Auch in Nordrhein-Westfalen werden immer mehr Industriearbeitsplätze abgebaut. Welche Chancen auf einen neuen Job haben die Arbeiter bei Ford, Thyssenkrupp und den vielen mittelständischen Unternehmen, die in der Krise sind?
Bei Ford in Köln stehen nach der erfolglosen Umstellung vom Dauerbrenner Fiesta auf Elektroautos tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel. Der Betriebsrat sorgt sich um das Aus für den Standort. Auch bei Thyssenkrupp Steel in Duisburg und in den Werken des Konzerns in Bochum und Gelsenkirchen geht die Angst um. 11.000 Stellen will der Stahlkonzern einsparen. Wen es erwischen wird, ist noch unklar. In Kreuztal wissen die Arbeiter indes schon, woran sie sind: Ihr Werk soll geschlossen werden. Der November 2024 ist der Monat, in dem sich bewahrheitet, was Patrick Graichen (Grüne), damals noch Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, im Gespräch mit dem britischen Klimalobbyisten Michael Liebreich 2022 ankündigte: Energieintensive Industriezweige, die Produkte, die man auch an anderen Orten einfach herstellen könnte, würden dorthin gehen, „wo es den Strom für ein bis zwei Cent gibt.“ Was nichts anderes bedeutet als. In Deutschland haben sie keine Zukunft mehr. Die grüne Transformation ist wichtiger als Wachstum und Arbeitsplätze.
In Deutschland liegt der Industriestrompreis in diesem Jahr mit 16,65 Cent pro Kilowattstunde zwar deutlich unter dem Preis von 40 Cent, den Privathaushalte zahlen müssen, aber international wettbewerbsfähig ist die Industrie mit diesen hohen Energiekosten nicht mehr.
Doch bedeutet der Verlust eines Arbeitsplatzes in der Industrie automatisch auch den Fall in die Arbeitslosigkeit? „Grundsätzlich“, sagt Stefan Gärtner, der Direktor des Gelsenkirchener Instituts Arbeit und Technik (IAT), „gebe es nach wie vor einen großen Bedarf an Fachkräften. Allerdings“, schränkt er ein, „sei die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet relativ hoch. Dazu kommt, dass jemand, der von einem etablierten und großen Unternehmen wie Thyssenkrupp zu einem mittelständischen Betrieb wechselt, mit Einkommenseinbußen rechnen muss.“
Da die Energiepreise in Deutschland hoch seien, seien die Arbeitsplätze in Industrien, die nicht viel Energie verbrauchen, grundsätzlich sicherer: In weniger energieintensiven Industriezweigen wie dem Maschinenbau scheinen die Zukunftsaussichten besser als in der Chemie oder der Stahlindustrie. „Wir müssen uns bewusst machen, für welche Industriezweige es im Rahmen der Transformation hin zu CO2-Neutralität von Seiten der Unternehmen, der Beschäftigten und der öffentlichen Hand besondere Anstrengungen bedarf, damit sie hier am Standort überleben.“
Gärtner geht davon aus, dass es auch für Industriebeschäftigte in Köln oder dem Ruhrgebiet, deren Jobs bei Ford oder Thyssenkrupp gefährdet sind, weiterhin Arbeitsplätze in ihren Regionen geben wird: „Die Industrie hat Cluster gebildet. Wer in dem einen Betrieb seine Arbeit verliert, hat grundsätzlich gute Chancen, in der Umgebung eine neue Beschäftigung zu finden.“ Wichtig dabei sei aber die Bereitschaft, sich weiter zu qualifizieren.
Ganz so optimistisch ist Matthias Mainz von der Nordrhein-Westfälischen Industrie- und Handelskammer nicht. Vor allem in der Industrie könne sich die Situation am Arbeitsmarkt weiter zuspitzen: „Das zeigen nicht nur die Ankündigungen der Großunternehmen, auch im industriellen Mittelstand haben sich die Beschäftigungspläne deutlich verschlechtert.“ Derzeit plant jedes dritte Industrieunternehmen in Nordrhein-Westfalen mit weniger Beschäftigten. „In den letzten beiden Jahren war der NRW-Arbeitsmarkt sehr aufnahmebereit. Das wird sich nun ändern.“ „In den letzten beiden Jahren war der NRW-Arbeitsmarkt sehr aufnahmebereit. Das wird sich nun ändern.“
Und auch in anderen Teilen Deutschlands sieht es nicht mehr viel besser aus. Die Zeiten, in denen man mit einem Umzug nach Bayern oder Baden-Württemberg der fast schon traditionellen Industriekrise in den Ballungsgebieten an Rhein und Ruhr entkommen konnte, sind vorbei: „Die Krise trifft nicht Nordrhein-Westfalen allein. Die Industrie ist deutschlandweit unter starkem Druck.“ Besonders treffe es die Branchen, die stark im internationalen Wettbewerb stehen würden und in denen sich der Strukturwandel beschleunigt. Das mache die Lage am Arbeitsmarkt derzeit so kritisch.
Und das betrifft nicht nur die Stahlindustrie, sondern auch die Automobilindustrie und die chemische Industrie. Die nordrhein-westfälischen Chemieriesen Bayer, Lanxess und Covestro haben angekündigt, in den kommenden Jahren weiter Stellen abzubauen.
Aber noch gäbe es andere Branchen wie die Gesundheitswirtschaft und die Informations- und Kommunikationstechnologie, sagt Mainz, in denen die Beschäftigungsaussichten besser sind. „Ein Übergang für Industriebeschäftigte in diese Branchen ist nicht so einfach und braucht erfahrungsgemäß Zeit.“ Mainz hat daher einen Rat an die Politik: „Es ist entscheidend, die Perspektiven für die Industrie in Deutschland zu verbessern.“
Doch das dies geschieht, ist nicht absehbar. Erst einmal geht es weiter abwärts. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht auf Anfrage der WELT AM SONNTAG von einem Rückgang der Industriearbeitsplätze aus: „Bundesweit“, sagt Georg Sieglen vom Team-NRW des IAB, „wird für das kommende Jahr im Produzierenden Gewerbe mit einem Rückgang von 60.000 Beschäftigten in diesem und von 50.000 im kommenden Jahr gerechnet.“ Die Zahl offener Stellen sei wieder rückläufig, vor allem in der Industrie: „Während insgesamt die Zahl offener Stellen im 2. Quartal 2024 gegenüber dem Vorjahresquartal um 23 Prozent zurückging, waren es im Verarbeitenden Gewerbe 47 Prozent.“ Auch ein Umzug in andere Bundesländer bietet also nicht mehr unbedingt bessere Jobperspektiven.
Für NRW gehen aktuelle Prognosen von einem Beschäftigungswachstum von 0,8 Prozent bis 2025 aus. Die Arbeitslosigkeit soll hingegen um 1,1 Prozent steigen. Unterm Strich bedeutet das weniger Jobs.
Die Deindustrialisierung trifft Nordrhein-Westfalen allerdings nicht über alle Branchen gleich stark. Im Bereich „Metallerzeugung und -bearbeitung“ arbeiten über 40 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland in NRW. In der Autoindustrie sind es hingegen nur neun Prozent. Und die Industriebeschäftigten in NRW sind etwas älter als im Bundesdurchschnitt, können sich also im Fall der Arbeitslosigkeit eher in die Rente retten: 28 Prozent von ihnen sind in NRW älter als 55 Jahre. Deutschlandweit sind es rund 24 Prozent. Im Bereich „Metallerzeugung und -bearbeitung“, unter den auch die Stahlwerker bei Thyssenkrupp fallen, sind es sogar 31 Prozent, also fast jeder Dritte.
Das bietet Arbeitsuchenden Chancen, sagt Ralf Stoffels, der Präsident der IHK-NRW: „Der Personalbedarf in der Wirtschaft geht zwar insgesamt zurück, aber gleichzeitig gibt es immer noch viele offene Stellen und etliche Unternehmen suchen nach Arbeits- und Fachkräften. Auch gehen in den kommenden Jahren deutlich mehr ältere Beschäftigte in Rente als junge Menschen in den Arbeitsmarkt nachrücken.“ Das deckt sich, zumindest bundesweit, mit den Daten des IAB: Deutschlandweit sollen zum Beispiel in der Metallindustrie 118.000 bis verloren gehen, allerdings werden 135.000 Menschen ihre Arbeit aufgeben und in Rente gehen. Für die Jüngeren sind das keine schlechten Perspektiven. Für sie ergeben sich auch in der schrumpfenden Industrie noch neue Chancen.
Der Artikel erschien bereits in ähnlicher Form in der Welt am Sonntag