
Mehr Verunsicherung in punkto Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die meinen im falschen Körper zu sein, kann man sich kaum jemand vorstellen. Nun wurde die Leitlinie, deren Entwurf ich letztes Jahr bereits ausführlich kritisierte, veröffentlicht.
Eine solche Leitlinie enthält Handlungsempfehlungen, die die Ärzte und Psychotherapeuten bei ihrer heilkundlerischen Arbeit unterstützen sollen. Leitlinien sind wichtig, weil sie statistisch gesicherte Daten über einen möglichen Erfolg oder Nichterfolg einer Therapiemaßnahme enthalten. Beim Thema Trans ist das aber schwierig, denn es gibt zu wenig Daten vor allem für die Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie. Nach etlichen Monaten der Überarbeitung der S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) hat sich inhaltlich an den von mir vor knapp einem Jahr ausgeführten Kritikpunkten nicht wirklich etwas geändert. Ich kann meine Kritik vor allem an der fehlenden Möglichkeit, eine gesicherte Diagnose zu erstellen, nur nochmals bekräftigen. Einer gründlichen Differentialdiagnostik, wie sie in der Medizin üblich ist, werden auch mit der überarbeiteten Leitlinie durch den affirmativen Ansatz, Steine in den Weg gelegt. Affirmativ bedeutet, dass die Eigendiagnose des Patienten nicht infrage gestellt, sondern bestätigt werden muss. Grundsätzlich. Wie soll man so andere mögliche Ursachen für das Unbehagen mit dem eigenen biologischen Geschlecht ausschließen, wenn man sie nicht einmal in Erwägung ziehen darf?
Eine Psychotherapie wird in der Leitlinie nun zwar empfohlen, ist aber nicht verpflichtend: “Eine Verpflichtung zu Psychotherapie als Bedingung für den Zugang zu medizinischer Behandlung ist aus Gründen des Respekts vor der Würde und Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt.“ Zudem ist “keine definierte Richtlinienpsychotherapie“ erforderlich. Die psychotherapeutische Unterstützung muss auch nicht zwingend von approbierten Psychologen durchgeführt werden. Man spricht in der Fußnote von “psychotherapeutisch geschulten professionellen Helfer*innen“. Genauso gut kann dies demnach ein Heilpraktiker für Psychotherapie oder ein Transaktivist mit irgendeiner “professionellen“ Schulung übernehmen.
Die Behandlung mit Pubertätsblockern bei Kindern ist hochumstritten. Diese Hormonbehandlung verzögert quasi das Eintreten der Pubertät und die Ausbildung der typischen sekundären Geschlechtsmerkmale wie z.B. Brustwachstum und veränderter Körperbau bei Mädchen oder tiefe Stimme und Bartwuchs bei Jungen. Da sowohl eine Falschbehandlung als auch das Ausbleiben der Behandlung bei Kindern, die wirklich unter Geschlechtsdysphorie leiden und dies dann oft schon seit frühester Kindheit kommunizieren, problematisch ist, wünschen sich hier die Ärzte konkrete Ausschlusskriterien und Handlungsempfehlungen. Die Leitlinie begegnet dieser äußerst schwierigen Fragestellung allerdings nur mit einer knappen Mitteilung: „Besonderer Wert wurde in den Empfehlungen auf sorgfältige und reflektierte Abwägungen bei Entscheidungen hinsichtlich einer hormonellen Behandlung im Jugendalter gelegt.“ Klare Kriterien für oder gegen die Anwendung von Pubertätsblockern – Fehlanzeige…
Till Randolf Amelung bezweifelt, dass die Leitlinie tatsächlich breite Anwendung finden wird. Und das ist wohl auch besser so. Auch er kritisiert den affirmativen Ansatz und die fehlende Evidenz, das heißt, dass konkrete Zahlen fehlen um die Therapie als sicher und erfolgreich bewerten zu können. In der Leitlinie wurden die Beschlüssen des Ärztetages und die Erfahrungen anderer Länder bewusst ignoriert. Was in dieser Form ungewöhnlich ist: die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wird als beteiligte Fachgesellschaft genannt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ihre Kritik an der Leitlinie mit veröffentlicht ist. Amelung legt viele Ungereimtheiten im Entstehungsprozess der Leitlinie offen und sieht sie in der Schlussfolgerung als vertane Chance an. “Niemand, der oder die klar bei Verstand ist, kann eine Leitlinie, die ihren fundamentalen Verriss gleich im Anhang mitliefert, als Grundlage für die klinische und therapeutische Arbeit nehmen.“
In der ZEIT wurde Saskia Fahrenkrug interviewt, die an der Leitlinie als Psychologin und Vertreterin der Psychoanalytischen Gesellschaft mitgearbeitet hat und diese mitträgt. Selbst sie rät zur Zurückhaltung. Sie beschreibt, wie sich ihr Klientel in den letzten Jahren verändert hat. Zum einen gibt es einen extremen zahlenmäßigen Anstieg von Kindern und Jugendlichen, die sich als Trans identifizieren, zudem sind es überwiegend Mädchen, die mit ihrem Geschlecht hadern (ca. 80)%. Und die Betroffenen sind heute auch deutlich älter, wenn sie das erste Mal ein Problem mit ihrem Geschlecht sehen. Zudem weisen Betroffene oft Komorbiditäten also weitere psychologische Auffälligkeiten wie Angst-, Ess-, Persönlichkeits- oder Autismus-Spektrum-Störungen auf. Hier könnte die Transidentität eine Scheinlösung sein, meint Fahrenkrug. Ich wurde beim Lesen des Interviews den Eindruck nicht los, dass sie während der Arbeit an der Leitlinie sehr unter Druck stand und sich ihre Kollegen mit dem affirmativen Ansatz unbedingt durchsetzen wollten. Auch, dass viele Kritiker aus der Arbeit an der Leitlinie ausgeschieden sind, sollte hier zu denken geben. Mir erscheint diese Leitlinie trotz der geringfügigen Änderung nach wie vor von Ideologie geprägt zu sein und nicht von gesundem Menschenverstand.
Einer der Kritiker der Leitlinie, Florian D. Zepf, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Jena, kommt auf Queernations zu Wort.
Er gibt zu bedenken, dass in der neuen Leitlinie zwar zwischen stabiler „Geschlechtsinkongruenz“ und vorübergehender „Geschlechtslosigkeit“ unterschieden wird, aber ohne die Angabe spezifischer Kriterien, wie diese beiden Gruppen im Voraus zu unterscheiden sind, macht das wenig Sinn. Zumal nach neuen Erkenntnisse über 50% der Diagnosestellungen nach 5 Jahren nicht mehr bestehen. Zepf kritisiert zudem, dass die Empfehlungen für eine Pubertätsblockade nicht evidenzbasiert sind und die familienrechtlichen Entscheidungen über Kindeswohl auf einer fragwürdigen Grundlage basieren. In einem Interview mit der Welt wies Zepf darauf hin, dass die empfohlene unabhängige rechtliche Prüfung zur Behandlung des Kindes dazu führen könnte, “dass Eltern, die dies ablehnen, im Extremfall das Sorgerecht oder die Gesundheitsfürsorge für ihre Kinder entzogen werden kann“.
Er hebt zudem hervor, dass eine Explorative Psychotherapie, also das Erkunden bestimmter Sachverhalte und Stimmungen mittels qualifizierter Gesprächsführung, keine Konversionstherapie ist. Dies wird allerdings von Transaktivisten immer wieder behauptet und hatte auch bedeutenden Einfluss auf die Leitlinie. Bemerkenswert ist auch seine Aussage bei WELT: „Die Leitlinie scheint auf der falschen Annahme zu beruhen, dass in jedem Kind eine festgelegte, allgegenwärtige und unveränderliche Geschlechtsidentität existiert, die völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht ist“. Dies sei eine „unbewiesene wissenschaftliche Annahme“, sagte Zepf. Die Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen unterliege vielmehr einer „Selbstinterpretation“, wobei sich diese im Entwicklungsverlauf ändern kann.
Wegen der angeführten Kritikpunkte, weil die Leitlinie wichtige methodische Schwächen aufgezeigt und die vorgenommenen Anpassungen nicht den insgesamt schwachen Stand der aktuellen Evidenzlage widerspiegeln, empfiehlt Zerf die vorliegende neue Leitlinie zurückzuziehen. Er war bis November 2022 Mitglied der S2k-Leitlinienkommission und verließ diese auf eigenen Wunsch aufgrund seiner medizinischen und ethischen Bedenken.
Auch Kinderpsychiater Tobias Banaschewski, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, äußert sich kritisch. Er bezeichnet die finale Fassung der Leitlinie als „hochgradig ideologisch“. Er sagte bei WELT: „Sie gibt mit der Empfehlung von Pubertätsblockern und Hormonen bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie Empfehlungen, die vom internationalen Konsens erheblich abweichen.“ Es werden ja körperlich gesunde Kinder und Jugendliche aufgrund einer in meinen Augen absolut unzureichenden Diagnosestellung invasiv medizinisch behandelt. Zurecht stellt sich Banaschewski hier die Frage nach der Patientensicherheit und dem Kinderschutz.
Die gesetzliche Krankenkasse, die das nun alles bezahlen soll, hat im Übrigen ihre eigenen Leitlinien und diese weichen deutlich von der neuen Leitlinie der AWMF ab. Die Begutachtungsanleitung des Medizinischen Dienstes für die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung widerspricht der neuen Leitlinie in vielen grundsätzlichen Punkten. Eine Richtlinienpsychotherapie ist vorgeschrieben bevor Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation übernommen werden. Komplett ausgeschlossen aus der Kostenübernahme sind z.B. “nonbinäre Personen“, was auch völlig nachvollziehbar ist, da es keine körperliche Referenz für so etwas wie “nonbinär“ geben kann. Keineswegs kann diese Variante des Trans-Umbrellas mit Intersexuellen verglichen werden, da intersexuelle Menschen eine Abweichung der physiologischen Norm der Geschlechtsentwicklung darstellen und eine sehr kleine Gruppe mit sehr vielfältigen Erscheinungsformen völlig unterschiedlicher möglicher Ursachen sind. Es ist kein drittes Geschlecht. Zum Glück sind die Leitlinien der gesetzlichen Krankenkassen nicht so ideologiegetrieben wie die medizinische Leitlinie der AWMF und zum Glück ist diese auch nicht automatisch bindend für die GKV.
Abgesehen von der völlig unzureichenden Leitlinie, gibt es in der Trans-Szene bereits heute schon einen Trend zur Selbstmedikation.
Die Berichte von Fahrendorf über Fast-Track-Behandler in der Szene sind erschreckend. Kriterien werden wie nach einer Checkliste abgehakt und nach ein zwei Sitzungen bekommen die Mädchen ihr Schreiben: “Erleben eindeutig männlich, fürs Wohlbefinden ist Hormonbehandlung zwingend erforderlich, mit freundlichen Grüßen“ Und man findet wohl auch Ärzte für die so ein Fünfzeiler für eine Hormonbehandlung ausreicht.
Auch außerhalb des medizinischen Bereiches gibt es beängstigende Tendenzen zur Selbstmedikation. So werden in der Punkszene auf dem Blog Bierschinken Spenden für die Brustamputationen einer “nonbinären Person“ gesammelt, da dies ja die GKV nicht bezahlt. Wie für einen Geburtstagsblumenstrauß wird hier Geld eingesammelt um einer autistischen Person zu ermöglichen sich die Brust entfernen zu lassen. Und man wähnt sich dabei immer noch auf der guten Seite und sieht sich mitten im Punk-Lifestyle verortet.
Nicht nur, dass Influenzer auf Instagram und Tiktok Tipps geben, wie man am besten an Testosteron ran kommt und wie toll die Anwendung des Sexualhormons ist, es gibt auch steuerfinanzierte bunte Heftchen wie die Queer-Broschüre “Out“ vom Verein LAMBDA, bei dem das Bundesfamilienministeriums im Impressum steht. Hier wird in der Winterausgabe 24 auf Seite 20/21, der illegale Erwerb von Hormonen nicht nur ausführlich erklärt, sondern auch romantisch zu einer völlig akzeptablen Variante der Eigentherapie verklärt. Nur ist Geschlechtsdysphorie kein Schnupfen und die Hormone aus gutem Grund rezeptpflichtig. Und wenn man dann dort liest, dass Endokrinologen und Psychologen im Spiel sind, hofft man inständig, dass das von them jungen Autor nur Angeberei ist und nicht der Wahrheit entspricht. Unter dem Motto “We know more than our Doctors” werden mögliche illegale Beschaffungsmöglichkeiten aufgelistet und eine Anleitung zum Erwerb gegeben. Die medizinische Betreuung wird als “eigentlich sehr sinnvoll“ beschrieben aber wegen des bösen Gatekeepings für entbehrlich gehalten. Bluttests, die bei jeder Hormontherapie egal welcher Art erforderlich sind, nennt man hier “manchmal üblich“. Dass Sexualhormone aus gutem Grund rezeptpflichtig sind, weil sie gefährliche Nebenwirkungen haben können und eine ärztlich begleitete Therapie hier zwingend erforderlich ist, verschweigen sie. Die Selbstmedikation und die illegale Nutzung von Hormonen halten die jungen Autor für überlebenswichtig. (Amn.: niemand stirbt, wenn er mit dem falschen Pronomen angeredet wird.)
Zurück zur Leitlinie… Abgesehen davon, dass nach der Vorveröffentlichung vor knapp einem Jahr inhaltliche Kommentare aus der Fachwelt nicht erwünscht waren und es dennoch harsche Kritik aus der Fachöffentlichkeit, von Elternverbänden und von der Bundesärztekammer gab, ist diese Leitlinie alles in allem auch ein seltsames Papier. Auffällig ist der sehr große Umfang dieser Leitlinie mit 450 Seiten. Inhaltlich hat sich trotz des Umfangs seit der Vorveröffentlichung des Entwurfs im März 2024 nicht wirklich etwas verändert. Nach wie vor orientiert sich die Leitlinie an den längst widerlegten Standards der Transgesundheitsorganisation WPATH. Ungewöhnlich ist die mitveröffentlichte Kritik der DGPPN, die die Präambel und etliche Teile der Richtlinie infrage stellt. Man erkennt hier an den einzelnen Kritikpunkten eindeutig, dass es den Kritikern um mehr Wissenschaftlichkeit und weniger Ideologie geht und stellt sich die Frage: Warum wurden diese Kritikpunkte nicht in die Leitlinie eingearbeitet?
Die Kritik anderer Mitarbeiter an der Leitlinie wie zum Beispiel Alexander Korte oder Florian D. Zepf wurde hingegen nicht mit veröffentlicht. Seltsam mutet auch eine in Kapitel 5 als Quelle für juristische Fragen zur Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger angegebenes noch unveröffentlichtes Rechtsgutachten an.
Die Präambel ist durch und durch ideologisch eingefärbt und erscheint fast wie von Transaktivisten selbst geschrieben. Der erste und wesentliche Fehler, der sich allerdings auch in der internationalen medizinischen Fachwelt zeigt, ist die “konsequente Entpathologisierung“ der Geschlechtsdysphorie. Wie kann man etwas, das keine Krankheit sein darf, medizinisch mit Arzneimitteln und Operationen therapieren? Der zu Anfang der Präambel beschrieben Paradigmenwechsel war schon ein gravierender Fehler. Die Konsequenz, mit der diese “Entpathologisierung“ in der Leitlinie umgesetzt wurde, spricht jedoch auch ein Stück weit für die deutsche Gründlichkeit. Den Betroffenen wird diese hier allerdings wenig helfen.
So bleibt den Ärzten ihre Therapiefreiheit, ihr Berufsethos und die vernünftigen Beschlüsse des Ärztetages, die wesentlich klarer nachvollziehbar und weniger ideologisch geprägt sind als die neue Leitlinie.
Wie Till Randolf Amelung formulierte: „Auch ein Leitliniendokument mit vielen bunten Logos auf dem Deckblatt wird im Ernstfall nicht vor möglichen Gerichtsprozessen wegen Behandlungsfehlern schützen.“
Am kommenden Donnerstag kommen in Berlin auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie einige Kritiker der Leitlinie: Veit Roessner, Florian D. Zepf und Till Randolf Amelung zu Wort.
Ein Übersichtstext zur Geschlechtsdysphorie und ihrer medizinischen Behandlung ist hier.