
- Es herrsche eine permanente Beschimpfungsstrategie, allem und jeden gegenüber.
- Es werden reale Missstände nicht angegangen, die nicht allein den Osten betreffen, schaue man sich beispielsweise Pforzheim mit dem höchsten Anteil der AfD-Stimmen an.
Thomas de Maizière wartet nicht auf die zunehmend entglittene Moderation und verstärkt nachdrücklich seinen Vorredner, indem er auf ein Zitat von Michelle Obama zurückgreift: „We have to marry hope and action.“ Oder wie er es aus Lessings Nathan der Weise kennt: „Schwärmen ist so leicht, Handeln so schwer.“
Wieder setzt Barley an und stellt Deutschland als tolles Land heraus. Als ehemalige Richterin läge ihre Kernkompetenz in der Rechtstaatlichkeit. Nun erhalten Polen und Ungarn ihre Haltungsnoten, weil Ungarn keine freien Medien mehr habe. Dann sagt sie tatsächlich: „Ja und dann finden viele Budapest so toll, ach Mensch, wie schön ist es dort, da sieht man Juden mit Schläfenlocken.“ Das ist bizarr. Anscheinend neigt die SPD-Politiker zu Übersprungshandlungen. Unvergessen ihre Bewunderung für die Eiskönigin der Russengasröhre als die größte lebende Sozialdemokratin. Aber wir sind in Europa noch nicht fertig: Weiter geht es mit Italiens Meloni und Frankreichs le Pen, die alle nicht Demokraten wie nun mal ihre Sozialdemokraten seien.
Damit steckt Barley sogar Böttinger an, die felsenfest behauptet, die Kriminalität bzw. die Gewaltbereitschaft im Osten sei sogar höher als in Köln. Spätestens jetzt widerspricht de Maizière energisch und aus dem Publikum wird kommentiert: „Kölner Silvesternacht?!“ Perspektive, stelle ich an dem Sonntagmorgen fest, ist doch immer eine Frage der Postleitzahl.
Daraufhin ruft Böttinger Passagen des Forderungskatalogs auf, den Boris Palmer zur Flüchtlingsproblematik veröffentlicht hat. Palmer führt aus, dass der deutsche Umgang mit Datenschutz auch Täterschutz gewähre. Es führe zu Unzufriedenehit in der Bevölkerung, wenn ein Asylantrag ohne Identitätsnachweis einfach stattgegeben wird, spricht Palmer an. Dem schließt sich Linda Teuteberg an, indem sie nochmal an den Titel der Veranstaltung „What if we were wrong“ erinnert. Die FDP-Politikerin sieht Kritik an Orban als berechtigt an, solange der eigene Anteil ebenso in eine Reflexion einfließe. Sogar die skandinavischen Länder hätten erkannt, dass Migration kein Selbstläufer sei, hebt Teuteberg differenziert hervor. Barley pustet. Freundinnen werden die Zwei zum Lunch nimma.
Was auch immer Barleys Fetischismus Victor Orban betreffend antreibt, ihr bricht vor lauter Leidenschaft sogar die Stimme auf der Bühne. Ja, das sind Gefühle in der Tat. Thomas de Maizière fasst für alle im Saal zusammen: „Barleys Beschreibung ist unterkomplex.“ Aus dem Publikum schallt es: „Soll sie doch was zur Bezahlkarte sagen.“ Barley kontert: „Wenn alles passiert wäre, was Thomas de Maiziére, Linda Teuteberg oder Boris Palmer wollen, dann hätten wir trotzdem diese Stimmung im Land.“ Petra Pau, wer sie in der Gesamtbeschreibung an der Stelle vermisst, spielte zu dem Zeitpunkt schon keine weiterführende Rolle mehr in der Diskussion.
Als zum Schluss noch Fragen aus dem Publikum aufgegriffen werden, blafft ausgerechnet eine Pädagogin das Panel dermaßen an, warum niemand den Begriff „Bildung“ genannt habe, sodass Boris Palmer es zurecht ablehnt, mit so einer Person überhaupt ein Wort zu wechseln. Ein wahrlich bezeichnender Abschluss in Form und Inhalt für diese Veranstaltung, welche Abstraktionsleistung auf dem Internationalen Literaturfestival in Kooperation mit PEN Berlin zur Schau getragen wird.