
Die Definition von biologischem Geschlecht ist als Teil linker und rechter Identitätspolitik umkämpft. Nachdem US-Präsident Donald Trump per Dekret in staatlichen Dokumenten nur noch das biologische Geschlecht gelten lässt, meldet sich nun die Philosophin Judith Butler zu Wort – und zeigt, wie sehr sie selbst Teil des Problems ist. Von unseren Gastautor Till Randolf Amelung.
Eines der ersten Dekrete von US-Präsident Donald Trump, mit dem er queerer Identitätspolitik den Kampf ansagte, trug den Titel „Defending Women from Gender Ideology Extremism and Restoring Biological Truth to the Federal Government“ (zu Deutsch etwa: Verteidigung der Frauen vor dem Extremismus der Gender-Ideologie und Wiederherstellung der biologischen Wahrheit in der Bundesregierung). Die wichtigsten Inhalte dieses Dekrets sind: Die landesweite Festlegung, dass es biologisch nur zwei Geschlechter gibt – männlich und weiblich. Staatliche Dokumente wie Pässe und Personalakten sollen allein das biologische Geschlecht und nicht die selbst eingeschätzte Geschlechtsidentität widerspiegeln. Im Kern führt es dazu, dass Transpersonen ihren Geschlechtseintrag nicht mehr ändern lassen können, außerdem wurde der Marker „X“ für nicht-binäre Geschlechtsidentitäten wieder abgeschafft.
Nun hat sich dazu auch Judith Butler, die Grande Dame der Queer Theory, im London Review of Books geäußert und verurteilt Trumps Dekret scharf, denn wo von „Genderideologie“ die Rede ist, meint man auch Butlers Theorien von der sozialen Konstruiertheit des Geschlechts, die sie in ihrer berühmtesten Schrift „Gender Trouble“ darlegte. Butler will in ihrem aktuellen Text erklären, weshalb die biologische Definition von Geschlecht unzureichend sei. Hierbei kommt sie nicht über die Nennung umstrittener Thesen hinaus und demonstriert unfreiwillig, wie ihre ideologische Seite selbst Teil des Problems ist.
Im Kern bezieht sich die biologische Definition von Geschlecht beim Menschen auf die Gameten (Keimzellen zur Fortpflanzung). Das heißt, kleine und bewegliche Keimzellen (Spermien) sind biologisch männlich und die größeren, unbeweglichen Eizellen definieren das biologisch weibliche Geschlecht. Wenn Trump also per Dekret auf die biologische Definition von Geschlecht abstellt, ist diese gemeint.
Butler kritisiert daran:
„Es gibt zwei wesentliche Probleme bei der Verwendung von Gameten zur Definition des Geschlechts. Erstens überprüft niemand die Gameten zum Zeitpunkt der Geschlechtszuweisung, geschweige denn bei der Empfängnis (wenn sie noch nicht existieren). Sie sind nicht beobachtbar. Die Geschlechtszuweisung auf Gameten zu stützen, bedeutet daher, sich auf eine nicht wahrnehmbare Dimension des Geschlechts zu verlassen, wenn die Beobachtung die Hauptmethode für die Geschlechtszuweisung bleibt. Zweitens sind sich die meisten Biologen einig, dass weder der biologische Determinismus noch der biologische Reduktionismus eine angemessene Erklärung für die Geschlechtsbestimmung und -entwicklung liefern.
Wie die Society for the Study of Evolution in einem am 5. Februar veröffentlichten Brief erklärt, definiert der ‚wissenschaftliche Konsens‘ das Geschlecht beim Menschen als ein ‚biologisches Konstrukt, das auf einer Kombination von Chromosomen, Hormonhaushalt und der daraus resultierenden Ausprägung von Keimdrüsen, äußeren Genitalien und sekundären Geschlechtsmerkmalen beruht. Es gibt Variationen in all diesen biologischen Merkmalen, die das Geschlecht ausmachen.‘ Sie erinnern uns daran, dass ‚Geschlecht und Gender aus dem Zusammenspiel von Genetik und Umwelt resultieren.
Diese Vielfalt ist ein Kennzeichen biologischer Arten, einschließlich des Menschen.‘ Wechselwirkung, Interaktion und Ko-Konstruktion sind Konzepte, die in den Biowissenschaften weit verbreitet sind. Und im Gegenzug haben die Biowissenschaften einen beträchtlichen Beitrag zur Gender-Theorie geleistet, in der Anne Fausto-Sterling beispielsweise seit langem argumentiert, dass die Biologie mit kulturellen und historischen Prozessen interagiert, um unterschiedliche Arten der Benennung und des Lebens von Gender hervorzubringen.“
Die Pharmazeutin Dr. Antje Jelinek, Autorin eines in seiner Ausführlichkeit sehr lesenswerten Fachartikels zur Relevanz des biologischen Geschlechts in der Medizin, bemerkte gegenüber IQN zu Butlers Definitionsproblematik:
„Die Gameten-Definition ist die eindeutigste. Es geht aber immer darum, dass der Organismus auf deren Produktion ‚angelegt‘ ist. Dass funktionierende Gameten entstehen, ist nicht ausschlaggebend für die Definition. Womit sie hier versucht zu verwirren: Zur Befruchtung kann niemals jemand prüfen, welches Geschlecht entsteht, aber es entsteht eben in diesem Vorgang. Das ist meines Erachtens alles Ablenkung und tut nichts zur Sache. Und ja: Beobachtung ist allein ausschlaggebend für das biologische Geschlecht, es wird objektiv feststellt und ist biologisch festgelegt und eben keine individuelle Wahrnehmung.“
Der von Butler erwähnte Brief einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft als Beleg für ihre Argumentation soll suggerieren, dass diese auf breiten wissenschaftlichen Konsens beruht. Doch der US-amerikanische Evolutionsbiologe Jerry Coyne widerspricht und veröffentlicht einen Offenen Brief einer Fachkollegin, der von ihm und weiteren BiologInnen unterzeichnet wurde.
Darin heißt es:
„Wir sehen das Geschlecht jedoch nicht als ‚Konstrukt‘ an, und wir sind der Meinung, dass andere erwähnte humanspezifische Merkmale wie ‚gelebte Erfahrungen‘ oder ‚[phänotypische] Variationen entlang des Kontinuums von männlich bis weiblich‘ nichts mit der biologischen Definition von Geschlecht zu tun haben. […] Die universelle biologische Definition des Geschlechts ist die Größe der Gameten.
Wenn Sie und die Unterzeichner unseres Schreibens in diesen Punkten nicht übereinstimmen, dann war es falsch von den drei Gesellschaften, in unserem Namen zu sprechen und zu behaupten, dass es einen wissenschaftlichen Konsens gibt, ohne überhaupt eine Umfrage unter den Mitgliedern der Gesellschaft durchzuführen, um festzustellen, ob ein solcher Konsens existiert.
Die Realität zu verzerren, um einer Ideologie zu entsprechen, und die irreführende Behauptung eines Konsenses zu verwenden, um ihren Aussagen den Anschein wissenschaftlicher Autorität zu verleihen, schadet nicht nur, weil sie unsere Ansichten falsch darstellen, sondern schwächt auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft, das in den letzten Jahren rapide gesunken ist. Aus diesem Grund sollten sich wissenschaftliche Gesellschaften so weit wie möglich aus der Politik heraushalten, es sei denn, es handelt sich um politische Fragen, die den Auftrag der Gesellschaft direkt betreffen.“
Ideologischer Hintergrund der Attacken auf die nach wie vor gültige Gameten-Definition ist, dass Transpersonen und intergeschlechtliche Varianten darin als Abweichungen erfasst werden. Akademische Aktivistinnen wie Butler oder die Biologin Anne Fausto-Sterling, die sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit speziell für intergeschlechtliche Menschen einsetzte, wollten dazu beitragen, dies zu durchbrechen und stießen dabei auch auf eine hohe Resonanz unter Trans und Inter. Als Abweichung zu gelten, wird als Hindernis verstanden, sich als gleichwertig mit allen anderen Menschen zu erleben. Man hoffte außerdem, so auch andere Umgangsweisen in Staat oder Medizin nachdrücklicher begründen zu können.
All dies ist menschlich verständlich. Selbstverständlich war und bleibt es richtig, dass es zum Beispiel rechtliche Möglichkeiten zur Änderung des amtlich dokumentierten Geschlechtseintrags gibt oder medizinische Eingriffe zur Geschlechtszuweisung an intergeschlechtlichen Babys und Kindern geächtet, in Deutschland auch gesetzlich verboten sind. Hier ist in der Vergangenheit viel Leid entstanden. Doch wären solche Maßnahmen mit der biologischen Definition von Geschlecht über die Gameten unmöglich? Davon ist nicht auszugehen. Es würde auch andere Begründungszusammenhänge geben, um geschlechtszuweisende Operationen bei intergeschlechtlichen Menschen zu verhindern. Ebenso, um Transpersonen eine bessere gesellschaftliche Teilhabe mit Dokumenten zu ermöglichen, die zu ihrem Äußeren kongruent sind.
Es ging der queeren Seite aber um Definitionshoheit. In Sachen biologisches Geschlecht wurde dies über Geisteswissenschaften und die Politik versucht. Nun regt sich Widerstand in den Naturwissenschaften. In Großbritannien hat man mittlerweile auch in der Politik erkannt, dass etwas schiefgelaufen ist. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung von Alice Sullivan, Professorin für Soziologie am University College London, hat ergeben, dass öffentliche Einrichtungen – darunter der NHS, die Polizei und sogar das Militär – seit 2015 Informationen über die Geschlechtsidentität statt über das biologische Geschlecht sammeln. Infolgedessen seien „robuste und genaue Daten“ verlorengegangen, so der Bericht. Im Gesundheitswesen habe dies beispielsweise dazu geführt, dass PatientInnen, deren biologisches und Identitätsgeschlecht voneinander abwichen, in Notfällen nicht rechtzeitig korrekt diagnostiziert wurden.
„Identitätspolitik hat einen ehrenwerten Impuls, wenn es darum geht, Minderheiten vor jahrzehntelangen Diskriminierungen zu befreien. Wenn sich Identitätspolitik allerdings immer mehr von wissenschaftlichen Erkenntnissen entfernt, führt sie ein anti-aufklärerisches Eigenleben, das viele Bürger eher befremdet“, sagte Péter Ungár, Vorsitzender der ungarischen Grünen in einem Interview mit dem Magazin Cicero.
Im Ungarn unter Orbán ist der Widerstand gegen Identitätspolitik längst zu einem willkommenen Vehikel geworden, um vom Versagen der Regierung in Fragen wie zu hoher Lebenshaltungskosten abzulenken. In den USA wiederum haben die Fehlentwicklungen in linker Identitätspolitik in Form eines anti-aufklärerischen Eigenlebens dazu beigetragen, dass Trump und seine MAGA-Truppe die Regierungsgeschäfte übernehmen konnten und jetzt ungehemmt Identitätspolitik von rechts machen.
René Pfister, USA-Korrespondent des Spiegel, sagte dazu im Podcast „Acht Milliarden“ seines Kollegen Juan Moreno sinngemäß, dass es nicht danach aussehe, als kehre Trump zum Gegenpol von Identitätspolitik zurück, also einem klassisch liberalen Verständnis mit gemeinsam geteilter Wirklichkeit und einem Austausch von Argumenten auf einem „Marktplatz der Ideen“.
Letztlich hat dies auch für Minderheiten fatale Konsequenzen, denn jetzt wird ihnen rechtspopulistische Identitätspolitik aufgedrängt, die ihnen keinen Raum mehr zugesteht. Sei es, dass seltene Varianten von Intergeschlechtlichkeit im Dekret keine Berücksichtigung finden, was unmenschlich ist. Sei es, dass im US-Bundesstaat Arizona eine christliche Abgeordnete der Republikaner ein Gesetz vorschlägt, das Bestätigung einer Geschlechtsidentität bei Minderjährigen verbieten will und den Rahmen sehr weit auslegt – und damit in die persönliche Gestaltungsfreiheit eingreift, indem sich auch Friseursalons und Modegeschäfte strafbar machen könnten, wenn sie Minderjährigen gender-nonkonforme Frisuren oder Kleidung verkaufen.
Der Vorstoß in Arizona ist aber nicht zu verstehen, ohne die Entwicklungen rund um Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie zu kennen. Denn gerade auf diesem Feld wurde in den letzten Jahren die wissenschaftliche Evidenz zu Gunsten der Ideologie geopfert, mit konkreten Risiken für die Patientensicherheit durch zu schnelle Bestätigung der Identität, ohne Berücksichtigung anderer Umstände. Die rechtspopulistische MAGA-Ideologie verfing auch deshalb, weil das Befremden gegenüber Identitätspolitik mit fehlender Evidenz längst weite Bevölkerungskreise erreicht hat und nicht nur auf einen „lunatic fringe“, zum Beispiel fundamentalistische Christen, beschränkt war. Das sollte allen in Deutschland eine Warnung sein.
Der Text erschien bereits auf Queer Nations