„Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie Jude sind“

Menachem Amitai Foto: Hartung-Gorre Verlag

Menachem Amitai ist ein in Freiburg lebender Psychoanalytiker. Im Alter von 86 Jahren hat er eine spannende, kurze Lebensgeschichte vorgelegt, die ich mit großer innerer Anteilnahme gelesen habe. Von unserem Gastautor Roland Kaufhold

Dass der Autor Jude ist lässt sein Name vermuten. Dass sein Leben in Deutschland, wohin der 1938 in Tel Aviv Geborene mit 17 Jahren auswanderte, nicht frei von Komplikationen ist, ist naheliegend.

Der Buchtitel, in dem Menachem Amitai eine Reaktion eines Hochschullehrers auf ihn widergibt, könnte erwarten lassen, dass das Buch vor allem Schwere vermittelt. Dem ist nicht so, zumindest für mich nicht.

1938 wird der Autor als Menachem – Der Tröster – in Tel Aviv geboren. Er hat eine ältere Schwester und einen vor ihm geborenen Zwillingsbruder. Auf beide Themen kommt er in seiner mit lakonischer Freude und Ironie geschriebenen Erinnerungen immer wieder, psychoanalytisch deutend, zu sprechen.

Bereits Amitais Urgroßvater war 1879 als Jugendlicher nach Palästina übersiedelt. 1880 lebten dort erst 26.000 Juden. Antisemitische Pogrome in Osteuropa verstärkten die Einwanderungswellen von Juden nach Palästina. Auch sein Großvater wanderte 1883 14-jährig mit seinen zwei Brüdern nach Palästina ein. Er organisierte Kutschendienste von Jaffa nach Petach Tikva und starb 1940, zwei Jahre nach der Geburt des Autors. Man erahnt bereits jetzt: Wer sich mit der Biografie dieses deutsch-israelischen Psychoanalytikers beschäftigt, erfährt auch viel über die Geschichte Israels und dessen Vorgeschichte in Palästina.

Hitler zu töten…

Die Familienlegende erzähle, so Amitai, dass sein Opa ihn besonders geliebt und auch beauftragt habe, Hitler zu töten. Diese Aufgabe habe er nicht erfüllt, aber durch sein Leben in Deutschland dessen „Traum vom judenfreien Deutschland und Europa“ durchkreuzt“ (S. 11). Solche lakonischen Verweise durchziehen seine eindrücklichen Lebenserinnerungen. Der in Deutschland lebende Psychoanalytiker könnte als ein mit sich sehr zufriedener Mensch erscheinen, der sich zeitlebens in Deutschland sicher fühlte. Dies, so möchte man bei der Lektüre vermuten, ist jedoch nur eine Seite der Lebens-Medaille.

Sein aus Warschau gebürtiger Vater Mosche übersiedelte 1932 nach antisemitischen Erfahrungen und intensiven Sprachstudien nach Palästina. Dieser Entschluss rettete ihm sein Leben: Fünf seiner sieben Geschwister wurden in Auschwitz vergast.

Amitai beschreibt die Belastungen in seinem Familienleben, seine Konkurrenz zu seinem Zwillingsbruder, aber auch die Gewalt in der Erziehung durch seinen Vater. Mit 13 Jahren habe er zurückgeschlagen, seitdem sei ihre Beziehung unterkühlt gewesen. Seine 3 ½ Jahre ältere Schwester Nechama war für ihn durch ihre Nähe eine seelische Rettung. Nechama wurde in Israel Lehrerin. Deren Tochter Orna wurde zu seiner Ziehtochter.

1995, Amitai führte seinerzeit als Psychoanalytiker Supervisionen an einer Klinik durch, wurde seine Schwester gemeinsam mit sechs weiteren Israelinnen durch ein Bombenattentat von Palästinensern in einem Bus ermordet. Er, der sich seinerzeit an israelisch-palästinensischen Versöhnungsversuchen in Deutschland beteiligt hatte, beschreibt in persönlicher Weise seinen abgrundtiefen Schock und seine Trauer über die Ermordung seiner geliebten Schwester. Er brauchte Monate, um sein Leben wieder fortführen zu können.

Beziehungsabbrüche

Seine Jugend war durch Beziehungsabbrüche geprägt. Uneinfühlsame Reaktionen einer  Lehrerin führten bei Amitai zu einem Schulabbruch. 1952 verließ er 14-jährig sein Tel Aviver Gymnasium und arbeitete in der Landwirtschaft. Sein Bruder hingegen machte eine gradlinige Karriere, er wurde später Orientalist und war in den 1970er Jahren an – formal illegalen – Geheimgesprächen zwischen einigen israelischen und palästinensischen Intellektuellen in Europa beteiligt. Die bekanntesten waren Uri Avnery und Issam Sartawi. 1983 wurde Sartawi deswegen von radikalen Palästinensern in Portugal ermordet (Kaufhold 2003).

1956 folgte eine Zeit bei der Armee, Amitai kämpfte auch im Suezkrieg. Bei der Armee fühlte er sich nicht wohl, es gelang ihm ein vorzeitiges Ausscheiden mittels psychiatrischer Gutachten. Für einen Israeli eine wenig rühmliche Entscheidung. Es folgte eine Tätigkeit als Schauspieler, auch dies misslang. „Ich hatte keine Zukunftsvisionen, alles schien sinnlos zu sein.“ (S. 28)

Die israelische Psychoanalytikerin Gerda Barag

Er hörte von der Psychoanalyse und machte, obwohl er kein Geld hatte, eine Psychoanalyse bei Gerda Barag (1909-1981). In Berlin medizinisch und psychoanalytisch ausgebildet war diese 1935 nach Palästina emigriert, wo sie bei dem Berliner Emigranten Moshe Wulff ihre Lehranalyse machte.

Für Amitai war diese Analyse, dies durchfließt seine gesamten Lebensdarstellungen, lebensrettend. Er schildert einige Szenen aus seiner Therapie, die durch eine unorthodoxe, lebenszugewandte Arbeitsweise geprägt war. So rauchte Barag bei den Therapiesitzungen, er gleichfalls, was ihm „das Gefühl von Intimität und Gleichberechtigung“ vermittelte (S. 30). Seine Analytikerin reagierte mit ausgeprägter Empörung auf seine Erzählung, dass seine Mutter seine Briefe öffne. Autonomie ist ein Wert, dies vermittelte ihm Gerda Barag.

1959 holte er sein Abitur nach, zuvor hatte er seiner Analytikerin erzählt, dass er selbst Analytiker werden wolle. Diese entgegnete ihm, dass sie auch glaube, dass ihm dies gelinge.

Ein Nachtrag zu Gerda Barag: Gerda Dina Barag (1909-1981) wurde in Berlin als Tochter eines Arztes geboren und war seit ihrer Jugend in der zionistischen Bewegung aktiv. Sie studierte in Berlin Medizin, wo sie ihren aus Russland stammenden Mann, den Arzt Gershon Barag (1902-1957) kennenlernte. Dieser hatte seit seiner Kindheit in Palästina gelebt und machte in Berlin bei Jenö Harnik seine Lehranalyse. Nach der Machtübernahme Hitlers brach sie ihr Medizinstudium ab, ging nach Zürich, kehrte dann doch wieder nach Berlin zurück, um ihr Medizinstudium und ihre Promotion 1935 abzuschließen.

Ende 1935 emigrierten die Barags über die Schweiz und London nach Palästina und ließen sich in Tel Aviv nieder. Von 1935 – 1938 machte sie bei Moshe Wulff ihre Lehranalyse und wurde 1946, wie bereits ihr Mann, ordentliches Mitglied der Palestine Psychoanalytic Society, ab 1948: Israel Psychoanalytic Society / Hahevra Hapsychoanalitit Be-Israel.  Sie lehrte am Israel Psychoanalytic Institute und an der School of Psychiatry der Universität Tel Aviv. Ihre 1956 veröffentlichter Beitrag über Spätreaktionen bei KZ-Befreiten zu, in dem sie Shoah-Überlebende erstmals als gesonderte Gruppe behandelte, ist eine Pionierarbeit zu diesem Thema. (nach: Psychoanalytikerinnen o. J.).

Deutschland

Amitais Beziehung zu seinem Vater besserte sich. Gleich nach dem Abitur ging er zu einem Verwandten nach Deutschland, um Medizin zu studieren. In Tel Aviv, wo die Universität seinerzeit noch nicht einmal eine medizinische Fakultät hatte, war dies nicht möglich. Es folgten schwere Jahre, Studienabbrüche, innere und äußerliche Kämpfe: „Ich kam 1959 nach Deutschland, kaum 14 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, voller Ängste und Ungewissheit über Deutschland und die Deutschen, die ich kaum verdrängen konnte.“ (S. 40)

Es folgten Begegnungen mit Deutschen, aber auch mit arabischen Studenten „die mich unisono boykottierten noch vor dem 6-Tage-Krieg 1967.“ (S. 42)

In gelassener, aufrichtiger Weise beschreibt der Autor Erlebnisse aus seiner psychoanalytischen Ausbildungszeit und Tätigkeit in München, Tübingen, Gießen und Berlin.

Mehrfach erwähnt Amitai die standesinternen Diskussionen über die Vertreibung der jüdischen Psychoanalytiker durch ihre „arischen“ Kollegen in der Nazizeit (Kaufhold & Hristeva 2021) ab den 1970er Jahren. Es waren, nach Jahrzehnten des Schweigens, Versuche, das Schweigen und die Komplizenschaft zum Nationalsozialismus zumindest ansatzweise zu erschüttern. Einige diese angegriffenen Psychoanalytiker kannte er persönlich. Diese Forderungen seien „berechtigt und notwendig“ gewesen; dennoch sei Carl Müller-Braunschweig – einer der am stärksten Attackierten – „einer massiven und verletzenden Verurteilung“ ausgesetzt gewesen. (S. 43) Dessen Sohn Hans hatte in Gießen ab 1968 Amitais ersten psychoanalytischen Behandlungen supervisiert. Der Autor sprach zur inneren Urteilsbildung auch mit Gerda Barag, die Carl und Ada Müller-Braunschweig noch aus ihrer Zeit in Berlin gekannt hatte, vor ihrer Flucht nach Palästina. Dennoch könnte seine Parteinahme für Müller-Braunschweig etc. verwundern – und das Gefühl eines großen  Zweifels hinterlassen.

Der Autor thematisiert die Diskussionen der 1990er Jahre um Gerhart Scheunert, von 1956 – 1964 DPV-Vorsitzender, der seine Mitgliedschaft in der NSDAP immer verschwiegen und die freiwillig gleichgeschaltete Psychoanalyse in der Nazizeit (Peglau 2013) vor allem als ein Opfer dargestellt hatte (vgl. Friedrich 2018).[i]

1993 – da war Amitai 55 Jahre und gewissermaßen in Deutschland und in der Psychoanalyse schon seelisch verankert – verfasste Amitai gemeinsam mit H. Müller-Braunschweig eine standesinterne Stellungnahme zur Diskussion um Scheunert (vgl. Friedrich 1993 S. 30). In seinen autobiografischen Erinnerungen geht er auf diese Debatte ein. Er habe 1993 den 86-jährigen Scheunert persönlich in dessen Senioren-Residenz aufgesucht. Zeitgleich fand die Gründungsversammlung einer Gruppe jüdischer Psychoanalytiker in dem gleichen Ort statt, in dem Scheunert wohnte. Amitai war sehr beeindruckt von diesem Gespräch: „… Er war der erste ältere Deutsche, der mit mir offen und ehrlich über seine Fehler in dieser Zeit gesprochen hat.“ (S. 45)

Er habe sich auch besonders für die verbandsinterne Diskussion über Scheunert interessiert, weil dieser auch der Lehranalytiker seines eigenen Lehranalytikers Horst-Eberhart Richter gewesen und somit „mein „analytischer Großvater““ gewesen sei (S. 45).

Als er nach dem Gespräch seine psychoanalytisch-jüdische Gruppe aufsuchte und von dem Treffen berichtete, herrschte dort daraufhin „betretenes Schweigen“ (S. 45). Er glaube nicht, dass er seine „neuen jüdischen Freunde“ habe „überzeugen“ können. Aber seine Sichtweise wurde respektiert. Dies war für ihn die Voraussetzung, um sich seiner jüdischen Gruppe nun anzuschließen.

Andere Begegnungen mit Deutschen verliefen für Amitai weniger glücklich. Ein älterer, von ihm namentlich benannter Prüfer bei seinem Psychologie-Vordiplom (1963), war bereits während der Nazizeit Hochschullehrer in Gießen und sowohl „in der Partei“ als auch „in der SA“ gewesen (S. 46). Amitai, dem Gespräche mit älteren Deutschen durchgehend unangenehm waren, versuchte so wenig Kontakt wie möglich mit seinem Uni-Prüfer zu haben. 1960 war „Rassenlehre“ in Tübingen noch Teil des Psychologie-Examens „für die Vordiplom-Prüfung“ (S. 46).

Nach der bestandenen Prüfung kam der Hochschullehrer, leicht angetrunken, auf ihn zu und sagte ihm: „Herr Amitai, ich nehme es  Ihnen nicht übel, dass Sie Jude sind!“ (S. 47). Dies beeindruckte ihn so sehr, dass er dies als Buchtitel wählte. Amitai war noch zu der ironischen Replik fähig: „ Herr Professor, da fällt mir aber ein Stein vom Herzen!“ (ebd.) „Heute“, so fügt Amitai hinzu, könne er „ehrlich sagen, dass er mir einfach nur egal ist.“ (ebd.) Auch bei dieser Szene ist eine Erinnerung an den israelischen Psychoanalytiker Zvi Rix und dessen berühmtes Bonmot – „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen“ – hilfreich.

Sein erwähnter Psychologie-Prüfer sei so freundlich gewesen, so fügt Amitai ironisch hinzu, ihn „nicht über Rassenlehre“ zu befragen (S. 46).

Während seines Lebens in Deutschland unternahm Amitai immer wieder Versuche der Solidarität mit Israel, so 1967 während des 6-Tage-Krieges, als er versuchte, dort Verletzten medizinisch zu helfen.

Ein Jahr später die Ambivalenz gegenüber „den“ 68ern: Selbstverständlich war ihm ein Kanzler Kiesinger unsympathisch. Aber postulierte Bemühungen, die Nazizeit zu „bearbeiten“, waren nicht „direkt mein Anliegen“ (S. 61): Er bedurfte als Israeli  nicht solcher Bemühungen, nahm aber mit großer Sorge das zeitgleiche Auftreten von vorgeblich „linken“, dogmatischen Gruppen wahr, die offen „antiisraelisch, ja sogar antisemitisch“ waren (ebd.). Von ihnen wurde er bei Vorträgen massiv attackiert.

Der Tod seines Vaters wird als eine schmerzhafte Zäsur beschrieben. Dieser starb in Israel in seinen Armen. Dies empfindet Menachem Amitai als eine seiner wichtigsten Erfahrungen, die er seiner Analyse verdanke.

1972 ging er nach Freiburg zu seinem hoch geschätzten Freund und Kollegen Johannes Cremerius. Freiburg wurde nun seine Heimat, zugleich blieb der Kontakt zu Israel erhalten. Differenzen mit psychoanalytischen Kollegen und Gruppierungen berührten ihn zunehmend weniger. Er hatte fand seine jüdische Identität, inmitten einer teils feindseligen Umgebung. So hatte das Geigespielen in einem Orchester für ihn zeitweise eine größere innere Bedeutung als standespolitische Bemühungen. 1959 hatte er seine Geige mit nach Deutschland genommen, verkaufte diese jedoch für 50 DM, um etwas zu Essen zu haben.

Eindrücklich und in knapper Weise beschreibt er seine Beziehungen zu seinen KollegInnen Paula Heimann und Joyce McDougall.

Die Heirat und die späte Geburt von zwei Kindern – denen er jüdische Namen gab – beschreibt Amitai als tiefe innere Erfahrung. Die Kinder traten – ihre Mutter war ja keine Jüdin – als Jugendliche bewusst und aus freien Stücken zum Judentum über. Ihre Ausbildung machten sie in den USA.

Eindrücklich beschreibt Amitai seine Brieffreundschaft mit dem jüdischen Emigranten und Kabarettisten Georg Kreisler, der nach Österreich – das er 1936 14-jährig verlassen musste – zurückkehrte, obwohl der dem Antisemitismus dort fortdauernd begegnete und diesen in seinen Liedern beschrieb.

In persönlicher Weise schreibt Amitai über sein Judentum: „Meine Identität ist jüdisch. Sie stand auch nie zur Debatte.“ (S. 118) Die Religion spielte für ihn keine sonderliche Rolle. In Israels Kämpfen fühlte er sich als Israeli bedroht und bekämpft, seine Gegner waren für ihn „Araber, nicht Muslime“ (ebd.). Antisemitische Äußerungen, die er in Deutschland verschiedentlichen hörte, berührten ihn kaum noch: „Ich konnte mich ja zur Not verteidigen.“ (S. 119)

Seine Eltern, die väterlicherseits einen Großteil ihrer Familie durch die Shoah verloren hatten, sprachen zu Hause nicht über den Holocaust. Sie sprachen über die noch lebenden Verwandten, erwähnten jedoch nicht die von den Deutschen Ermordeten. Erst 1948 hörte er von einem Verwandten, der als Partisan gegen die Deutschen gekämpft hatte: „Erst in diesem Zusammenhang hörten wir das Wort „Shoah“. (S. 119) Gegen seine Übersiedlung nach Deutschland wehrte sich sein Vater, der nie einen Hass gegen die Deutschen gezeigt habe, nicht.

Der Antisemitismus sei auch durch die Gründung des Staates Israel nicht verschwunden. Dennoch bleibe die Staatsgründung Israels der wichtigste Akt der Juden, der allen Juden, auch denen in der Diaspora, Sicherheit und Autonomie gebe: „Von nun an mussten die dort lebenden Juden niemandem dankbar sein, weil sie dort als gleichwertige Bürger leben.“ (S. 120). Heute sei der Staat Israel das Hauptangriffsziel von Antisemiten, weniger der Jude als Individuum. Ausdrücklich erwähnt Amitai das Hamas-Pogrom vom 7.10.2023 als scharfe Zäsur. Er verleugne nicht die Gefährdung seiner eigenen Familie, könne jedoch jederzeit die Koffer packen: „Und ich habe eine Adresse, wohin ich flüchten kann, nämlich Israel.“ (S. 121)

Am Ende beschreibt der Autor noch einmal den tiefen Schock, den die brutale Ermordung seiner in Israel lebenden Schwester Nechama durch arabische Terroristen im Sommer 1995 in ihm auslöste: „Der einzige Grund für diesen Mord war die Tatsache, dass sie eine Jüdin war. Weder hatte sie etwas gegen Araber, noch tat sie etwas gegen sie. Damit reiht sich dieser Mord ein in die Ermordung der Familie meines Vaters. Auch sie wurden ermordet, weil sie Juden waren (S. 122f.).

Nun spürte er auf brutale Weise, dass er „plötzlich völlig schutzlos wurde gegen die Angst.“ (S. 123)  Die Angst blieb noch viele Jahre. Und der Mittfünfziger erinnerte sich nun an seinen Vater, „der uns vor unserer Angst um seine Familie in Polen geschützt hatte, bis wir in der Lage waren, diese Angst zu ertragen.“ (ebd.)

14 Jahre zuvor hatte er die Tochter seiner Schwester während deren Medizinstudium in Israel finanziell unterstützt. Als junge Ärztin wurde diese zum Krankenbett Gerda Barags gerufen. Sie wusste, welche Bedeutung diese für ihren Onkel Menachem Amitai hatte und pflegte diese bis zu deren Tod.

Auch von seiner Freundin Marie Langer, eine aus Wien vertriebene linke Psychoanalytikerin, die in den 80er Jahren die Sandinisten in Nicaragua unterstützt und für diese Geld durch Vorträge in Zürich und Freiburg gesammelt hatte (Kaufhold 2020), vermochte er sich telefonisch zu verabschieden: „Wir telefonierten in dieser Zeit mehrmals miteinander, bis sie mir eines Tages sagte, dass sie zu müde sei, um zu telefonieren. Ich hörte noch wie der Hörer auf den Boden gefallen ist. Am nächsten Tag starb sie.“ (S. 124)

Am Ende blickt er auf sein Leben zurück. Als er mit 19 Jahren die israelische Armee verlassen habe sei er „ein Loser“ gewesen. „Ich hatte schon eine Reihe von Schulabbrüchen hinter mir und keine Vorstellung, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Es war mein Glück, von der Psychoanalyse gehört zu haben. (…) Die Analyse veränderte mein Leben völlig.“ (S. 126)

Sein Buch sei ein Rückblick, auch auf die Psychoanalyse, der er viel verdanke, und insofern auch ein Abschied: „Meine Heimat war und ist Israel, zu Hause bin ich aber in Deutschland.“ (S. 127)

Menachem Amitai: „Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie Jude sind.“ Ein jüdischer Psychoanalytiker in Deutschland. Hg. Von Erhard Roy Wien, Hartung-Gorre Verlag, Konstanz, 134 S., 24,80 Euro, Bestellen?

LESEPROBE

Literatur

Kaufhold, R. (2003): Uri Avnery: Ein Porträt. In: Uri Avnery (2003): Ein Leben für den Frieden. Palmyra Verlag, Heidelberg, S. 258–287.
Kaufhold, R. (2012): Der Psychoanalytiker Sammy Speier (2.5.1944 – 19.6.2003): Ein Leben mit dem Verlust. Oder: „Kehrt erst einmal vor der eigenen Tür!“. In: Kaufhold, R. & B. Nitzschke (Hg., 2012): Jüdische Identitäten nach dem Holocaust in Deutschland. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung H. 1/2012, S. 96-112.
Kaufhold, R. (2020): Mimi & Els – Stationen einer Freundschaft, haGalil, 26.7.2020: https://www.hagalil.com/2020/07/fallend/
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): „Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“ Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In: Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021 (Gießen: Psychosozial Verlag), S. 7 – 66.
Friedrich, V. (2018): In eigener und fremder Sache. Erinnerungen und Gedanken zu Gerhart Scheunert, Luzifer Amor, 32. Hg, H. 62, 2018, S. 1-47.
Peglau, A. (2013): Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Psychoanalytikerinnen in Israel: Gerda Barag (1909-1981). In: Psychoanalytikerinnen. Biografisches Lexikon (Hrsg.: Brigitte Nölleke): https://www.psychoanalytikerinnen.de/israel_biografien.html

[i] Friedrich (2018) zitiert in seiner Studie über Scheunert dessen sich und die Standesgeschichte idealisierenden Äußerungen über die vorgebliche Verfolgung der Psychoanalyse durch den Nationalsozialismus, die doch zuvörderst eine freiwillige Selbstgleichschaltung unter Ausschluss aller ihrer jüdischen Kollegen war (vgl. Peglau 2013): „Die Psychoanalytiker und ihre Institute gehörten zu denen, die von der nationalsozialistischen Führung besonders gehaßt und verfemt wurden. (…) Schon 1933 mußte der größte Teil der Berliner Psychoanalytiker emigrieren; die zunächst noch verbliebenen jüdischen Mitglieder mußten im Dezember 1935 endgültig ausscheiden.“ (Friedrich 2018, S. 10)

 

Der Text erschien bereits auf Hagalil

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