In Ulla Hahns Roman „Aufbruch“ wird die Geschichte der Hilla Palm erzählt. Sie kommt aus Dondorf bei Düsseldorf, und fängt bald an, in Köln zu studieren. Hilla liebt Dondorf. ihr liegt die Familie am Herzen, der Rhein, die Natur und die Erinnerungen, die dieses Dorf für sie enthalten. Nach einem Semester Pendelei geht Hilla schließlich mit Sack und Pack nach Köln, weil sie das Hin-und-herfahren krank macht, das Leben in zwei Welten sie emotional überfordert. Von unserer Gastautorin Anna Mayr.
Ich gehe, weil der Auszug und Aufbruch aus meiner Heimatstadt zu meiner Vorstellung vom Großwerden gehört, seit ich mit Ernsthaftigkeit über das nachdenke, was man so salopp „Zukunft“ zu nennen pflegt. Dem Erwachsenwerden habe ich abgeschworen, ich glaube nicht mehr daran, dass es Erwachsene gibt. Aber groß, groß kann man werden. Man kann große Erfahrungen machen und große Dinge tun, große Menschen kennen lernen und große Überlegungen anstellen. Unna ist mir nicht groß genug, in Unna war ich immer nur klein. Groß werden möchte ich an einem anderen Ort.
Ich möchte an einer großen Universität studieren und in einer großen Redaktion arbeiten. Zwar gibt es in Massen seit einiger Zeit ein Schild, das in Richtung „Universität“ zeigt. In dieser Richtung lebt jedoch nichts, nicht einmal ein Bus fährt dorthin, vielleicht einmal im Monat. Ich möchte, dass es um mich herum lebt. Dass ich aus meiner Haustür gehe und irgendwohin mit der Bahn fahre und auf einmal ist da etwas.
Ich mag Berlin nicht besonders. Aber neulich saß ich alleine am Alexanderplatz. Hundert Meter weiter gab ein Kinderchor eine Spontanvorstellung, neben mir auf der Bank stritt sich ein junges Paar auf zwei Sprachen, gegenseitig verstanden sie sich nicht. In meinem Rücken demonstrierten Greenpeaceaktivisten vor einer Mc Donalds Filiale. „Die Stadt legte sich auf mich wie eine schwere Steppdecke mit feurigen Farben“, heißt es in „Das kunstseidene Mädchen“. In diesem Moment, alleine auf einer Bank neben dem Berliner Fernsehturm, wusste ich genau was Irmgard Keuns Protagonistin gefühlt haben muss.
Unna lebt nicht so sehr. Primär liegt das daran, dass hier nicht so viele Menschen leben. Aber in meiner Perzeption lag immer eine Schwere auf der Stadt, ein Filter aus grau. Wo sind hier die Ideen, wo passiert hier etwas anderes als immer das Gleiche wie letztes Jahr? Der graue Filter ist überall, er ist in den Geschäften und auf den Veranstaltungen, in den Schulen, auf den Gehwegen, in vielen Gesichtern und selbst in den Tageszeitungen. Man könnte hier täglich titeln „Nichts Aufregendes passiert in Holzwickede“ – „Niemanden interessiert der neue Beschluss des Stadtrats“ – „Nichts ändert sich an der Planung des Stadtfests“. Letztere Überschrift hat es so tatsächlich gegeben. Wo sind die Mutigen, die sich trauen zu sagen: lasst uns dieses Jahr etwas Neues machen, etwas das sich nicht bewährt hat, nicht Tradition ist und bloß nicht immer schon funktioniert hat. Verschwunden hinter dem grauen Filter.
Anlässlich dieses Texts musste ich mich fragen, ob es einen Ort abgesehen von meinem Kinderzimmer gibt, den ich in Unna liebe, an den ich gern zurückkehre und den ich mit guten Erinnerungen verbinde.
Der Teich im Bornekamp, wo ich früher mit meiner Oma die Enten gefüttert habe? Das Wasser steht hier nur noch halb so hoch und riecht ekelerregend, man könnte das Gewässerchen in einer Biologieklausur als Beispiel für die Eutrophierung eines Sees verwenden. Meine Hypothese; eindeutig zu hohe autotrophe Phytoplanktondichte. Aber dazu ein anderes Mal.
Das Kühlschiff, wo ich mit 16 auf der ersten Vofi-Feier war? Seit der Renovierung ist es hier ruhig geworden, wie es scheint wissen die Veranstalter höchstens noch über Ü30-Partys Bescheid. Die Abiturjahrgänge suchen sich für ihre Feiern günstigere Orte aus.
Der Marktplatz? Haben Sie sich den Marktplatz schon mal am Sonntagabend angesehen? Man muss als junges Mädchen glatt Angst haben, vergewaltigt zu werden, so einsam und dunkel ist es da, am Zentrum des Stadtlebens.
Das Geschwister-Scholl-Gymnasium? Ja, vielleicht. Aber nicht, weil es sich hier so gut leben ließ. Sicherlich nicht wegen der Schönheit des Gebäudes, nicht wegen des herausragenden Unterrichts von der fünften Klasse an, nicht wegen prägender Erlebnisse. Hier liegt es an den Menschen, an Freunden und Lehrern. Mit Lehrern meine ich in diesem Fall allerdings weniger die schlecht konnotierte Berufsbezeichnung, sondern diejenigen, die mir Lehrende waren.
Denn es ist ja gar nicht so, dass ich nicht in Unna bleibe. Es bleibt viel hier auf meinem Weg in die große Stadt. Dieser Text zum Beispiel oder der Name der Schülerzeitung, das alte Bett im Kinderzimmer, die gerahmte Zeichnung aus der elften Jahrgangsstufe auf dem Schulflur. Vor allem aber bleiben Menschen hier. Die, die mir Prägende waren, Lernende, Fördernde und Liebende, die mir Werte und Frohsinn gaben und letztendlich mich selbst. Ich möchte behaupten, dass ich ein Stück weit Teil dieser Menschen sein darf, sie von mir und ringsherum. Natürlich bleibe ich also in Unna. Meine Wirkung bleibt hier und vor allem diejenigen, die auf mich eingewirkt haben.
Trotzdem hält mich nichts hier. Mein Herz hängt nicht an Orten oder Häusern, es hängt an Erlebnissen und Personen. Erstere habe ich sowieso immer bei mir, Letztere sind zum Glück beweglich.
Nichtsdestotrotz. Ich werde Unna vermissen. Ich werde es vermissen, von weit her zu kommen, aus dem Zug zu steigen und das Gefühl von Zuhause zu haben. Weil ich hier alles kenne, jede Treppenstufe am Bahnhof, den Weg jeder Buslinie, jedes Geschäft in der Bahnhofstraße und jeden Stein auf dem Marktplatz, jedes Haus im Nikolaiviertel, die Preise sowie Qualität jeder Eisdiele. Und jeden. Wenn ich von Königsborn in die Innenstadt gehe oder fahre, kann ich mir sicher sein, dass da ein bekanntes Gesicht ist, ein freundliches Wort, ein bis-bald. In Unna ist jeder mit jedem verwandt und verschwägert. Das ist es, was mir in der großen Stadt fehlen wird und mein Zuhause für immer zu meinem Zuhause macht. Und obwohl ich hier keine berufliche Perspektive für mich sehe, weiß ich doch, dass es nicht das Schlechteste war, hier aufzuwachsen. Jugendunfreundlich ist diese Stadt vielleicht, eben weil in Unna nicht das große Leben spielt. Aber für meine Kinder wünsche ich mir eine Stadt ähnlich wie diese. Oder genau diese.
Anna Mayr, 18-jährige Frischabiturientin des GSG hat die Schülerzeitung „Scholl&Rauch“ (www.schollundrauch.de) mitbegründet und zwei Jahre lang chefredaktioniert. Als Heinrich-Böll-Stipendiatin wird sie ab Oktober Germanistik und Geographie mit Berufsziel Journalistin an der Universität Köln studieren. Sie ist freie Mitarbeiterin der WAZ/WR in Unna und hospitiert zur Zeit in der Redaktion der Welt am Sonntag in Düsseldorf.
Das Kino. Du hast das Kino vergessen. So etwas gibt es in Städten dieser Größenordnung gar nicht mehr so oft…
Ehrlich. 😉
Da hat man gerade Semesterferien und kommt aus Darmstadt zurück nach Unna, geht durch die gewohnte Stadt nach Hause, das WLan erkennt einen und dann ist das erste was im Reader kommt dieser Artikel. Sehr passend grade.
Auch für mich ist und bleibt Unna die Stadt aus der ich komme.
Und zu dem Teil das wir die hier auch irgendwie geprägt haben und so, bevor ich überhaupt in die Fussgängerzone kam wurde ich schon von einem Kind ge-high-fived. Keine Ahnung woher der mich kannte, aber es gibt noch erstaunlich viele die mich, den Sommer-Andy kennen.
Toller Text, schön geschrieben. Hat mich sehr berührt, weil ich aus einer Stadt ähnlicher Grössenordnung komme, und ich mich wiedererkenne.
Viel Erfolg auf dem weiteren Weg! Viellleicht schreibst du mal Prosa?
Könnte sehr gut werden.
@ Anna Mayr
Unna … die Stimmung ist sehr gut getroffen, finde ich, der aus Unna nach Berlin geflüchtet ist.
Und dann kommt auch noch das „Buch der Bücher“ …:
„Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein.“
„Und habe mir ein schwarzes, dickes Heft gekauft und ausgeschnittne weiße Tauben draufgeklebt und möchte einen Anfang schreiben: Ich heiße somit Doris und bin getauft und christlich und geboren. Wir leben im Jahr 1931. Morgen schreibe ich mehr.”
ich bin mit siebzehn vom pott weg nach köln, mit 20 nach münchen und mit 30 nach berlin. mit 37jahren kehrte ich zurück – aus dem kohlenpott war eine kulturhauptstadt geworden.
keine der zeiten möchte ich missen und ich weiss jetzt sicher das überall nur mit wasser gekocht wird. aber meine sprache sprechen se nur hier und das vermissen von tand hab ich mir lange abgewöhnt.
natürlich findet man das ganze köln nicht in unna, aber das ganze große ruhrgebiet wirst Du auch in porz nicht finden.
tortzdem, würde ich mit achtzehn auch weggehen egal von wo aus egal wohin.
alles gute in der stadt am rhein und vielleicht auf wiedersehen in der stadt ruhr!
glückauf.
@ Anna Mayr
„Wenn man erwachsen wird, läßt man sich viel mehr gefallen und wird schlapp. Als Kinder haben wir uns immer gerächt für Gemeinheiten, und das soll man auch.“
Irmgard Keun, „Nach Mitternacht“