Kurt Tallerts großartige Erinnerung einer jüdischen Familienbiografie. Von unserem Gastautor Roland Kaufhold.
„Sogar, daß es Erinnerungen an nicht selbst Erlebtes gibt, werde ich erfahren“. Der 1942 in Shanghai geborene jüdische Journalist Peter Finkelgruen schrieb dies in seinen in den 90er Jahren verfassten Familienbiografien.
Kurt Tallert, der unter dem Namen Retrogott als Rapsanger in der jüngeren Generation Kultstatus genießt, stellt Finkelgruens Bemerkung an den Anfang seiner familiären Spurensuche. Und am Ende seines bemerkenswerten literarischen Werkes dankt er Finkelgruen noch einmal.
Der 1986 Geborene ist auf der Suche nach seinem Vater. Und er ist zugleich auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln seiner Familie. In Zeiten, in denen die letzten Shoahüberlebenden uns verlassen, ist der 38-jährige Kurt Tallert noch unmittelbar mit der antisemitischen Verfolgung verbunden: Sein Vater, der SPD-Abgeordnete Harry Tallert, wurde 1927 geboren. 58-jährig bekam der sozialdemokratische Funktionär und NS-Überlebende Harry Tallert noch einmal einen Sohn: Kurt. Elf Jahre später verstarb sein Vater, wohl auch an den psychischen Spätfolgen seiner NS-Verfolgung.
In seiner spannenden Spurensuche erzählt Tallert nach, wie er bereits als Kind immer wieder, in einer überwiegend sprachlosen Weise – das Konzept des szenischen Verstehens des Psychoanalytikers Kurt Grünberg könnte hier als theoretische Verstehenskategorie herangezogen werden – mit den Shoaherfahrungen seines Vaters in Berührung kam. Damit steht der Mittdreißiger Kurt Tallert in seiner Generation nahezu alleine.
Erst vor wenigen Jahren, nach jahrelangem Drängen, erhielt er von seiner Mutter die Briefe und Höraufnahmen, die sein Vater hinterlassen hatte. Das Heraussuchen der Briefe war zu schmerzhaft für seine Mutter gewesen, deshalb hatte sie seinem Wunsch zwei Jahrzehnte lang nicht entsprochen. Es folgte eine bemerkenswerte familiäre Spurensuche, die Tallert in seinem Buch nachzeichnet.
Hierzu eine Szene: Vor wenigen Jahren kam es in Köln zu einem öffentlichen Gespräch zwischen Kurt Tallert und dem 44 Jahre älteren Peter Finkelgruen im Kontext der Edelweißpiratendiskussion (Finkelgruen 2020, Kaufhold 2020). Ich war mit Finkelgruen und einer in Köln lebenden israelischen Musikerin bei der Veranstaltung. Diese Musikerin wurde von ihrem gut 20-jährigen Sohn begleitet: „Dein Freund, dieser Finkelgruen, der muss aber ziemlich berühmt sein, wenn er gemeinsam mit Retrogott auftreten kann“, meinte dieser.
Nach der Lektüre der Briefe seines Vaters, die er in sein Buch einarbeitet, erinnert sich der Autor vieler Szenen aus seiner Kindheit und Jugend. Die Shoah und die Verletzungen seines Vaters und seiner Mutter waren ihm immer gegenwärtig: „Als ich mit sechs Jahren das erste Mal vom Holocaust hörte und begriff, dass mein Vater ein Überlebender war, identifizierte ich eine unendliche Leere als Teil meiner selbst“ notiert er am Ende seines Werkes (S. 218).
Nun, nach der Lektüre der Briefe und Tonaufnahmen seines Vaters, vermag er, als Sohn eines Überlebenden, seinen Vater sehr viel besser zu verstehen. Dass die Shoah doch schon über 50 Jahre zurück liegt, wie man gemeinhin geschichtsausblendend sagt, ändert daran überhaupt nichts.
Die teils schwierigen Gefühle seines Vaters und seine eigenen, diffusen Ängste und Emotionen habe er schon als Kleinkind wahrgenommen. Die prägendste Konstante im Leben seines Vaters sei vermutlich „die existentielle Verunsicherung“ gewesen, die er selbst „von klein auf zumindest erahnt“ habe (S. 18).
Besonders geprägt sei die Gedankenwelt seines Vaters durch „das Absurde, das Abwegige“ (ebd.) gewesen; vergleichbare Grundzüge habe er auch in sich selbst immer wieder entdeckt – und diese tauchen auch im lyrischen Rapwerk von Retrogott auf.
Daher auch der Titel Spur und Abweg seines bemerkenswerten Erstlingswerkes. Herausragende Qualität gewinnt es vor allem, wenn er seine eigene Konfrontation mit der Shoah beschreibt. Und dies gelingt ihm an vielen Stellen seines Werkes in herausragender Weise.
Kurt Tallert war das jüngste der vier Kinder seiner Eltern. Seine 1945 geborene Mutter war 18 Jahre jünger als ihr Ehemann. Als Jude […] hatte Harry Tallert früh rassistische Verfolgungsmaßnahmen erlebt. Im Oktober 1944 kam er in ein KZ-Lager im niedersächsischen Lenne. Es war ein riesiges Zwangsarbeitslager im Kontext eines Rüstungsprojektes. Nach seiner Befreiung machte Harry Tallert als Journalist und ab 1955 als SPD-Landtagsabgeordneter in Bremen und dann im Bundestag eine Karriere.
Ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit, der Intimität
Kurt Tallert hat drei ältere Geschwister. Er sei der einzige von ihnen, der sich so intensiv mit der Familien-Verfolgungsbiografie beschäftige. Dies ist in Verfolgtenfamilien sehr häufig zu beobachten. Er ist Ausdruck von innerfamiliären, verfolgungsbedingten Spaltungsprozessen.
Bereits als Jugendlicher liest er Bücher über den Holocaust, spricht auch in der Schule darüber. Dabei habe er bereits seinerzeit „immer ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit, einer Intimität, das Gefühl, meinem Vater auf der Spur zu sein“ gehabt (S. 24).
Die Lektüre der Briefe seines Vaters, darunter auch Briefe aus dem Lager Lenne aus dem Jahr 1944 sowie einige Gedichte, erregt und bewegt den Autor sehr, was man bei der Lektüre spürt. Immer wieder erwähnte sein Vater hierin seine Depressionen, die er selbst den Verfolgungs- und Ausgrenzungserfahrungen als Jude zuschreibt. Und Harry Tallert zitiert den Talmud: „Es ist dir nicht gegeben, die Arbeit zu vollenden, und Du bist nicht befugt, dich ihr zu entziehen.“ (S. 24) Es war sein Überlebens-Motto, welches sein Sohn übernommen und nun in sein Buch verwandelt hat.
Und dennoch sagte er sich immer wieder, auch und gerade als Vater, dass er „sich niemals ganz einer Verzweiflung hinzugeben“ bereit war (S. 165). Es war ein lebenslanger Kampf gegen die lockende Stimme der Verzweiflung.
Die Affekte waren stark in seinem Vater, die Traumata lebten fort in ihm auch noch Jahrzehnte später als Bundestagsabgeordneter: „Manchmal brach es aus ihm heraus, und oft versiegten Rede- und Schreibfluss in den Absurditäten“ (S. 25).
Sein Vater war unfähig zu erinnern und unfähig zu vergessen, er blieb zutiefst ambivalent, gehörte weder vollständig „zum Kollektiv der Opfer noch zu dem der Täter.“ (S. 25)
Ein früher Besuch in Buchenwald
Kurt Tallert lässt die Vergangenheit seines Vaters keine Ruhe: Als Kind, kurz vor seiner Einschulung, 1992, besucht er erstmals mit seiner Mutter das KZ Buchenwald und dessen Ettersberg. Auch nach dem Tode seines Vaters wiederholt er diese Besuche am Ort des Schreckens. Seine Wahrnehmungen, die sich von der Mehrzahl der Gleichaltrigen seiner Generation grundlegend unterscheiden, beschreibt er präzise und verständnistief. Als er selbst mit 25 Jahren sein erstes Kind bekommt, besucht er gemeinsam mit seinem Freund Rachid erneut den Ettersberg – und sinnt im Buch der Frage nach, wie er in angemessener Weise die Fragen seiner eigenen beiden Kinder zu solch einem Ort des Schreckens beantworten kann.
Als er 1992 erstmals dort ist, sieht er glatzköpfige Jugendliche, ahnt, was sie sind. Zumindest im Rückblick vermutet er, dass er „die Beklemmung meines Vaters früh zu erahnen“ vermochte (S. 29).
Das Gefühl der Unwirklichkeit
Kurt Tallert findet eine passende Sprache, um seine frühkindlichen Gefühle beim Besuch des Ettersbergs zu beschreiben. Immerhin, die Traumata seines Vaters blieben innerfamiliär kein absolutes Tabu: „Jetzt fahren wir den Ettersberg hinauf. Ich hole den kleinen hölzernen Bären meiner Großtante aus meiner Tasche hervor, und meine Mutter beginnt, von einer Art Gefängnis zu erzählen, das einmal an dem Ort war, den wir jetzt besuchen. Ich horche auf. Ein Konzentrationslager.“ (S. 32)
Ja, sein Vater sei Jude gewesen. Ob sie denn auch Juden seien? Nein. Die leidige, traurige Geschichte mit den „Vaterjuden“…
Das Gefühl der Unwirklichkeit durchzieht sein gesamtes Buch. Wer nicht im Lager war für den bleibt, neben dem jähen Schrecken, die Unwirklichkeit. Aber auch die ehemaligen, überlebenden Häftlinge beschleicht in der überlebensnotwendigen seelischen Abwehr auch immer wieder das Gefühl der Unwirklichkeit. Auschwitz, Buchenwald, diese Orte bleiben unwirklich. Und doch waren sie für seinen Vater schreckliche Realität.
Der kleine Kurt, Schulneuling, spürte seine Verlorenheit, seine Nicht-Zugehörigkeit zu den Erinnerungen der Mehrheitsgesellschaft; „Buchenwald war Ausdruck einer Vergangenheit, die mich stumm anschrie. Und nur stumm, lediglich in mich selbst hinein, konnte ich darauf etwas erwidern.“ (S. 36)
Das Gefühl ist geblieben. Verstärkt wurde es durch den – aus Sicht vieler jüdischer Gemeinden – Status seines Vaters als „Vaterjuden“, der eigentlich kein Jude sei. Für die Nazis reichte dieser Status jedoch für Konzentrationslager und für die Vernichtung aus. Seit Generationen hat sich dieses innerjüdische Dilemma, dieser innerjüdische Ausstoßungsprozess fortgesetzt. „Ich glaube, ich verbitterte mit sechs Jahren, wie es sonst wohl nur Greise tun. Die Deutschen haben Juden umgebracht, die ihnen nichts getan hatten. Meinen Vater haben sie verfolgt, weil er für sie ein „Halb-Jude“ war“, schreibt Tallert im Jahr 2024 (S. 37).
„Nach innen weinen, nach innen schreien, kotzen“
Dem Autor gelingt es, die Äußerungen seines Vaters über die Folgewirkungen seiner Verfolgungserlebnisse im Buch mit seinen eigenen Gefühlen und Erinnerungen in Verbindung zu setzen. Auch als Bundestagsabgeordneter spürte Harry Tallert die Gefahren durch den Rechtsradikalismus. In einem seiner Notizbücher notiert er am 12.10.1991: „Großes Unglück: Nach innen weinen, nach innen schreien, kotzen.“ (S. 53) Auch er litt unter dem Schuldgefühl vieler Überlebenden, der Überlebensschuld. Er wollte seine Kinder vor den schrecklichen Erlebnissen als jüdischer Verfolgter schützen. Und er und seine Frau spürten dennoch, dass sie eben dies auch von ihren Kindern entfremdete, weil sie diesen hierdurch etwas von sich selbst verbargen.
Als Kurt Tallert 25-jährig sein erstes Kind bekam, spürte er den Wunsch, sich seinem 14 Jahre zuvor verstorbenen Vater wieder anzunähern. Und er begann mit seinem bemerkenswerten literarischen Erstlingswerk.
Bei seinen Recherchen entdeckt der Autor weitere innerfamiliäre Opfer der Naziverfolgung: Seine Großtante Hedwig, deren Tochter und deren Ehemann wurden im Oktober 1942 von Berlin nach Riga transportiert, wo sie ermordet wurden. Den Preis für das Ticket in die Ermordung musste Hedwig selbst bezahlen.
Kurt Tallert macht sich, mit beeindruckender Ausdauer und Leidensbereitschaft, auf die Spurensuche. Er schaut sich in Archiven die „Wiedergutmachungs“akten seiner Familie, insbesondere seines jüdischen Großvaters, an. „Wiedergutmachung“, für einzelne Überlebende notwendig, um überhaupt in Deutschland leben zu können, war, psychologisch betrachtet zuerst einmal ein zweiter, furchtbarer Kampf der Tätergeneration gegen die Opfer, die „dennoch“ bereit waren, in Deutschland zu leben. Ein Land, das früher alles dafür getan hatte, um Juden bzw. „Halbjuden“ wegen ihrer jüdischen Abstammung zu entwerten und zu vernichten – der Rezensent weiß, wovon er spricht – , verlangte nun von den Opfern Beweise für ihre Verfolgung und den jüdischen Hintergrund hierfür. Die Opfer begegneten in den Amtsstuben und auf den Straßen fortgesetzt ihren ehemaligen Peinigern. Teils sagten sie, die Täter, vor „Entschädigungsgerichten“, als Zeugen gegen die Opfer aus.
Peter Finkelgruen (2020) hat hierzu, bezogen auf die Edelweißpiraten, ein ganzes Buch geschrieben
„Wiedergutmachung“ war zuerst einmal ein erneuter Kampf der Täter gegen die Opfer. Tallert, dem das Thema anfangs unvertraut schien, war bei der Lektüre der Akten geschockt. Er vermag dies nicht zu verheimlichen: „An Absurdität schwer zu übertreffen. Nun war er gegenüber einer deutschen Behörde möglichst viele Informationen über seine jüdische Identität und noch mehr über sein „jüdisches Schicksal“ schuldig, obwohl deutsche Behörden doch in den letzten Jahren weitaus genauer darüber Bescheid gewusst hatten, als es ihm lieb gewesen war.“ (S. 98) Auch bei diesem Thema ist Tallerts Buch großartig und überzeugend. „Warum bin ich nur so gottverdammt nachtragend?“ (S. 99) fragt er sich – und kennt die Antwort.
Für den Autor ist es, nachdem er sich endlich, gegen viele auch innere Widerstände auf den schweren Weg der familiären Spurensuche gemacht hat, eine „Frage des Anstandes, meinen jüdischen Großvater (…) zu verteidigen.“ Dies ist dem Autor wahrhaftig, bis in das verborgendste Detail, gelungen.
Insbesondere das antisemitische Hamas-Pogrom vom 7.10. der Mörder von der Hamas wurde vom Autor als eine schon existentielle Zäsur empfunden. Als Reaktion hierauf könne es für ihn keine Beliebigkeit in der Solidarität mit Juden und Israelis mehr geben. Es sei eine starke Solidarität mit dem jüdischen Staat gefordert. Diese Grundhaltung ist vor allem seiner Solidarität mit seinem Vater und Großvater und mit den in Riga vergasten Verwandten geschuldet.
Harrys Briefe: „Ich habe Angst, es würgt mich. Ich verfaule.“
Und dann immer wieder Auszüge aus den Erinnerungen seines Vaters, des SPD-Politikers, der seine jüdische Biografie und Verfolgung offenkundig öffentlich nie versteckte. Damit war er, auch innerhalb der SPD, eine Ausnahme, wie etwa das Beispiel des SPD-Abgeordneten und früheren Justizministers Gerhard Jahns verdeutlicht (vgl. Martin Doerry: „Mein verwundetes Herz“. Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1904; Lillis Tochter Berührende Dokumente einer Suche. Des Versuches, eine deutsche Umwelt in ihrer Verdrängungsleidenschaft zu verstehen, die die Mitscherlichs schon vor einem halben Jahrhundert beschrieben haben. „Warum konnten sich so viele Nazitäter hinter der kollektiven Verdrängungs-Mentalität ihrer Umwelt verstecken?“ fragt Harry Tallert sich 1988 (S. 108).
Und dann, eruptiv aufsteigend, Selbstzeugnisse eines Überlebenden mit seiner Überlebensschuld: „… keine halben Sachen. Halbaffen, Halbmenschen, Halbgötter, Halbidiot, Halbjude, Halbarier, Halbiert, Halbseiden (…) Ich habe Angst, es würgt mich. Ich verfaule. Ich möchte das Meer sehen.“ (S. 12)
Kurz vor seinem Tod wird sein Vater im Jahr 1997 immer wieder von seinen Verfolgsungserfahrungen überrollt. Er phantasiert, dass „sie“ seinen ältesten Sohn – Kurt Tallert’s zehn Jahre älteren Bruder – abgeholt hätten. In der Phase der Todesannäherung lässt die seelische Abwehrkraft gegen die erlebte Vernichtung nach, nun ist die NS-Zeit wieder da in Harry Tallert. Und sein kleiner Sohn Kurt erlebt dies. 25 Jahre später, sein Vater ist da schon lange nicht mehr im Leben, spürt er alles wieder, als er sich auf die innerfamiliäre und innere Spurensuche macht.
Und er versteht das Vermächtnis seines Vaters, das er und seine Ehefrau ihren Kindern früh, mit Ambivalenz, vermittelt hatten: Seine Mutter hatte ihn, den sechsjährigen Kurt, mit nach Buchenwald genommen, um ihm die Empfindsamkeit seines Vaters zumindest anzudeuten. Er sollte seinen Vater zumindest ein wenig verstehen, den Überlebenden, der „dennoch“ unter den Deutschen lebte.
Und dann gibt es die Briefe des 17-jährigen Harry Tallert, die er 1944 und Anfang 1945 aus dem KZ Lenne schreibt, im Wissen um die Zensur und um die Fragwürdigkeit seines eigenen Überlebens:
„In dieser ganzen Haftzeit überhaupt bin ich ein anderer Mensch geworden, ein Mensch, der sich mit allem abfinden kann. (…) Diesen festen Glauben an die Zukunft werde ich niemals verlieren. (…) Ich habe trotzdem das Lachen nicht verlernt, weil es an sich gar nichts ist, was ich zum Vergleich zu andern mitgemacht habe“, schreibt er im März 1945 (S. 159). Das Vermächtnis eines 17-Jährigen, der 41 Jahre später noch einmal einen Sohn bekommen wird.
„Verzeiht mir, meine Kinder / Aber kämpft.“
1995, kurz nach den Pogromen von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen – Ignatz Bubis sowie Michel Friedmann gehörten zu den ganz Wenigen, die die Opfer des rassistischen Pogroms aufsuchten; und Ralph Giordano verfasste 1993 mit Wird Deutschland wieder gefährlich? – Brief an Kanzler Kohl eine emotionale Kampfschrift – ist dem knapp 70-jährigen Harry Tallert bewusst, wie die Stimmung ist, die sich in deutschen Kneipen und auf Wutkundgebungen ab und zu eruptiv entlädt: „Ich bin nicht frei / Sagte ich in der Kneipe / Meine freie Meinung / Lebte ich nicht mehr lange / „Sie“ schlügen mich tot“ (S. 162) notiert Harry Tallert in einem Gedicht.
Nur wenn er sich weiter verberge, seine „freie Meinung ersticke“, lebe er „unerkannt ungeschoren.“
Am Ende seines Gedichtes formuliert er noch einmal seine Schuldgefühle gegenüber seinen eigenen Kindern:
„Ich kann mir nicht verzeihen / Dass ich Besseres glauben wollte / Weil ich Besseres glauben wollte / Habe ich Kinder / Verzeiht mir, meine Kinder / Aber kämpft.“ (S. 162)
Gesellschaftlich Etablieren in der Bleizeit
Kurt Tallert beschreibt in eindrücklicher Weise die Folgewirkungen der Traumatisierungen seines Vaters, die wohl auch – etwa der übermäßige Alkoholkonsum – zu seinem eher frühen Tod beigetragen hatten. Dessen ungeachtet hatte sich sein Vater über Jahrzehnte gesellschaftlich eingebracht, hatte sogar eine politische Karriere als Parlamentarier im Kontext von Antifaschismus ergriffen, erfolgreich. Gemeinsam mit seiner Frau hatte er Kinder groß gezogen, im Wissen um seine ihm zugefügten Schädigungen. Gegen diese lehnte er sich immer wieder auf, auch mit einer ausgeprägten Genusssucht. Kurt Tallert verwendet hierfür die Formulierung des „Ausbleibens einer offenen Auseinandersetzung“ und einer „wirklichen Anerkennung seiner Leiden“ (S. 167). Diese erlebte sein Vater offenkundig letztlich nie.
So schrieb er 1991, in Erinnerung an die Bleizeit der 1950er Jahre in Deutschland, ein „altes Gedicht“, in dem er seinen fortwirkenden Schrecken nicht mehr zu kaschieren vermochte und wollte:
„Aufgewacht und geschlagen / Hingestreckt schon am Morgen / Am Mittag / Erinnern und wieder fallen / Nachts der Tod / Allein / Von morgens bis abends / Aber war Tag.“ (S. 127)
Eines der bedeutsamsten Werke…
Sein Buch über seine Kindheit und seinen jüdischen Vater habe er aus der Perspektive einer „verständnisvollen Anerkennung“, in „Liebe zu meinem Vater“, geschrieben (S. 167), erwähnt Kurt Tallert. Auch wenn er vielleicht nicht immer die passenden Worte gefunden habe – dem stimme ich nicht zu – so habe er über Jahre doch das dringende Gefühl gehabt, „das alles einmal aussprechen zu müssen“, weil er gesehen habe, „wie unglücklich es meinen Vater machte, es herunterzuschlucken.“ (S. 167f.)
Das Buch endet mit einem fiktiven Brief, den Tallert an seine Urgroßmutter Berta „schickt“. Die 1858 geborene Urgroßmutter wurde in Auschwitz ermordet. In seinem rührenden Brief an „Uroma Berta“ (S. 230) versichert er ihr als Urenkel seine Liebe:
„Ich habe Dich nicht vergessen, auch wenn ich Dich nie erinnert habe. Ein Foto von Dir habe ich bisher nicht gesehen, vielleicht finde ich noch eins im Nachlass Deiner Enkelin, meiner Tante.“ (S. 232f.) Er wolle seiner Urgroßmutter ein Urenkel sein „damit sie eine Urgroßmutter ist und nicht nur namenloses Laub oder gar Asche.“
Kurt Tallert hat mit Spur und Abweg eines der bedeutsamsten Werke der vergangenen zwei Jahrzehnte zur Shoah und zum jüdischen Weiterleben vorgelegt. Er beschönigt nichts, wahrlich nicht. Er hat ein Werk einer tiefen, großen Liebe vorgelegt.
Kurt Tallert: Spur und Abweg, Köln: Dumont, 240 S., 19,99 Euro
Literatur
Finkelgruen, P. (2020): „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln. Herausgeber: Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Engelhart. Books on Demand. Norderstedt 2020.
Kaufhold, R. (2020): Die „Kölner Kontroverse“? Bücher über die Edelweißpiraten. Eine Chronologie. In Finkelgruen (2020), S. 217-342.