In Hamburg versucht die Naziführung ihren Hals aus der Schlinge zu ziehen. Von unserem Gastautor Manfred Barnekow.
Donnerstag, 26. April 1945, die Schlacht am Kiekeberg
Die britischen Truppen hatten den Süden Hamburgs besetzt, die Frontlinie war beim Stadtteil Harburg. Am 15. April hatten sie Bergen-Belsen befreit, ihre Sicht auf Deutschland und die Deutschen war nachhaltig geprägt. Sie gingen methodisch voran, keinesfalls wollten sie ein Gemetzel in den Ruinen Hamburgs, wie die Russen es zur selben Zeit in Berlin hinter sich brachten. Zwei Versuche westlich und östlich von Hamburg die Elbe zu16überqueren, waren gescheitert, die Briten waren so kurz vor dem Ende nicht an großen Verlusten interessiert. Die Führung in Hamburg hatten der Kampfkommandant General Wolz und der Gauleiter Kaufmann, einer der frühen engen Mitkämpfer Hitlers schon seit den 20er Jahren. Wolz wollte ein Blutbad vermeiden, Kaufmann hatte dieselbe Idee wie der Reichsführer-SS, er wollte heil aus dem Krieg aussteigen; als der Mann, der Hamburg vor der totalen Vernichtung bewahrt hätte. So dachte er, an dessen Händen der Dreck der Naziverbrechen klebte, er, der den Anstoß für die ersten ungeordneten Judendeportationen im November 1941 gegeben hatte, sein Entrée in die Nachkriegszeit zu bekommen. Damit hatten Wolz und Kaufmann dasselbe Ziel und irgendwann in jener Zeit werden sie sich einander offenbart haben.
Gefährlich für sie war das Bunkergespenst in Berlin, aber auch der militärische Vorgesetzte in Norddeutschland, der notorisch unfähige Nazifeldmarschall Busch und das sich bildende Führungszentrum um Dönitz in Plön, die den Führerbefehl, bis zum letzten Mann zu kämpfen, wortwörtlich umzusetzen beabsichtigten. Wolz, der sich darum den Ruf eines starken Mannes machen wollte, damit niemand auf die Idee käme, ihn abzusetzen, verfiel auf einen ebenso perfiden wie perversen Plan. Nachdem die Engländer die Ortschaft Vahrendorf, südlich von Harburg, nahe dem Kiekeberg gelegen, wo heute Freilichtmuseum und Wildpark die Menschen erfreuen, erobert hatten, gab Wolz den Befehl zur Rückeroberung. Zum Einsatz kamen aus einem Wehrertüchtigungslager bei Nienburg in Wehrmacht bzw. Waffen-SS übernommene Hitlerjungen zwischen 15 und vielleicht 17. Sie wurden unzureichend ausgebildet und bewaffnet zu einer Kompanie unter einem SS-Untersturmführer, der überleben sollte, zusammengefasst. Mit demselben nazistischen Fanatismus ausgestattet, die andere Hitlerjungen auf Aufforderung Juden, die zufällig freigekommen waren, jagen und ermorden ließen, stürmten sie das Dorf, die erbosten Briten eroberten es zurück, 48 von ihnen fielen noch als halbes Kind, etwa ebenso groß sollen die Verluste der Sieger gewesen sein, tapfere Soldaten der Wüstenratten, die Jahre gekämpft hatten, Afrika und Europa von den Deutschen zu befreien und nun wenige Tage vor dem Ende einen sinnlosen Tod sterben mussten. Der Begriff der Schlacht am Kiekeberg mag lustig erscheinen, es war ein grausames Verbrechen, das Wolz zu verantworten hatte. 1946 wurde für die Jungen der Soldatenfriedhof Vahrendorf errichtet. Wen es dort hin verschlägt, kann staunend und entsetzt ihr Alter errechnen.
Wolz hatte damit vorerst Erfolg, auch wenn Dönitz und Busch ihn weiter mit Misstrauen betrachteten, Kaufmann allerdings noch ein zweites Problem. Es lag im dörflichen Teil Hamburgs, in den Vierlanden und hieß Neuengamme, ein Konzentrationslager in der Größenordnung von Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen. Kaufmann wusste, welchen Eindruck der Anblick von Buchenwald und Belsen auf die Alliierten gemacht hatte, er kannte die Bilder und er hatte noch am 20. April mehr als 10.000 Sklaven im Lager. Ein besenreines, völlig leeres ehemaliges KZ zum Übergeben an die Engländer war das nicht. Aber auch Kaufmann war kreativ und völlig skrupellos. Während gefährliche Zeugen, wie die für Menschenversuche benutzten Kinder vom Bullenhuser Damm gnadenlos erhängt wurden, ließ der Gauleiter die gesamten noch verbliebenen Insassen nach Lübeck verbringen. Wie alle großen Nazis hatte er einen wohlklingenden Nebentitel, er war Reichskommissar für die Seefahrt. Als solcher konnte er in der Lübecker Bucht liegende Schiffe beschlagnahmen und mit seinen überflüssig gewordenen Gefangenen füllen. Nachdem die ersten auf den Frachtern Thielbek und Athen zusammengepfercht wurden, verluden die SS Bestien die Masse, 7000 halbverhungerte, zu Tode erschöpfte, jahrelang gequälte Menschen, am 26. April auf ein nicht mehr fahrtüchtiges riesiges Passagierschiff, dessen Kapitän man die Erschießung androhte, sollte er sich verweigern. Es hieß Cap Arcona.
Jahrzehnte nach dem Krieg wurde darüber gerätselt, weshalb die schwimmenden KZ vor Neustadt dümpelten, wilde Theorien über eine Selbstversenkung der SS oder Himmlers letzten Verkauf seiner Geiseln nach Skandinavien, machten immer wieder die Runde. Heinz Schön, der Chronist der Schrecken auf der Ostsee im Jahre 45, lüftete in den 80er Jahren die simple Wahrheit. Karl Kaufmann wollte ein angesehenes Leben “danach” führen.