Es ist eine seltsame Diskrepanz: Über kaum etwas scheint heute so viel Einigkeit zu bestehen, wie darüber, am Ende des Lebens nicht leiden zu wollen. Der Satz „Ich möchte später nicht an Schläuchen hängen“ ist Allgemeingut. Und dennoch gibt es viele schwerkranke, demente Menschen, die nicht mehr sprechen können, nicht mehr essen können, die künstlich am Leben erhalten in den Pflegeheimen und Krankenhäusern liegen. Es kostet viel Geld, es ist schmerzhaft anzusehen. Das nicht zu wollen, ist ein nachvollziehbarer Wunsch.
Und doch hat diese Selbstverständlichkeit, mit der Viele bereit sind, auf das Leben zu verzichten, für mich etwas Leichtfertiges. Man sollte doch glauben, die Bereitschaft zu sterben würde nur im äußersten Notfall bestehen. Es erschiene doch nur natürlich, wenn die Leute sicherstellen wollten, dass ja nicht versehentlich zu früh die Hilfen eingestellt werden. Doch der Satz „Ich hoffe, die Medizin ermöglicht mir ein möglichst langes Leben“ ist sehr viel seltener als der mit den Schläuchen.
In einem Gerichtsurteil des Oberlandgerichts München wurde im letzten Monat ein Arzt zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt, weil er eine Magensonde bei einem schwerst-dementen Mann nicht entfernt hat. Geklagt hat der Sohn, der den Schmerzensgeldanspruch geerbt hat (ein Erbe, das dem Laien seltsam erscheint, Juristen aber normal finden). Der mutmaßliche Wille des Verstorbenen ist nicht bekannt. Es gab keine Patientenverfügung. Der Patient hatte einen Betreuer, mit dem der Arzt besprochen hatte, die Magensonde zur künstlichen Ernährung zu legen. Dies wurde auch nicht beanstandet. Wohl aber hätte der Arzt in regelmäßigen Abständen mit dem Betreuer erörtern müssen, ob diese Maßnahme weiterhin aufrecht erhalten werden soll. Nach Ansicht des Sohnes habe die Sonde zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens seines Vaters ohne Aussicht auf Besserung des gesundheitlichen Zustands geführt. Der Patient habe nur noch verkrampft im Pflegebett gelegen, schwer gelitten und am Leben nicht mehr teilgenommen. Die künstliche Ernährung habe in diesem Zeitraum einen rechtswidrigen körperlichen Eingriff und damit einen Behandlungsfehler und eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts seines Vaters dargestellt.
Tatsächlich wäre die Anlage einer Magensonde nach den geltenden Leitlinien nicht indiziert gewesen, so dass der Arzt nicht den fachlichen Standards gerecht gehandelt hat. Zumindest insoweit er die Fortsetzung der Maßnahme nicht regelmäßig mit dem Betreuer besprochen hat, denn der Patient (oder in seiner Vertretung der Betreuer) kann sich nach Abwägung der Vor- und Nachteile natürlich auch für eine nicht-indizierte Behandlung entschließen.
Daher liegt eine Pflichtverletzung des Arztes vor, denn er hätte sich mehr bemühen müssen, den Betreuer über die Sonde aufzuklären und den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln.
Ob er aber, bei Unkenntnis dieses Willens, nun hätte für oder gegen die Sonde entscheiden müssen, ist keine leichte Frage. Es mutet seltsam an, wenn der Arzt Schmerzensgeld dafür zahlen soll, dass der Betroffene an seiner schweren Krankheit gelitten hat. Der Arzt hat diese Schmerzen nicht verursacht. Sie sind Teil des Schicksals dieses Mannes. Alles, was der Arzt sich hat zuschulden kommen lassen, ist, ihn nicht sterben zu lassen. Kann man von unterlassener Hilfeleistung sprechen, wenn man jemanden am Leben erhält? Könnte, in der Folge dieser Logik, vielleicht sogar verklagt werden, wer davon absieht jemandem Sterbehilfe zu leisten?
Das Urteil gibt keine Auskunft darüber, ob der Sohn versucht hat, mit dem Arzt über die Fortführung der künstlichen Ernährung zu sprechen. Wäre das geschehen, so hätte dies aber ja zwangsläufig zu der erforderlichen Erörterung der Maßnahme führen müssen. Man kann davon ausgehen, dass in der Urteilsbegründung erwähnt worden wäre, wenn der Arzt Versuche des Sohnes, diese Angelegenheit zu klären, abgewiesen hätte. Der Sohn hat also mutmaßlich erst nachträglich festgestellt, wie schlimm er das Leiden seines Vaters findet. Der Sohn war juristisch nicht berechtigt oder verpflichtet, die Therapie zu besprechen, er war nicht der Betreuer. Aber menschlich und praktisch steht der Einmischung eines besorgten Sohnes in so einem Falle nichts im Wege.
Sieht man von dem gerichtlich zweifelsfrei festgestellten Fehler ab, die Ernährung ohne wiederkehrende Erörterung fortzusetzen, zeigt sich durchaus eine fragwürdige Haltung in dieser Klage. Allein der Vorwurf „Sie haben meinen Vater am Leben erhalten“ hätte doch vor zwanzig Jahren noch sehr ungewöhnlich geklungen. Es ist gut, dass heutzutage der Patientenwille so viel höher geschätzt wird als damals. Dass eine Patientenverfügung genauso viel zählt, wie eine Willensäußerung bei vollem Bewusstsein. Und auch, dass – falls so eine Verfügung fehlt – die Behandler verpflichtet sind, möglichst gründlich den mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu ermitteln.
Wenn so ein Wille aber nicht gefunden werden kann, sollte die näherliegende Wahl sein, den Menschen nicht leben zu lassen? Kann man, angesichts der vielen Talkrunden und Stammtischgespräche, in denen „nicht an Schläuchen“ gehangen werden möchte, davon ausgehen, dass man heute im Zweifel lieber tot sein will? Vielleicht ist es eine Folge der Durchkommerzialisierung unseres Alltags, wenn sogar das eigene Leben so bedenkenlos entsorgt werden soll. Für jede Alltagslast gibt es eine technische Antwort, für jeden Wunsch einen Dienstleister, für jede Lebensfrage einen Coach. Dann bitte auch für den Tod eine komfortable Lösung.
Es ist in unserer Wohlfühlgesellschaft schwer zu ertragen: Aber manchmal sind Menschen mit ihrem Schicksal alleine. Das Dilemma, das sich am Lebensende ergibt, kann nicht ausgelagert werden. Auch ein Betreuer kann nur mutmaßen, wie es in einem Menschen aussieht, der nicht mehr sprechen kann. Und so dürfte meines Erachtens kein Anspruch darauf bestehen, dass ein Arzt Maßnahmen einstellt, solange er nicht sicher ist, damit dem Wunsch des Patienten zu entsprechen. Denn auch der Arzt ist ein Mensch und kann nicht den Tod eines anderen auf sich nehmen.
Der Kläger in genanntem Prozess hat den Arzt übrigens auch auf Schadensersatz für die Kosten der künstlichen Ernährung verklagt, die er zusätzlich hatte, weil sein Vater zu lange lebte. Das wurde nicht anerkannt, da er die Mehrausgaben nicht nachweisen konnte. Wenigstens hat er keine Fahrtkosten für die Besuche im Pflegeheim geltend gemacht.
Menschen verklagen Ärzte heutzutage auch auf Schadenersatz, wenn sie versehentlich ergebnislos im Wartezimmer warten (in dem Fall war leider der Impfstoff nicht vorrätig). Es muss Entschädigung für erlittenes Unrecht geben und auch Ärzte machen unverzeihliche Fehler, für die sie sich vor Gericht rechtfertigen sollen. Wenn sie aber mit Klagen rechnen müssen, weil sie Menschen am Leben lassen oder weil sie einen Impfstoff nicht vorrätig haben, dann fragt sich, ob sie ihre Arbeit noch machen können. Und ob sie sie noch lange machen wollen.
Ich sage nicht, dass jeder, der lebensverlängernde Maßnahmen ablehnt, leichtfertig entscheidet. Es gibt gute Gründe, Angst vor Leid und Entwürdigung zu haben und je älter man wird, desto drängender werden diese Fragen. Aber gerade daher sehe ich den Trend zu Baukastenantworten kritisch.
Ich will so lange leben, wie möglich. Für mich kann nichts schlimmer sein als das Nichts. Das ist meine persönliche Meinung. Ich will jeden Schlauch und jede Sonde, und wenn ich nur noch daliege und nichts mehr tun kann. Danach ist alles weg. Jeden Atemzug will ich vorher mitnehmen.
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Vor allem wenn sich der Verstand umwölkt, möchte ich nicht an Schläuchen hängen.
Lt. OLG München hätte man den schwerst dementen Mann verhungern lassen müssen.
Unerträgliche Abzockmentalität: der Sohn kümmert sich zu Lebzeiten nicht um den Vater, zieht sich aus der Verantwortung, ein Betreuer muss her. Aber nach Tod des Vaters auf der Matte stehen, wenn ein paar Euros herausgeholt werden können.
Hallo Herr von Cube, es ehrt Sie, dass sie sich trauen zu dieser schwierigen und oft tabuisierten Frage, der medizinischen Versorgung von Sterbenden einen Beitrag zu verfassen.
Gerade weil die Thematik eben nicht oberflächlich behandelt werden sollte, ist es umso bedauerlicher, dass ihr Beitrag so offensichtliche Fehler enthält, dass so Kommentare wie von "Heinerhirn" dabei rum kommen.
Das mindeste wäre, dass sie das Urteil verstehen. Nein der Arzt wurde nicht zu Schmerzensgeld verurteilt:
"Das Landgericht wies die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens ab, weil es zwar eine Pflichtverletzung des Behandlungsvertrages bejahte, aber weitere Voraussetzungen für Ansprüche nicht als nachgewiesen ansah. Gegen die Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt."
Es wurde eine Pflichtverletzung festgestellt. Um das Urteil zu verstehen muss verstanden werden, dass der Patient offenbar über einen sehr langen Zeitraum, das Urteil nennt die Jahre 2010 und 2011 künstlich ernährt wurde. Weiter heißt es im Urteil, der Patient sei im Zustand der "finalen Demenz" gewesen. Im Endstadium der Demenz, also im Sterben. Hier wurde also durch die Sondenernährung der Sterbeprozess aufgehalten. Die Pflichtverletzung des Arztes bestand darin, diesen Sachverhalt nicht eingehend und umfassend mit dem Betreuer zu erörtern. Auch wiederholt zu Erörtern, angesichst des langen Zeitraums.
Ich kann gut nachvollziehen, dass sie solange und so intensiv wie möglich leben wollen. Jeden möglichen Atemzug machen wollen. Das will ich auch.
Ich möchte aber auch sterben können. Durch technische MIttel, wie die Magensonde, können wir Menschen in den Sterbeprozess eingreifen, diesen verlängern, das Sterben hinauszögern, aber nicht verhindern. Wenn solche Maßnahmen, wie in dem verhandelten Fall ergriffen werden, hat der Arzt und dass ist das Entscheidende auch die Pflicht den Betreuungsbevollmächtigten, genau mit diesem Sachverhalt immer wieder zu konfrontieren. Deutlich zu machen, dass keine Heilung, Veränderung oder Verbesserung der Situation möglich ist, sondern die Behandlung dazu dient das Sterben zuverzögern, denn Verhindert werden kann es nicht.
Ich finde Sie machen es sich auch ein wenig einfach, wenn Sie die Ablehnung von Lebenserhaltenden Maßnahmen auf Angst vor Schmerz und Leid oder Entwürdigung reduzieren. Wir sollten festhalten, dass wir das Recht haben zu sterben. Es ist eigentlich eine Katastrophe, dass wir mit Patientenverfügungen und Betreuungsvollmachten dafür sorgen müssen, dieses Recht zu bekommen. Ja es gibt Situationen in denen Lebenserhaltende Maßnahmen ein Abwägungsprozess sind, bei dem vor allen der Wunsch des Patienten entscheidend ist. Hirn- und Wirbelsäulenverletzungen etc. Beim geschilderten Fall ging es aber um den Sterbeprozess. Es ist eben keine Seltenheit, dass Menschen am Leben erhalten werden, da es ein Verdienstmodell für Krankenhäuser ist. Es ist nämlich umgekehrt mit der Verwertungslogik. Menschen sollen nicht sterben, denn an einem Patienten mit künstlicher Beatmung oder Magensonde, verdient das Krankenhaus, der Sterbende bringt Geld. Insofern ist dieses Urteil geradezu wichtig, denn es nimmt Ärzte endlich in die Pflicht hier Verantwortungsbewußt zu handeln.
Danke für den ausführlichen Kommentar. Das LG hatte die Klage abgewiesen, das OLG in zweiter Instanz doch Schmerzensgeld zugesprochen, siehe auch das im Text verlinkte Urteil.
Ein interessanter Artikel mit einer klaren Stellungnahme des Autors.
Der Artikel weckt Ängste in mir:
Was passiert, wenn wir hilflos sind und nicht mehr selber entscheiden können?
Ich würde davon ausgehen, dass meine Vertrauenspersonen bzw. gesetzliche Vertreter sich um mich kümmern und meine Interessen wahrnehmen. Welche Pflichten hat bspw. ein Betreuer?
Von einem Betreuer hätte ich auch eine aktive Pflicht zum Nachfragen über den Gesundheitszustand erwartet. Man muss ja nicht warten, bis man informiert wird, sondern kann auch Infos einfordern
.
Wie immer gilt: Follow the money
Eine Person, die nicht mehr selbständig entscheiden kann und evtl. neben Versicherungen, die für sie zahlen, auch noch Privatvermögen hat, bietet natürlich auch Verdienstmöglichkeiten:
Renten/Pensionen laufen weiter.
Viele, die sich kümmern werden bezahlt.
Dann gibt es noch potenzielle Erben ….
Für mich spricht viel für eine klare eigene Willensäußerung, die dann auch regelmäßig überprüft werden muss.
Bei einem Vordruck war mir nur aufgefallen, dass viele Formulierung insbesondere für ältere Menschen nur schwer verständlich waren.
Die Formulierungen lauteten ungefähr so:
Ich will, dass … nicht passiert.
Es mussten immer wieder negative Formulierung bestätigt werden. Warum? Wie viele Willensäußerungen werden überhaupt richtig eingetragen?
"Wie immer gilt: Follow the money
Eine Person, die nicht mehr selbständig entscheiden kann und evtl. neben Versicherungen, die für sie zahlen, auch noch Privatvermögen hat, bietet natürlich auch Verdienstmöglichkeiten:
Renten/Pensionen laufen weiter.
Viele, die sich kümmern werden bezahlt.
Dann gibt es noch potenzielle Erben …."
Wenn man zum Pflegefall wird zerfällt das eigene Vermögen recht schnell, von der Rente ganz zu schweigen und nach ein paar Jahren Heim gehen die Erben meistens leer aus.
@#5 Zero: Das Geld ist dann ja nicht weg, nur in anderen Taschen.
Dienstleistung kostet. Pflege, Betreuung etc. sind große Märkte.