Sie kommen in Rudeln. Sie stellen ihre Fallen an gut besuchten Kreuzungen auf. Sie suchen sich Orte, an denen es kein Ausweichen gibt. Sie tragen bedruckte Regenjacken in Einheitsfarben, wie Gangmitglieder. Wenn man sie eine Zeit lang aus der Ferne betrachtet, kann man beobachten, wie sie sich gegenseitig aufstacheln, wie sie sich Mut machen, eingeschworene Teams, Predatoren auf Adrenalin. Sie tänzeln auf der Stelle, in einer Mischung aus Jagdfieber und aufgesetzter Fröhlichkeit. Manche Passanten lassen sie unbehelligt durch, vielleicht, weil sie nicht ins Beuteschema passen, vielleicht auch nur, weil sie sich schon von Weitem auf ein anderes Opfer eingeschossen haben, das sie im Blick halten wie ein Raubvogel.
Der Beobachter erkennt: Dieses Opfer möchte nicht. Es will weitergehen.
Es ist eine faszinierende menschliche Eigenschaft, dass wir andere so gut lesen können. Innerhalb einer Sekunde weiß man so viel über seine Mitmenschen. Ob sie in Eile sind. Ob sie guter Stimmung sind. Ob sie Schmerzen haben. Sicher, man kann sich irren oder diesen ersten Eindruck ausbauen, wenn man jemanden kennenlernt. Aber dass wir in der Lage sind, zu Hunderttausenden in einer Stadt zusammenzuleben, ohne ständig zu kollidieren – und zwar im doppelten Sinn: sowohl was Streit angeht, aber auch ganz konkret, in der Innenstadt nicht zusammenzustoßen – das liegt daran, das wir als soziale Wesen ständig unser Gegenüber lesen, interpretieren, sein Verhalten (oft richtig) voraussagen.
Geht der da lang oder da lang? Man wird ein bisschen langsamer, man kommt exakt passend um ein Hindernis herum. Wenn man mal in die gleiche Richtung ausweicht wie das Gegenüber – jeder kennt das – dann stiftet das sofort Verwirrung und es wird fast immer von einem beiderseitigen Lachen begleitet. Warum lacht man da? Weil etwas nicht stimmt, weil das sonst reibungslos funktionierende Miteinander ins Stocken gerät. Und – wichtiger – weil man seinem Gegenüber instinktiv auf eine sehr archaische Weise zeigt, dass man keine Konfrontation wünscht. Ich wollte ausweichen! Ich auch!
Im Straßenverkehr funktioniert das schon seltener. Wenn sich zwei Autofahrer in einer 30er-Zone mit Verkehrsberuhigung entgegen kommen, müssten sie oft einfach beide ein kleines bisschen langsamer fahren, um sich nicht an der engsten Stelle zu treffen. Eingehüllt in einen Stahlleib mit getönten Scheiben wird das Sozialverhalten aber bereits etwas unterwandert und viele beharren auf ihrer Geschwindigkeit. Im Auto erscheint es normal. Ein Fußgänger hingegen, der auf einen engen Durchgang zustürmt und keinerlei Blickkontakt mit den Menschen aufnimmt, die ihm entgegen kommen, der würde als Psychopath erscheinen.
Aber es geht hier nicht nur ums Ausweichen. Es geht um eine Vielzahl solcher mitmenschlicher Rücksichtnahmen und Interaktionen. Wenn ich in der Stimmung bin, mich zu unterhalten, vielleicht in einer Schlange an der Kasse oder in einem Zugabteil, dann sollte ich in der Lage sein, zu erkennen, wem es ähnlich geht. Vielleicht macht man einen Witz, und wenn jemand darauf anspricht, fängt man an sich zu unterhalten. Man spricht diejenigen an, die sich interessiert umschauen und nicht diejenigen, die verkrampft auf ihre Füße starren. Man reißt niemandem den Kopfhörer herunter, um Smalltalk zu beginnen. All das sind Feinheiten, die man als Mitglied einer Gesellschaft lernt. Und jede Gesellschaft ist anders. Wem gebe ich die Hand? Einem neuen Kollegen, der mir vorgestellt wird, sicher. Einem von vielen, die auf einer Party ihren Namen sagen, schon nicht mehr zwangsläufig. Einem Verkäufer in einem Supermarkt sicher nicht. Aber dem Verkäufer in einem Autohaus wahrscheinlich schon.
Das sind subtile Feinheiten und es ist genauso geregelt, wann man sie einhält, wie wann man sie brechen darf. Wenn ich ein Problem habe, dann kann ich jemanden auf der Straße ansprechen. Wenn mein Partner gerade einen Herzinfarkt erleidet, darf ich ohne zu zögern sofort jedem Passanten die Kopfhörer herunterreißen und ihn auffordern, den Notruf zu wählen. Wenn ich bloß nach dem Weg fragen will, werde ich vermutlich jene vorbei lassen, die so wirken als wären sie in Eile oder gerade echt schlecht gelaunt.
Und wenn ich mich irre und ein Angesprochener sagt, er hat jetzt keine Zeit, dann werde ich garantiert nicht sagen: „Oooh, junger Mann, sie wollen sich doch sicher einen klitze-kleinen Moment für eine gute Sache nehmen und hier mal super-gut aushelfen?“
Oder was die so sagen. Denn diese Menschen in den bedruckten Regenjacken, die missachten alle diese Feinheiten des Zusammenlebens. Die stellen sich einem mitten in den Weg, was man schon als Nötigung bezeichnen kann, die akzeptieren nicht, dass man alle Signale von Eile oder Desinteresse zeigt, die akzeptieren nicht einmal, wenn man „nein“ sagt. Sie sind Wegelagerer. Die Seelen vorbestrafter Inkasso-Eintreiber in den Körpern Ibiza-geschulter Animateure.
Und so unerträglich fröhlich. Warum sie so fröhlich sind? Weil auch das ein Trick ist. Es gibt nämlich in unserer überdrehten Konsum-Welt nichts Schlimmeres als spießig oder eine Spaßbremse zu sein. Wir leben in Zeiten, in denen jeder spontan, gut drauf, authentisch, hedonistisch, einfach-ich, tu-nicht-so-erwachsen, abgefahren und freaky sein soll. Dieser dauerbeschallende Werbefeldzug hat nur einen Zweck: Wir sollen unseren (Kauf-)Impulsen nachgeben. Nebeneffekt davon ist aber, dass es so verpönt ist wie nie zuvor, unflexibel zu erscheinen, eigenwillig, pflichtbewusst, humorlos, diszipliniert oder einfach langweilig, was auch immer gerade zu jemandem passt, der angesichts eines tänzelnden, grinsenden Vollidioten in UNESCO-Jacke nicht in spontane Feierlaune gerät; der einfach pünktlich da ankommen will, wo er gerade hingeht (und sei es einfach nur weg), der angesichts von Sprüchen wie „Hallihallo, du bist doch bestimmt ein Superheld der Lebensrettung“ nicht mit einem grinsebackenen „Hallihallo, natürlich bin ich das“ reagiert.
Wenn sie nicht die Langweiler-Karte ziehen, dann setzen sie eben auf die Moral-Keule (vielleicht machen sie das auch vom Alter des Opfers abhängig). Denn sie tun es ja fast immer für einen guten Zweck. Sie sind zwar von kriminellen Abo-Verkäufern weder äußerlich noch in ihren Methoden zu unterscheiden, aber ich unterstelle nicht, dass diese Leute ihr DRK-, WWF- oder UNHCR-Logo gefälscht haben und in die eigene Tasche arbeiten. Ich unterstelle allerdings, dass sie das nicht ehrenamtlich tun. Dafür ist das bauernfängerische Vorgehen viel zu professionell. Und was für klägliche Agenturen das sind, die diese Menschen beschäftigen, ist bekannt.
Natürlich ist es gut, wenn Menschen an gemeinnützige Organisationen spenden. Und natürlich müssen diese Vereine irgendwie auf sich aufmerksam machen, wenn sie Mittel ergattern wollen. Aber heiligt der Zweck wirklich die Mittel? Wer in der Innenstadt übertölpelt wurde, hat jedenfalls keine Chance, sich über die Organisation genauer zu informieren. Und aus Sicht der Organisation ist das gut. Denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die gleiche Person aus Trägheit nichts tun würde, wenn sie nur an einem Stand vorbei geht, eine Anzeige sieht, eine Werbung eingeblendet bekommt. Außerdem kann es sein, dass sie sich für jemand anderen entscheidet. Vielleicht ist diese riesige NGO doch in ein wenig zu viele Skandale verwickelt, wenn man sich näher informiert. Vielleicht ist das gewaltige Werbebudget, über das sie offenkundig verfügt, weniger mitleiderregend als ein kleiner Verein, der 95% seiner Ressourcen in echte Arbeit vor Ort steckt.
Aber das löst nicht das Dilemma: Jeder von uns könnte und sollte mehr spenden (wenn Sie wirklich und ehrlich etwas anderes von sich behaupten können, dann Hut ab!). Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen, dass es gut wäre, wenn all die passiven Leute, die durch die Fußgängerzone strömen, irgendwie dazu gebracht werden würden, etwas Gutes zu tun.
Ich weiß auch nicht, wie man das macht. Aber ich weiß, dass es kein guter Anfang sein kann, sich über zwischenmenschliche Konventionen hinwegzusetzen. Wer meint, sein eigenes Anliegen sei so großartig, dass er dafür Unbeteiligte belästigen kann, sie psychologisch überrumpeln und austricksen kann, ja regelrecht nötigen kann (denn sich in den Weg zu stellen ist eine, wenn auch winzige, Nötigung), der trägt zu einer hysterischen (sprich: theatralisch Beziehungen manipulierenden), egozentrischen und rücksichtslosen Kultur bei.
Ich mache Kendo. Dort lernen wir, unserem Gegner sehr fest in die Augen zu blicken und mit großer Entschlossenheit auf ihn zuzugehen. Damit knacke ich sogar die Profi-Häscher, wenn sie sich mir in den Weg stellen. Die weichen aus. Probieren Sie es mal.
Mir gehen diese Spendenhäscher auch auf den Geist. Ich möchte mir nämlich in Ruhe selbst aussuchen, wofür ich spende. Und das tue ich auch. Natürlich könnte es mehr sein, aber immerhin. Ich habe mich für eine Patenschaft bei Plan entschieden, weil die irgendwann mal gut bei einem Test abgeschnitten hatten, wieviel Geld vor Ort und wieviel Geld in die Verwaltung und Co. geht. Das hat sich vielleicht mittlerweile wieder geändert, aber damals war es so und mir ein wichtiges Kriterium. Und ich spende, wenn auch unregelmäßig, für das lokale Frauenhaus und das Tierheim, weil die eben nicht so einen Werbepopanz veranstalten können und denen nicht gerade die Herzen der Massen zufliegen (zumindest den Frauenhäusern nicht).
Jedenfalls bin ich irgendwann dazu übergegangen, mir aus der Not, weil nix anderes wirkte, einen Spaß daraus zu machen, möglichst schrecklich rüberzukommen. Was für mich zudem ein gutes Training ist, mich aus meiner Komfortzone zu bewegen, denn eigentlich bin ich eher der zurückhaltende und freundlich-konsensorientierte Typ. Aber alle anderen Methoden (ich muss meinen Zug bekommen, ich habe einen Termin, ich habe gerade keine Lust mich damit zu beschäftigen etc.) haben nicht den gewünschten Effekt gebracht, nämlich dass sie einen schnell wieder in Ruhe lassen.
Jetzt handhabe ich es so, wenn z.B. jemand für UNICEF Spenden sammelt und mich fragt: "Sie möchten doch bestimmt, dass es den Kindern dieser Welt gut geht?" Antworte ich mit lauter Stimme sowas wie: "Ich hasse Kinder. Es gibt sowieso viel zu viele Menschen auf dieser Welt. Damit müssen Sie mir gar nicht erst kommen!" Damit erntet man wirklich entsetzte Blicke. Und wird wahrscheinlich für bekloppt gehalten. Aber der sofortige Rückzug der Horden erfolgt, was ja mein Anliegen war. LOL.
Die Eingangsbeschreibung menschlichen Verhaltens ist etwas zu optimistisch, schon als Fussgänger in einer Fussgängerzone gibt es ähnlich wie im Verkehr schon immer die, die weder rechts noch links schauen, noch sich die Frage stellen, ob sie ggf. in diesem Momment ein Störfaktor für andere darstellen.
Im PKW ist das anonymer, aber nicht zahlreicher.
Warum wir das vermehrt festzustellen glauben hat einen andere Grund, es wird weniger sanktioniert, weil die Auflösung sozialer Gemeinschaften anonymer macht.
Und ebendeshalb wird diese nötigende Art erfolgreicher und letztlich zur systematisch genutzten Methode. Und alleine das sagt schon eine Menge über die moraleiner Organisation aus.
Ich Spende grundsätzlich nur noch an lokale mit persönliche bekannte Organisationen, selten über die Grenze meiner Kommune hinaus.
Auch weil mich die Erkenntnis getroffen hat, das es letztlich die einzige Form ist, wirklich zu helfen.
Sicher wird bei den großen Organisationen auch vielen Menschen geholfen, aber letztlich nie Abhilfe geschaffen.
Es ist als nur entfernt Betroffener letztlich egal wem da geholfen wird, weil es an echter Abhilfe fehlt und trotzdem Millionen leer ausgehen.
Das Prinzip dem "Nächsten" zu helfen, im ganz unmittelbaren Wortsinn ist für mich die einzig sinnvolle Hilfe. Alles andere stellt eine systematische Überforderung dar und zu häufig auch ein Geschäftsmodell.
Wobei der Verdacht aufkommt, das man sich die Bedürftigen sucht, weil es befriedigender ist als bei denen vor der Haustür, denn diese bewegen sich vielfach auf Augenhöhe und nicht völliger Abhängigkeit.
Das moralische Dilemma bleibt und jeder muss für sich selbst entscheiden, wie weit und wann er nüchterne Überlegungen der Empathie vorzieht, aber diese Wahl müssen wir ohnehin mangels Masse treffen.
Aber die geschilderten Methoden sind nicht geeignet Vertrauen zu schaffen in einer Umwelt die von Vertrauenserosion geprägt wird, nicht zuletzt durch solche Werbemassnahmen, die nur auf Manipulation zielen.