Junges Schauspielhaus Düsseldorf überzeugt durch Spiellust und gelungenes Konzept. Von unserem Gastautor Daniel Kasselmann.
Der Roman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf erschien 2010, erreichte bisher eine Auflage von über 2 mio und wurde auf deutschen Bühnen in der Spielzeit 2012/2013 in 29 Inszenierungen 764 mal aufgeführt . Jetzt erlebte die Geschichte um zwei 14-jährige Jungs, die sich in einem geklauten Lada auf eine Reise in die Walachei machen, in der Inszenierung von Jörg Schwahlen ihre umjubelte Premiere im Jungen Schauspielhaus an der Münsterstraße 446.
Die Bühne (Nadia Schrader) ist eine Landschaft aus großen Holzkisten, Rampen und Quadern, die in den verschiedenen Szenen wie große Bauklötze immer wieder neu arrangiert werden und so assoziativer Spielraum für Klassenzimmer, Haus mit Pool, Autobahn, Gebirgskette, und Seenlandschaft werden.
Der Erzähler des Romans bleibt im Stück erhalten: Maik Klingenberg (Dominik Paul Weber) vorne an der Rampe ist ein vierzehnjähriges Hellersdorfer EFH-Ghetto-Kid, sein Vater ist Immohai auf Pleite- und Fremdvögelkurs, Mutter Berufsalki mit Dauerabo in der Nasenbleiche, die Familie existiert nur noch als bröckelnde Fassade und Sohnemann Maik hat insofern materiell alles und emotional fast nichts mitbekommen, nicht mal einen Spitznamen, wie er traurig feststellt, was seiner Selbstanalyse zufolge daran liegt, dass er die beiden Kriterien dafür erfüllt; er ist langweilig und hat keine Freunde. Die stille Beobachterrolle, in der er sich leidlich eingerichtet hat, geht ihm erst in dem Moment selbst auf die Nüsse, als er sich in seine Mitschülerin Tatjana Cosic verknallt, die ihn allerdings blöderweise konsequent übersieht. Während er das anfangs erzählt, tobsüchtelt sein Vater im Hemd und karierter (!) Krawatte (Kostüme: Julia Schreiber) unpädagogisch herum und versucht seine Erwachsenenvernunft in Sohnemann hineinzuprügeln, während Muttern sich relativ unbeteiligt die Kante gibt.
Rückblende: Der russische Spätaussiedler Tschick kommt mitten im Schuljahr neu in Maiks Klasse. Sein asoziales Aussehen unterstreicht er durch gelegentliche Alkoholfahnen, seine schulische Leistungskurve gleicht einem Seismographen beim Tsunami. Die beiden verbindet zunächst nur ihr Außenseiterstatus, der sich darin zeigt, dass sie beide als fast einzige Mitschüler nicht zu Tatjanas Geburtstagsfeier eingeladen sind. Maiks Vater fährt also mit seiner Assistentin auf Geschäftsreise, während Mutter ihre Regelkur auf der Suchtstation antritt und die Party des Jahres findet ohne ihn statt; die Sommerferien versprechen für Maik gerade mal ziemlich in den Tunnel zu fliegen, als Tschick mit einem geklauten Lada Niva aufkreuzt und ihm den Vorschlag macht, doch einfach in den Urlaub zu fahren.
Auftritt des Autos: Tschick (Philip Schlomm) stellt zwei Steigerlampen auf eine Holzkiste, setzt sich dahinter und die Holzkiste wird zum Lada. Kein naturalistischer Bühnenschnickschnack kann eine solche Metamorphose des fantasievollen Spiels ersetzen, das aus wenigen Requisiten eine Welt für eine automobile Odyssee erschafft.
Aus der verrückten Urlaubsidee wird Ernst und so beginnen die beiden Jungs am ersten Sonntagmorgen der Ferien ihre Reise, die von den beiden Schauspielern in einer Tanz-Auto-Freiheitsfahrt zur Musik von Arcade fire poetisch umgesetzt wird.
Auf ihrer Reise begegnen sie merkwürdigen, kuriosen und gleichermaßen interessanten Menschen, wie der alternativen Familie des kleinen Friedemanns, dem asozialen aber liebenswerten gleichaltrigen Isa, dem spleenigen Einsiedler Horst Fricke und einer Sprachtherapeutin.
Alle diese Nebenrollen werden, wie auch die bisherigen der Mutter, Lehrer und Tatjana im fliegenden Kostümwechsel (teils auf teils hinter der Bühne) bravourös von Jasmina Music gespielt, die als Quasselstrippe Isa die heimliche dritte Hauptrolle verkörpert und darin von den schräpigen lauten Tönen bis hin zu den leisen, nachdenklichen Nuancen eine facettenreiche Bandbreite schauspielerischer Modulationskunst über die Rampe bringt. Ebenso Dominik Paul Weber, dessen Maik zu Beginn etwas unsicher-schlaksig und lakonisch wirkt und dem er im Verlauf des Abends mehr und mehr an Selbstbewusstsein und Präsenz einhaucht. Sein schlussendliches Statement „Das war der Sommer meines Lebens“ ist der bühnenwirksame Schlusspunkt seiner rapiden Entwicklung vom emotional vernachlässigten Jungen zum selbstsicheren jungen Mann. Sein Gegenpart Philip Schlomm als Tschick bringt schauspielerisch brillant die Entwicklung vom harten Asi-Kid hin zum sensiblen Freund über die Rampe, dessen Outing berührend normal klingt, selbst wenn Maik der erste ist, demgegenüber er sich offenbart.
Das erklärte Reiseziel Walachei rückt immer mehr in den Hintergrund und das Unterwegssein in den Vordergrund; der Weg mit seinen zutiefst mitmenschlichen Begegnungen und die Erfahrung von Integrität, Freundschaft, Liebe und wachsendem Selbstbewusstsein ist das eigentliche Ziel.
Dem wunderbar spielwütigen Ensemble des Jungen Schauspielhauses gelingt mit der Inszenierung von Jörg Schwahlen eine brillante Umsetzung der Vorlage, die dem Zuschauer gemessen am Roman völlig neue poetische Dimensionen der Geschichte erschließt. Absolut sehenswert.