Fuck, Leute, ihr habt mich fertig gemacht. Gestern, am Tag der Bundestagswahl, ein paar Stunden nach dem ich selbst wählen war, gönnte ich mir die Inszenierung Hermann Schmidt-Rahmers von Henrik Ibsens Werk „Ein Volksfeind“. „Volksverräter“ heißt das Stück, dass in Zusammenarbeit mit der Universität der Künste Berlin am 21. September 2017 im Schauspielhaus Bochum Premiere feierte. In Anbetracht der Wahlergebnisse deren Hochrechnungen schon vor Beginn der Vorstellung bekannt wurden, hatten die knapp drei Stunden Realsatire echt Bedeutung, nicht nur für mich.
Inhaltlich geht es darum, dass sich gegenseitig widerstrebende politische Strukturen in Argumentation und Inhalt nichtig werden, sobald sie durch Sprachrohre wie Volksvertreter, Medien oder andere Repräsentanten verunreinigt werden. Es geht um Fake, Fakenews, Socialmedia etc., sprich: alles sehr am Zahn der Zeit. Eingebettet in eine irgendwie vertraute, aber auch völlig überzogene Familienkonstellation, wird eine Geschichte von Menschen erzählt, die sich an vermeintlich gegensätzlichen Positionen und festgefahrenen Idealen entlang hangeln. Weiter ins Detail möchte bzgl. Ibsens Vorlage im content gar nicht gehen.
Geboten werden: unfassbar starke Bilder, zu Comicfiguren überzeichnete Einzelpersonen, Charaktere, bei denen man das Gefühl hat „Ja, man, den kenn ich“, Musik, die einem den Kopf wegbläst, weil sie den Zuschauer in Beklemmung und Selbsterkenntnis abholt. Musik und kontrastierende Tänze veranschaulichen die Absurdität des Kabaretts, welches gar keines ist und von den Darstellern oft betont und wiederholt wird. In einem Moment wird gesprochen, im nächsten werden Hip Hop-Beats mit dem Impuls mitzugrooven eingespielt, was dann wiederum die Frage aufwirft, ob das gerade im Bezug auf den Inhalt des Textes angemessen ist.
Ich habe mich selbst ertappt gefühlt.
Es gab Momente, in denen wollte ich einfach gehen, weil ich dachte, dass ich das nicht mehr aushalte. Die Inszenierung löst durch die Kombination aus total vielschichtiger Überlagerung von gleichen Emotions-Triggern extrem intensive Gefühle aus, jedenfalls bei mir. Allerdings, als ich in die Runde guckte und die fast vollständige Standing-Ovations-Nummer am Ende im Saal beobachtete, ging es glaube ich, eben nicht nur mir so.
Ich hab mich ertappt gefühlt, weil ich das seltsame Gefühl hatte, dass ich in dem Moment die Gesellschaft repräsentiere, die weggucken will und flüchtet. Ein sehr seltsames, ungutes Gefühl, aber ich bin geblieben und hab mich dem Moment gegeben und das zugelassen.
Nach weiteren, für mich fast! tränenreichen Momenten, in denen die Angst, die grundlegende existenzielle Angst herausragend ausgespielt wurde, hab ich mich aber wieder sammeln können, quasi wieder zusammenfügen lassen.
Wenn auch zwischendurch Zweifel reflektiert werden mussten (man hatte keine Wahl, insofern man sich darauf einließ), sich selbst ganz genau anschauen musste, blieb mir nach dem Stück, auf dem Weg nach Hause, ein Zurückfinden zur eigenen Sichtweise, ein Zusammenfügen von Eindrücken, unterschiedliche Perspektiven in Kontrasten und Diskurs zu sehen, eigenes unabdingbares Nachdenken durch Überspitzung, Verfremdung, Auflösung, Sprachchören und unglaublich guten multitalentierten Schauspielern
Das war anstrengend und bewegend, aber sehr schön. Danke für eure Arbeit und diese Erfahrung. Maybe pathetisch, aber ehrlich.
Eine Schande ist allerdings, dass nur sehr wenige Menschen die Vorstellung besucht haben. Die daran arbeitenden Künstler haben echt ein volles Haus verdient.
Ich empfehle Jedem! sich diese Inszenierung zu gönnen, man lernt echt was. Ich jedenfalls.
Die nächsten Termine sind am 30.09., am 13.10. und am 28.10.2017, Karten gibt’s an der Theaterkasse unter: 0234/ 3333 5555 oder hier im Internet.